Nachricht | Kapitalismusanalyse - WM Katar 2022 Die FIFA der UNO unterstellen!

Der Fußball-Weltverband gehört an die kurze Leine – und unter öffentliche Kontrolle

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Glenn Jäger,

FIFA Präsident Gianni Infantino und Katars Premierminister Khalid bin Khalifa bin Abdulaziz Al Thani beim Achtelfinalspiel Niederlande gegen die USA. Foto: IMAGO / Ulmer/Teamfoto

Wie kann man so tief sinken? Und das als Weltverband. Die Glaubwürdigkeit der FIFA, sollte davon überhaupt noch etwas übrig gewesen sein: sie ist dahin. Ähnlich tief gesunken wie der Ruf der Banken in der Finanzkrise. Oder wie jener der Geheimdienste rund um den NSU-Terror.

Die Argumente zur WM in Katar sind ausgetauscht, vor Ort wurde Deutschland mit Häme verabschiedet. Mit dem Vorwurf einer Doppelmoral – gerichtet an Verantwortliche aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Medien –, legte das Emirat den Finger in eine offene Wunde: Erst forcieren die Deutschen im Sinne der Geschäftsbeziehungen die Vergabe der WM an Katar und dann heben sie rund um die verunglückte «One Love»-Binde den Zeigefinger.

Wer will es verdenken, dass in Buenos Aires oder in Rio, in Dakar oder Rabat das WM-Fieber mit den Händen zu greifen ist? Und doch: Es irrte, wer hierzulande glaubte, die Debatte würde verstummen, sobald der Ball rollt; oder es würde gar geflaggt. Dem Vernehmen nach wollte noch nicht einmal auf einer exquisiten VIP-Party auf der Dachterrasse des Alwadi Hotels von Doha Stimmung aufkommen: Vor dem Auftaktspiel Deutschlands gegen Japan wurden auf der «Infinity Rooftop Lounge» gegrillte Garnelen mit Zitrone und Koriander sowie «Fresh Fruit Kebab» gereicht, geladen hatte der DFB-Sponsor VW. (vgl. SZ, 26.11.2022)

Glenn Jäger ist Autor von «In den Sand gesetzt. Katar, die FIFA und die Fußball-WM 2022», erschienen im PapyRossa Verlag.

Die Interessen von Volkswagen an dieser WM reichen weit über das Wohl der deutschen Elf hinaus. Die Qatar Holding ist nach Porsche und dem Land Niedersachsen der drittgrößte Anteilseigner des Wolfsburger Weltkonzerns: mit 17 Prozent, gemessen an der Stimmrechtsverteilung. Schon allein diese Verflechtung lädt zu der Forderung ein, die FIFA der UNO zu unterstellen. Eins der wesentlichen Ziele: den Fußball von Profitinteressen zu entkoppeln. Dazu gleich mehr, zunächst ein kurzer Rückblick auf die Monate, bevor Katar im Dezember 2010 den Zuschlag für diese WM erhielt.

Die WM-Vergabe (I): Deutschland und Katar

Im März 2010 reiste Christian Wulff, noch als Ministerpräsident von Niedersachsen, mit der Führung von VW und Porsche ins Emirat. Im Mai bestaunte Kanzlerin Merkel in Katar «beeindruckende Projekte», an denen die «deutsche Wirtschaft natürlich Anteil haben» wolle. Im September bekundete Wulff als Bundespräsident im Schloss Bellevue vor dem Emir und deutschen Wirtschaftsvertretern, man habe Interesse am «Zugang zu den katarischen Gasvorkommen» und könne «an der weiteren Modernisierung» des Landes mitwirken. Der damalige Vorstandschef von Hochtief, Herbert Lütkestratkötter, tagte mit Kanzlerin Merkel und der katarischen Führung. Deutsche Planungs- und Architekturbüros, so «AS+P – Albert Speer und Partner», hatten für Katar bereits die Bewerbungsunterlagen für die WM verfasst. Schon Anfang 2011 sollte der FC Bayern erstmals sein Trainingslager in Katar aufschlagen. Bald vertieften nicht nur die Münchner die Beziehungen zum Emirat: 2018 empfingen die Kanzlerin und der Emir bei einem milliardenschweren deutsch-katarischen Investorengipfel in Berlin rund tausend Gäste. Die Führungskräfte von Siemens, Hapag-Lloyd und Co, mittenmang Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge. Zuzüglich zu den großzügigen Aktien, die Katar an VW, Porsche oder der Deutschen Bank hält, zeichnete die Qatar Investment Authority diesen Herbst bei RWE eine 2,43 Milliarden Euro schwere Anleihe und wurde so zum größten Aktionär des Energiekonzerns. Bis heute schweigt sich ein Frank Beckenbauer, damaliger FIFA-Delegierter, über sein Abstimmungsverhalten bei er WM-Vergabe aus – unabhängig von seinem persönlichen Engagement im Emirat, seinen Verflechtungen mit dem FC Bayern, den Geldflüssen nach Katar rund um die WM 2006 oder der Nähe des DFBs zu Politik und Wirtschaft.

