Der 7. Juni 2015 war ein einschneidender Tag in der Geschichte der Türkei. An diesem Tag zog die HDP (Demokratische Partei der Völker), ein Bündnis aus linken und kurdischen Parteien, erstmals ins türkische Parlament ein und löste große Hoffnungen auf mehr politisches Mitspracherecht für ihre Wähler*innenschaft aus. Für die regierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) bedeuteten die 13 Prozent der HDP einen Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament, woraufhin der sogenannte Friedensprozess mit der PKK aufgekündigt wurde. Ein Jahr später wurden die Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, inhaftiert, ebenso wie tausende Parteimitglieder und Unterstützer*innen. Doch trotz aller Repressionen konnte die HDP bis heute ihren Platz im Parlament verteidigen und zeigt sich besonnen gegenüber einem laufenden Parteiverbotsverfahren. Und sie ist bereit, in die kommenden Wahlen im Juni 2023 zu ziehen, mit einem breiteren Bündnis, das sich nun formiert hat.
Die Wahlbündnisse
Lange wurde spekuliert, ob die für 2023 geplanten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei vorgezogen werden würden. Dieser Verdacht war nicht unbegründet, wurde doch zwischen 2015 und 2018 gleich dreimal gewählt. Doch nun sieht es so aus, als würde der 18. Juni 2023 tatsächlich der Wahltag werden und somit beginnt der Wahlkampf in der Türkei. Während die regierende AKP und ihr De-Facto-Koalitionspartner, die ultranationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), in aktuellen Umfragen im Vergleich zu den letzten Wahlen rund sieben Prozent der Stimmen verloren haben, etablieren sich zwei oppositionelle Wahlbündnisse. Das «Bündnis der Nation» (Millet İttifakı) wird angeführt von der kemalistisch-nationalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) und der nationalistischen İYİ Parti (Gute Partei), einer Abspaltung der MHP. Hinzu kommen zu diesem sogenannten Sechser-Tisch zwei AKP-Abspaltungen, Deva und Gelecek, die islamistische Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit) und die säkular-konservative Demokrat Parti (Demokratische Partei). Während das Bündnis der Nation und seine Politiker*innen in europäischen Medien ausführlich porträtiert und nicht selten als Hoffnungsträger einer Demokratisierung der Türkei präsentiert werden, erhält das zweite Oppositionsbündnis weit weniger Aufmerksamkeit. Dabei wird die politische Richtung des «Bündnisses für Arbeit und Freiheit» (Emek ve Özgürlük İttifakı) entscheidend sein, für die Präsidentschaftswahlen und für all diejenigen, die für einen demokratischen Aufbruch und soziale Verbesserung in der Türkei kämpfen.
Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert sie die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.
Neben der HDP ist aus diesem Bündnis eine weitere Partei bereits im türkischen Parlament vertreten, die Türkiye İşçi Partisi, Arbeiterpartei der Türkei TİP. Zwei ihrer Abgeordneten, der Parteivorsitzende Erkan Baş und Barış Atay, wurden 2018 über die Liste der HDP gewählt und gründeten im Anschluss die TİP. Zur Fraktion traten dann der Journalist und HDP-Abgeordnete Ahmet Şık, sowie die CHP-Abgeordnete und Anwältin Sera Kadıgil bei. Seitdem nutzen sie das Parlament vor allem als Bühne für offene Kritik an der Regierung, ihre Reden werden in den sozialen Medien intensiv verfolgt und geteilt. Sie sind zu populären Figuren geworden, die Probleme der Arbeiter*innenklasse und gesellschaftlicher Minderheiten ansprechen und deutlich aufzeigen, welche politische Verantwortung die AKP-Regierung dafür trägt. Misst man die Größe der Partei an Hand ihres Kontingents auf dem diesjährigen 1. Mai in Istanbul, kann man die TİP zweifelsohne als eine der größten linken Parteien benennen.
