Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Iran - Türkei «Laut aussprechen, dass es eine feministische Revolution ist»

Frauen in der Türkei unterstützen die Frauen im Iran

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Autorin

Gamze Kafar,

Eine intersektionale Bewegung über Grenzen hinweg: Frauenproteste Ende September vor dem iranischen Konsulat in Istanbul
Eine intersektionale Bewegung über Grenzen hinweg: Frauenproteste Ende September vor dem iranischen Konsulat in Istanbul
  Firat News Agency (ANF)

Jina Mahsa Amini (22), die am 16. September in der iranischen Hauptstadt Teheran von der Sittenpolizei festgenommen wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß trug, verstarb zwei Stunden nach ihrer Festnahme in einem Krankenhaus, nachdem sie zuvor ins Koma gefallen war.

Nach dem Tod von Jina Mahsa Amini kam es sowohl im Iran als auch in vielen anderen Ländern – darunter auch in der Türkei – zu Protesten, die bis heute andauern. Am 14. November gaben 357 Intellektuelle und Künstler*innen in der Türkei eine Pressemitteilung heraus, in der sie die Verhaftungen und Festnahmen im Iran aufs Schärfste verurteilen. Darüber hinaus finden seit dem 17. September in vielen türkischen Städten Demonstrationen zur Unterstützung der Proteste im Iran statt.

Gamze Kafar arbeitete für die kurdische, ausschließlich mit Frauen besetzte Nachrichtenagentur JINHA, welche 2016 durch die türkische Regierung geschlossen wurde. Von 2015 bis 2018 berichtete Gamze Kafar über den Konflikt in Nordsyrien. 2018 zog sie nach Berlin und arbeitet weiter als Journalistin.

Ich sprach mit A., die im iranischen Aserbaidschan geboren und aufgewachsen ist und Gülistan aus der Türkei über den intersektionalen Aspekt dieser Proteste.

Gamze Kafar: Könntet Ihr Euch zunächst kurz vorstellen?

A.: Ich bin in Aserbaidschan geboren und aufgewachsen, habe in Teheran studiert und bin vor einigen Jahren nach Deutschland gezogen. Ich bin queer-feministische Künstlerin sowie Wissenschaftlerin und lebe in Berlin. Mein Name ist nicht wichtig. Ich könnte genauso gut Jina, Nika, Minu, Mahu oder einen der vielen anderen Namen derer tragen, die unter der Geschlechterdiskriminierung des islamischen Regimes im Iran leiden und deren Identität durch patriarchalische Strukturen unterdrückt und bedroht wird.

Gülistan: Ich bin Soziologin, Mitte 30 und komme aus der Türkei. Ich bin vor zwei Jahren mit einem Stipendium aus Istanbul nach Berlin gekommen, nachdem ich aus politischen Gründen während des Ausnahmezustands in der Türkei meine Stelle an einer Universität in einer kurdischen Stadt verloren hatte.

Worum geht es bei den Protesten im Iran nach der Tötung von Jina Mahsa Amini durch die Sittenpolizei?

A.: Die lange Geschichte des kurdischen Widerstands im Iran und anderswo hat sich seit Jahrhunderten über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg entwickelt. Der kurdische Widerstand, der unmittelbar nach der Revolution von 1979 begann, auf den die Massenhinrichtung von Kurd*innen im Jahr 1980 und die bis heute andauernden Wirtschaftssanktionen folgten, vereinte die vom iranischen Regime unterdrückten Menschen. Sie vertieften ihre Verbundenheit, indem sie die Werkzeuge des Widerstands erweiterten: Literatur, Poesie und Musik. Der Ablauf von Jinas Bestattung war also kein Produkt des Zufalls. Die Botschaft «Liebe Jina, du wirst nicht sterben, dein Name wird ein Symbol werden» auf ihrem Grabstein, die Rede der kurdischen Frauenrechtlerin Leyla Enayatzadeh und ihre Rezitation eines Şêrko-Bêkes-Gedichts, die Frauen, die ihre Kopftücher abnehmen und protestieren – all das wurde schon viele Male geprobt.

Die Losung «Jin, Jiyan, Azadî» [Frau, Leben, Freiheit] mobilisiert unseren kollektiven Körper, unseren Wunsch nach Freiheit und aktiviert unsere Revolution zur Befreiung aller Minderheiten nicht nur im Iran, sondern auch in Afghanistan, der Türkei, Nordsyrien und anderswo. Deshalb ist es so wichtig, dies laut auszusprechen und zu bekräftigen, dass es sich um eine feministische Revolution handelt, denn nur so kann sich der intersektionale Feminismus in Westasien ausbreiten.

Was ist der Grund dafür, dass die Proteste, die im Iran begannen, eine derartige Resonanz in der Türkei fanden?

Gülistan: In der Türkei werden Demonstrant*innen nicht wie im Iran getötet, aber Polizeigewalt, Verhaftungen und anschließende Gerichtsverfahren sind inzwischen an der Tagesordnung. Da die meisten Mainstream-Medien von der AKP-Regierung kontrolliert werden, nutzen große Teile der Bevölkerung die sozialen Medien als Alternative zur staatlichen Berichterstattung. Die gesellschaftlichen Kampagnen gegen Femizide und zur Verteidigung der Istanbul-Konvention entwickelten in den sozialen Medien in den letzten Jahren erhebliche Schlagkraft. Darin zeigen sich Parallelen zur Entwicklung im Iran. Zudem fanden die Proteste im Iran dank dieser sozialen Dynamik und der erhöhten Aufmerksamkeit große Unterstützung in der Türkei.

Ich habe an einer Demonstration für Jina Mahsa in Berlin teilgenommen, weil es das Mindeste war, was ich tun konnte. Es war mehr als nur ein Zeichen meiner Unterstützung, denn wahrscheinlich verstehen ich und unzählige Frauen aus der Türkei den Schmerz und die Wut der iranischen Frauen auf einer tieferen Ebene. Das geht uns sehr nahe, denn die politischen und religiösen Autoritäten in der Türkei glauben auch, dass sie das Recht haben, unsere Körper zu kontrollieren.

Die Behörden schützen Frauen und sexuelle Minderheiten nicht vor geschlechtsspezifischer Gewalt im öffentlichen und privaten Raum. Im Gegenteil, sie ermöglichen Gewalt gegen Frauen sogar durch ihre Untätigkeit. Die Gerichte verhängen geringere Strafen für Täter, die Frauen angreifen oder töten, wenn zum Beispiel das Opfer mit Männern außerhalb des Familienkreises Kontakt hatte oder wenn der Mörder beispielsweise mit Anzug und Krawatte vor Gericht erscheint.

Die Losung «Jin, Jiyan, Azadî» ist auch in der Türkei sehr wichtig. Dort hat der feministische Kampf der kurdisch- und türkeistämmigen Frauen bedeutende Fortschritte bei der Bekämpfung ethnischer und kultureller Polarisierungen in der Gesellschaft, insbesondere der türkisch-kurdischen und säkular-religiösen Spaltung, erzielt. In den letzten fünfzehn Jahren, in denen ich die feministische Bewegung verfolge, gab es viele Debatten darüber, wie türkeistämmige Feministinnen mit der patriarchalen Gewalt in kurdischen Städten umgehen sollten. Es gab viel Uneinigkeit, aber auch unzählige Fortschritte und Veränderungen. Die kurdische Frauenbewegung hat sich zu einer wichtigen Akteurin für die Emanzipation von Frauen aller Ethnien und Glaubensrichtungen in der Türkei entwickelt.
 

Übersetzung von Çiğdem Üçüncü und Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective

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