Die WM-Vergabe (II): Frankreich und Katar

Großaufträge für Bau- und Infrastrukturprojekte winkten mit der WM-Vergabe nach Katar auch für Frankreich, dessen Verflechtungen noch massiver waren. Die heutigen Vermögenswerte des Emirats in Frankreich belaufen sich laut dem Portal qantara.de auf 25 Milliarden Euro. 2008 erließ Paris ein Gesetz, wonach katarische Investitionen in Frankreich steuerfrei blieben. In den Jahren rund um die Vergabe war die Qatar Investment Authority «Großaktionär etwa bei [dem Baukonzern] Vinci, Total (Öl), bei den Energie-, Technologie-, Wasser- und Medienkonzernen Veolia, Vivendi und Engie SA, beim weltweit operierenden Verlags-, Medien- und Sportrechtekonzern Lagardère, bei Air Liquide (Industriegase), beim Atomkonzern Areva, bei Technip (Anlagenbau), beim Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus Group … bei France Telecom». (jW, 29.12.2015) Mitte der 2010er Jahre waren rund 50 Unternehmen in Katar, «die französischen Investoren gehören, hinzukommen gut 100 Jointventures» (ebd.). Auch das Immobilien- und Rüstungsgeschäft florierte hinlänglich. Mit der «MiliPol Qatar» und der «MiliPol Paris» etablierte sich ein turnusgemäß abwechselndes Messeformat an den Schnittstellen zwischen Polizei, Gendarmerie, Rüstungsindustrie und Politik.

Legende ist ein Spitzentreffen im Élysée-Palast nur wenige Tage vor WM-Vergabe. Neben Präsident Nicolas Sarkozy waren der damalige Emir Hamad bin Al-Thani und der FIFA-Delegierte Michel Platini zugegen. Es war die Zeit, da die Übernahme des Vereins Paris St. Germain (PSG) an eine katarische Investorengruppe eingefädelt wurde. Platinis Sohn Laurent wurde wenige Wochen nach der WM-Vergabe Europachef der Qatar Sport Investments (QSI). In ihrem Buch «The ugly game» (2015) berichten Heidi Blake und Jonathan Calvert, dass Platini «unter starkem politischem Druck von Sarkozy stand, für Katar zu stimmen – im Tausch gegen große wirtschaftliche Investitionen in Frankreich.» Platini selbst bekannte später: «Sarkozy hat es mir zu verstehen gegeben.» Der einstige FIFA-Präsident Joseph «Sepp» Blatter erklärte, Katar habe «aufgrund höchster politischer Interventionen von französischer Seite gewonnen. Das weiß man.»

Die WM-Vergabe (III): Katar und die Übrigen

Und der Rest der 22 FIFA-Delegierten bei der WM-Abstimmung? (Zwei waren wegen Korruptionsvorwürfen gesperrt.) Katar selbst nahm, nach allem was man weiß, ausgesprochen viel Geld in die Hand. Über eine weit geöffnete Schatulle freute man sich geleaktem Material zufolge in Argentinien oder Brasilien ebenso wie in Ägypten oder Nigeria, auf Zypern oder in Thailand – und noch in dem südpazifischen Inselstaat Tahiti. Wirtschaftspolitische Verflechtungen, die damit einhergingen, waren mitunter schwindelerregend.

Der UNO-Vollversammlung das Wort

Eine Fußball-WM zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Interessen? Tür und Tor zur Korruption stünden weit weniger offen, wenn die Vergabe des Turniers nicht in den Händen eines erlauchten FIFA-Kreises läge, sondern der Vollversammlung der Vereinten Nationen unterstünde. Die überragende mediale, wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung, die eine Fußball-WM inzwischen angenommen hat, würde es rechtfertigen, die FIFA der UNO zu unterstellen.

Die Forderung, schon 2018 in aller Bescheidenheit aufgestellt, erscheint so vermittelbar wie popularisierbar und zugleich operativ handhabbar. Politische Kernziele wären:

  1. Entflechtung von FIFA und Sponsoren, von Fußball und Profitinteressen
  2. Öffentliche Kontrolle des Weltfußballs
  3. Friedenspolitische Leitplanken für die FIFA
  4. Hinzu käme als weitere Forderung: die Verknüpfung des Weltfußballs mit der Klimapolitik.