Dem Bündnis gehört außerdem die Partei der gesellschaftlichen Freiheit TÖP (Toplumsal Özgürlük Partisi), die sich auf den marxistischen Theoretiker Hikmet Kıvılcımlı bezieht, an. Sie war bereits Teil des Demokratischen Kongresses der Völker HDK (Halkların Demokratik Kongresi), aus dem die HDP entstand. Hinzu kommen die Emek Partisi EMEP (Partei der Arbeit), die Partei der proletarischen Bewegung EHP (Emekçi Hareket Partisi) und die Föderation der sozialistischen Parlamente SMF (Sosyalist Meclisler Federasyonu).
Die Kandidat*innenfrage
Obwohl die Wahl schon in sechs Monaten stattfindet, steht bisher nur ein einziger Präsidentschaftskandidat fest: Erdoğan. Weder hat das Bündnis der Nation bisher einen Kandidaten oder eine Kandidatin benannt, noch hat das dritte Bündnis entschieden, ob es überhaupt eine eigenständige Kandidatur plant oder den/die Kandidat*in des Bündnisses der Nation unterstützen wird. Diese Strategie verfolgte die HDP bei den Regionalwahlen 2019 und wurde somit zur Königsmachein für die CHP, die seitdem die Stadtverwaltungen von Istanbul und Ankara regiert. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, sagte in einem Interview Ende November, das Bündnis der Nation solle erst einmal eine*n konkrete*n Kandidat*in benennen, dann könne man miteinander in Verhandlung treten. Erkan Baş, Vorsitzender der TİP, hingegen rief bereits im August direkt dazu auf, sich um einen gemeinsamen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl zu versammeln, um das Präsidialsystem zu beseitigen. Das dritte Bündnis solle einen linken Pol im Parlament bilden, als «Versicherung des Volkes», so Baş. Die konkrete Festlegung auf eine Person, die gegen Erdoğan antreten wird, zögert sich aus zwei Gründen hinaus: Einerseits will die Opposition möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Gegen viele prominente Politiker*innen der CHP laufen bereits Gerichtsverfahren, in denen neben Haftstrafen auch Politikverbote gefordert werden. Anderseits gibt es auch innerhalb der Partei anhaltende Machtkämpfe. Obwohl traditionell der Parteivorsitzende die Partei in den Wahlen vertreten würde, hat Kemal Kılıçdaroğlu seine Kandidatur noch nicht erklärt. Denn auch die Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, werden von großen Teilen der Bevölkerung als geeignete Präsidentschaftskandidaten betrachtet. Die Debatte um die konkrete Strategie des dritten Bündnisses während der Präsidentschaftswahl ist also noch nicht abgeschlossen.
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MAK lag die Unterstützung für das dritte Bündnis im Oktober bei rund 10 Prozent der Wähler*innen, 7,7 davon direkt für die HDP. Im Vergleich zur Wahl von 2018 wäre dies ein Stimmenverlust von vier Prozent. Den Einzug ins Parlament bedroht dies jedoch nicht, da in der Türkei zu Beginn des Jahres die ursprüngliche 10-Prozent-Hürde auf 7,5 Prozent gesenkt wurde. Anlass dafür war, dass der De-facto-Bündnispartner der AKP, die ultranationalistische MHP, in den Umfragen mittlerweile weit unter der ursprünglichen 10-Prozent-Wahlhürde liegt.