Dazu im Einzelnen:

1. Entflechtung von FIFA und Sponsoren, von Fußball und Profitinteressen

Die Durchsetzung von Interessen, wie sie Deutschland und Frankreich mit der WM in Katar verfolgten, gilt es zu verunmöglichen. Zudem muss der Einfluss von Sponsoren auf Entscheidungen des Weltverbands unterbunden werden. Ob am Ende die Banden werbefrei bleiben oder nicht, ist nachrangig. Doch spätestens bei der Unsitte, dass ein Gastgeber der Fifa Steuerfreiheit einräumen muss, möge Schluss sein. Ziel muss ein: Die FIFA darf genauso wenig profitorientiert ausgerichtet sein wie etwa UNICEF oder ein UNHCR.

2. Öffentliche Kontrolle des Weltfußballs

Unter UN-Regie ginge die Möglichkeit zu öffentlicher Kontrolle weit über die WM-Vergabe hinaus. Es muss Schluss sein etwa damit, dass die FIFA zur vermeintlichen Korruptionsbekämpfung eine hauseigene Ethikkommission einsetzt. Dazu hatte Ewald Lienen 2015 als damaliger St.-Pauli-Trainer alles gesagt: «Wenn ich Blödsinn gemacht habe, sage ich dann: Tut mir leid, ich hab den Laden überfallen, aber wir haben eine familieninterne Untersuchungskommission eingerichtet, mal sehen, was dabei rauskommt, es ist noch nicht ganz sicher? Ist doch lächerlich!» Es führte vielfach zur Genugtuung, dass das FBI sich FIFA-Funktionäre vorknöpfte. Doch warum ausgerechnet das FBI?! Welche Legitimität bringt eine US-amerikanische Bundespolizei mit, deren Glaubwürdigkeit mancherorts noch weit unter jener der FIFA liegt? Wer den Verdachte hegte, die USA wollten darüber an Einfluss auf den Weltfußball gewinnen, konnte sich bestätigt sehen: Die Ermittlungen kamen zum Erliegen, als die WM 2026 an die USA und Anrainer vergeben wurde.

3. Friedenspolitische Leitplanken für die FIFA

Was ist aus dem hohen Gut der Völkerverständigung geworden, das zu Fußball-WMs gleichermaßen wie bei Olympischen Spielen gerne bemüht wird? Spätestens im Jahr 2022 muss sich die FIFA auch hier den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen. Unter dem Vorwurf des Völkerrechtsbruchs Russland ausschließen, aber im Falle westlicher Staaten noch nicht einmal über vergleichbare Maßnahmen nachgedacht zu haben? Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen: Die Kriege des Westens verstießen teilweise offen gegen das Völkerrecht. War bei der WM 2006 eine Debatte darüber aufgekommen, ob Deutschland trotz der Bombardierung Jugoslawiens als Ausrichter haltbar ist?

Und Katar? Im Emirat befindet sich die Militärbasis der landeseigenen Luftwaffe, die v.a. von der US-Armee genutzt wird. In der Region dient sie den USA als Hauptquartier des Kommandos Mitte (CENTCOM). Von dort wurde u.a. 2003 «der völkerrechtswidrige Angriff auf den Irak geleitet» (Magazin Hintergrund, 3/2013). Am NATO-Krieg gegen Libyen nahm man offen mit Kampfflugzeugen teil und verdeckt durch die Unterstützung dschihadistischer Banden: Ein katarischer Generalmajor räumte ein, beim Krieg gegen Libyen als «Verbindung zwischen den Rebellen und den NATO-Truppen» agiert zu haben (The Guardian, 26.10.2011). Das bestätigte Andreas Krieg vom King’s College London, Abteilung «UK Defence Academy», der auch die katarische Armee beriet. In einem verschriftlichten Vortrag bei der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen erklärte er, Katar habe «immer weiter auch Rebellengruppen vor allem in Libyen und Syrien» unterstützt: «Ich bin 2012 nach Katar … gekommen, während der Libyenoperation 2011 war ich noch Teil des Verteidigungsministeriums in Großbritannien. Und die Briten haben die Kataris im Endeffekt gefragt, ob sie diesen Teil übernehmen, weil es klar war, dass die NATO-Staaten keine Bodentruppen senden würden. Die Kataris haben das dann auch gemacht. Also die Unterstützung der Rebellen in Libyen war etwas, bei dem der Westen ganz klar grünes Licht gegeben hat.»

Und Syrien? Zum Vorwurf der Terrorunterstützung räumte der einstige katarische Außenminister Hamad bin Jassim bin Jaber al-Thani ein, sein Land habe «dort vom ersten Tag an» (also 2011ff.) bewaffnete Gruppen mit Geld und Waffen unterstützt – gemeinsam mit Saudi-Arabien, der Türkei und den USA. Über die Absprachen habe man «vollständige Dokumente» (nd, 3.11.2017).

Derweil nahm Katar bis 2017 am saudisch geführten Krieg gegen den Jemen teil, der laut tagesschau.de bereits bis Anfang 2022 rund 370.000 Tote forderte. Bei der Eröffnungsfeier der WM saß Kronprinz Mohammed bin Salman als Repräsentant Saudi-Arabiens neben FIFA-Generalsekretär Gianni Infantino.

In der Frage von Krieg und Frieden wäre es an der UNO, der FIFA Leitplanken zu setzen, und das ohne zweierlei Maß.

4. Weltfußball und Klimapolitik: Mehr als «Save the planet»-Binde

Es spricht viel dafür, dass wir auf dem «Highway zur Klimahölle» sind, so UN-Generalsekretär Guterres auf der jüngsten Weltklimakonferenz. Notwendigen Gegenmaßnahmen hat sich auch der Weltfußball zu stellen. Und das jenseits von Lippenbekenntnissen etwa in Form der FIFA-offizielle Kapitänsbinde «Save the planet». «Die Mär vom klimaneutralen Turnier» titelte etwa deutschlandfunk.de (13.11.2022) und fragte, was von einem «nachhaltigen» Turnier zu halten sei, «wenn für die WM sieben neue Stadien gebaut werden mussten und praktisch alle Gäste mit dem Flugzeug kommen?»

Und die WM 2026 in Nordamerika? Erstmals treten 48 Länder an. Mannschaften, Betreuer, Medien, Fanscharen aus aller Welt: Flugreisen zumeist aus Übersee. Plus das Hin- und Her zwischen Mexiko, USA und Kanada. Es überschlage mal jemand den CO2-Verbrauch allein durch die Fliegerei (München-New York hin/rück: knapp 4 Tonnen CO2-Emissionen pro Person). Es braucht zahlreiche Forderungen, eine davon wäre: Reduzieren wir Weltmeisterschaften wieder auf 24 Teams, dann werden auch die Qualis wieder spannender.

Wie kommen wir dahin?

Gerade in Deutschland hat diese WM nie gezündet, und das beileibe nicht nur wegen der fußballerischen «Performance» der DFB-Elf. Manche schlossen sich Fanprotesten an, andere wandten sich ab. Mag sein, dass auch künftig das WM-Fieber abgekühlt bleibt. Und doch: Im globalen Maßstab werden die Weltmeisterschaften mittelfristig wohl das Hochamt des Fußballs bleiben – mitunter dessen Festtage. Es wird kaum nutzen, die Sache einfach zu ignorieren.

Die Crux mit einer Forderung wie der nach einer UN-Intervention in den Fußball ist: Wer hört schon drauf? Und mehr noch: Wer soll sie durchsetzen, wenn sie doch den Interessen von Politik, Wirtschaft und Verbänden zuwiderläuft? Es bedürfte schon jeder Menge politischen Drucks von unten, und das aus etlichen Ländern. Auch wenn die Forderung weit realistischer erscheint als der Ruf nach einem alternativen Weltverband, so sei zugegeben: Sie wird erst mal eine Idee bleiben, ihre Massentauglichkeit müsste auf den Prüfstand realer Auseinandersetzungen. In den Kurven mag man sie aufnehmen oder verwerfen – bei den Verbänden brauchen wir gar nicht erst fragen.

Noch einmal zurück zum VW-Empfang mit den gegrillten Shrimps und dem zeitgemäßen Veggie-Kebab de luxe. Das erinnert an die WM 1986. Noch war die FIFA nicht in den Sog eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus geraten, samt Schlagzeilen zu Steuerparadiesen, Finanzoasen, Risikokapital. Und doch nahm infolge der neoliberalen Wende von 1973ff. auch im Fußball die Durchkommerzialisierung an Fahrt auf. Mexiko ’86 also, man ließ Argentinien in der sengenden Mittagssonne spielen – wegen der Übertragungszeiten auf der anderen Seite des Globus. Nach dem Spiel ging Diego Maradona hinauf zu den VIP-Lounges und hielt den FIFA-Offiziellen entgegen: «Schon gut, esst euren teuren Kaviar und trinkt den besten Schampus, aber…»

Bei UNO-Sitzungen gibt’s Tafelwasser.