Auf zwölf Seiten fordert das Bündnis in seinem Programm ein Wirtschaftssystem, in dem human gearbeitet und gelebt wird; Demokratie, die sich auf die Herrschaft des Volkes stützt; eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage; Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Freiheit für Frauen; Gleichberechtigung und Freiheit für Jugendliche, Menschen mit Behinderung und benachteiligte Gruppen sowie den Schutz der Natur, der Umwelt und der Kulturgüter. Hohe Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und Armut werden als aktuell drängendste Probleme benannt. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen und der unterdrückten Masse des Volkes seien ihr wichtigstes Anliegen. Die Rechnung für die wirtschaftliche Krise und den vielseitigen gesellschaftlichen Zerfall müsse das aus- und inländische Kapital zahlen. Preissteigerungen sollen gestoppt, Entlassungen verboten und ein Wirtschaftsprogramm verfolgt werden, dass die Armut beseitigt. Im Rahmen eines «Programms für soziale Rechte» sollen Strom, Gas, Wasser und Internet für Menschen mit einem Monatseinkommen unter der Armutsgrenze kostenfrei sein. Dringend sollen Schritte für die Verstaatlichung des Energie- und Verkehrsnetzes sowie im Gesundheits- und Bildungsbereich unternommen werden, unter Einbeziehung der Angestellten. Mit dem Staatsetat sollen nicht der Palast (gemeint ist Erdoğans Regierungsgebäude in Ankara), Kriege, Gefolgsleute der Regierung und auswärtige Schulden finanziert, sondern für die wirtschaftliche Sicherheit des Volkes und Einkommensunterstützung gesorgt werden.
Die türkische Linke und die Migrant*innen
Eine Forderung zeigt ein fundamentales Problem der Linken in der Türkei. Während das Bündnis um die CHP und zunehmend auch der Regierungsblock mit dem Thema Migration und Aufenthalt von Geflüchteten im Land um Wähler*innenstimmen wirbt, äußert sich die Linke bisher nur verhalten zu dieser Thematik. Offiziell leben rund 4 Millionen Flüchtende in der Türkei, ein Großteil von ihnen kommt aus Syrien. Mit Verschärfung der wirtschaftlichen Krise im Land, steigenden Mieten und sinkenden Löhnen, werden sie zu Sündenböcken gemacht. Dies hat brutale Auswirkungen, immer wieder kommt es zu Pogromen in migrantischen Vierteln, angestachelt von hochrangigen Politikern, gerade aus dem Bündnis der CHP und İyi Parti. Die neugegründete Zafer Partisi (Siegespartei) hat das Thema Abschiebung von Geflüchteten zu ihrem Hauptthema gemacht, in ihrem Umfeld entstehen bewaffnete Banden, die Jagd auf Migrant*innen machen und dazu aufrufen, es ihnen gleichzutun. In der Linken hingegen ist Solidarität mit Geflüchteten rar gesät. Bis auf kleine Initiativen für ein friedliches Zusammenleben äußern sich die meisten Sozialist*innen kaum zu diesem Thema. Einerseits herrscht Misstrauen gegen die Menschen aus Syrien, denen häufig Sympathien zu islamistischen Gruppierungen und fehlender Säkularismus unterstellt werden, andererseits ist die Linke in der Türkei vorrangig mit vermeintlich «eigenen», innenpolitischen Themen beschäftigt. Dabei profitiert gerade das türkische und in der Türkei produzierende ausländische Kapital von der hohen Anzahl Geflüchteter, die vollkommen entrechtet auf den Arbeitsmarkt strömen, um sich ihr Überleben zu sichern. Der AKP-Abgeordnete Mehmet Özhaseki, sagte letztes Jahr ganz offen, «in einigen Städten halten die Syrer*innen die Industrie am Laufen». Ziehe man die Syrer*innen aus einigen wichtigen Orten ab, bräche dort die Wirtschaft zusammen. Die meisten von ihnen arbeiten im Verkauf, auf dem Bau und in der Industrie, jeder Dritte davon in der Textilverarbeitung. Auch Kinderarbeit ist stark verbreitet, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass rund 130 000 Syrer*innen im Alter von 5 bis 14 Jahren in der Produktion arbeiten.
Im Programm des «Bündnisses für Arbeit und Freiheit» bleiben die Forderungen dazu knapp: Um die Rückkehr von Schutzsuchenden zu ermöglichen, müsse Frieden in der Region hergestellt werden und denjenigen, die bleiben wollen, soll ein Flüchtlingsstatus zuerkannt werden. Auf Grund eines veralteten Migrationsrechts in der Türkei gibt es dort keinen offiziellen Asylstatus, sondern nur temporären Schutz. Vielen Geflüchteten bleiben somit grundlegende soziale Rechte verwehrt. Gerade für eine internationalistische Linke ist dieses Thema höchst relevant. Ignoriert man es, werden sich rechte Parteien dessen annehmen und die vulnerabelsten Gruppen darunter leiden.
Linkes Bündnis und Gewerkschaften
Das Bündnis fordert außerdem die Sicherung umfassender Rechte auf gewerkschaftliche Organisierung. Darunter zählt sie das Recht auf jede Art von Streik und Tarifverhandlungen sowie die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf sieben Stunden. Obwohl in der Türkei das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung in der Verfassung festgeschrieben ist, sieht dessen Durchsetzung in der Realität anders aus. Wie ein Bericht der Konföderation DİSK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei) zeigt, wurden seit Beginn der AKP-Regierung bis 2020 17 Streiks verschoben, de facto verboten, von denen insgesamt 194.000 Arbeiter*innen betroffen waren. Zu Beginn dieses Jahres kam es aufgrund der starken Inflation und steigender Energie- und Lebensmittelpreise zu spontanen Arbeitsniederlegungen und Protesten im ganzen Land. Während sich viele der am Bündnis beteiligten Parteien solidarisch zeigten bzw. direkt in diese Proteste involviert waren, blieben größere Mobilisierungen vonseiten der Gewerkschaften aus. Aktuell wird über die reguläre Erhöhung des Mindestlohns zum Jahresende verhandeln. Der größte Gewerkschaftsverband Türk-İş, dessen Führung traditionell der Regierung nahesteht, hat mit 7.785 Lira (397 Euro) eine lächerlich geringe Erhöhung gefordert. Der progressive Gewerkschaftsverband DISK hingegen forderte 13.200 TL (673 Euro). Im Programm des Bündnisses findet sich keine Forderung zum Mindestlohn, weder über seine Höhe, noch über den zeitlichen Abstand, innerhalb dessen dieser an Inflation und steigende Kosten angepasst werden müsste. Eine politische Hegemonie, selbst in den progressiven Gewerkschaften, hat das «Bündnis für Arbeit und Freiheit» bisher nicht aufbauen können. Diese werden politisch von der CHP beeinflusst, eine historische Tradition in der Türkei. Doch um den politischen Kampf für die Rechte der Lohnabhängigen nicht nur gegen die aktuelle Regierung, sondern auch gegen eine eventuelle zukünftige CHP-Regierung zu führen, müssten sich Sozialist*innen in den Organen der Klasse verankern. Das bedeutet Betriebsarbeit mit langem Atem, denn Gewerkschaftsfeindlichkeit ist in der Türkei weit verbreitet.
Frauenbewegung und kurdische Frage
Auch wenn sich das Bündnis offiziell aus linken Parteien zusammensetzt, beinhaltet es eine weitere und die wahrscheinlich mutigste politische Kraft, die aktuell in der Türkei existiert: die Frauenbewegung. Zwar sind viele der feministischen Organisationen indirekt mit den verschiedenen Bündnisparteien verbunden, doch sie handeln politisch meist autonom. Es sind die Feministinnen, die sich immer wieder die Straßen nehmen, sei es am 8. März oder am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Dass sie als kampfstarker Teil dieses Bündnisses im Programm nur auf drei Forderungen, die dazu noch recht allgemein gehalten sind, reduziert werden, spiegelt ihre gesellschaftliche Rolle nicht angemessen wieder. Die einzige konkrete Forderung ist die Rückkehr der Türkei zur Istanbul Konvention, deren ineffektive Umsetzung jedoch auch in Ländern bemängelt wird, die die Konvention unterzeichnet haben.
Das Bündnis will auch die mehrheitlich kurdische Wähler*innenschaft der HDP überzeugen. Die kurdische Frage sei eine der «grundlegendsten Fragen der Türkei». Für eine demokratische Lösung und Frieden bedürfe es einer konstruktiven Politik, die die Ansätze und Sorgen aller Bevölkerungsteile berücksichtige. Entgegen der Politik von Verleugnung und Unterdrückung sollen Schritte zur Demokratisierung und zu einer friedlichen Lösung unternommen werden. Statt Kriegspolitik soll ein Dialog geführt werden und sollen demokratische Verhandlungen stattfinden. Große Bedeutung komme dabei dem Recht auf Muttersprache sowie der Anerkennung universeller Identitätsrechte zu. Zwar werden in einem anderen Punkt des Programmes die Stärkung lokalpolitischer Strukturen und die Abschaffung von Zwangsverwaltungen gefordert, von denen in erster Linie die kurdischen Landkreise betroffen sind, doch weitgehende autonome Rechte für Kurd*innen oder andere Minderheiten fordert das Bündnis nicht.
Gebraucht wird eine kämpferische Linke
Was unterscheidet das dritte Wahlbündnis nun vom Rest der Opposition? Forderungen nach Abschaffung des Präsidialsystems, eine Rückkehr zum Rechtsstaat und demokratische Rechte fordert schließlich auch das «Bündnis der Nation» – und wird für diese Vorhaben auch gewählt werden. Das «Bündnis für Arbeit und Freiheit» tritt an als eine Allianz von linken Parteien, von denen die Mehrheit in ihren eigenen Programmen eine sozialistische Gesellschaft klar als politisches Ziel benennt. Im Bündnismanifest findet sich der Begriff «Sozialismus» nicht wieder. Nun mögen manche einwenden, das sei für ein Bündnis zu einseitig oder könne auf Teile der Wählerschaft abschreckend wirken. Doch auch eine neue Verfassung schlägt das Bündnis nicht vor und bleibt damit sogar hinter den Forderungen des bürgerlichen Oppositionsbündnisses zurück, das kürzlich umfassende Verfassungsreformen vorgelegt hat. Das linke Bündnis hat den Anspruch, nicht bloß ein Wahlbündnis, sondern ein Kampfbündnis zu sein, dass sich vor und nach der Wahl für die Rechte der Werktätigen, der Armen, der Frauen und LGBTI-Personen, der Alevit*innen und Kurd*innen einsetzt. Aktuell ist die Linke in der Türkei noch marginalisiert, doch das Bündnis will die Möglichkeiten des Wahlkampfes nutzen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und sie für linke Politik zu gewinnen. Bereits jetzt verteilen Aktivist*innen der Bündnispartner ihre Broschüren auf zentralen Plätzen in allen größeren Städten und berichten, dass die Bevölkerung nach Alternativen zu den Regierungsparteien sucht. Die spontanen Streiks zu Beginn des Jahres sind ebenfalls Ausdruck davon, dass die Menschen in der Türkei aufbegehren gegen die Verarmungspolitik. Gegen die Kriegspolitik der Regierung hingegen regt sich kaum Widerstand.
Die Türkei braucht eine neue Verfassung, keine Reformen der aktuellen.
Einige führende Politiker des linken Bündnisses sehen ihre Rolle darin, mehr linke Abgeordnete ins Parlament zu bringen, um dort für ihre Anliegen zu agitieren. Doch das türkische Parlament ist – und das zeigt die Periode, in der wir uns seit 2015 befinden umso deutlicher – kein Ort demokratischer Entscheidungen, kein Ort, an dem die Klasse Erfolge erzielen kann. Auch wenn das Bündnis der Nation die Wahl gewinnen und den nächsten Präsidenten stellen würde, braucht die Türkei dringend eine kämpferische Linke mit fester Verankerung unter der Arbeiter*innen, in den Gewerkschaften, in der Jugend, die kaum einen anderen Ausweg sieht, als das Land zu verlassen, unter den Frauen, die sich gegen die alltägliche Gewalt des Patriarchats schützen müssen, und unter der kurdischen Bevölkerung, die momentan an drei Fronten – in der Türkei, in Rojava und im Iran – gleichzeitig kämpft. Die Türkei braucht eine neue Verfassung, keine Reformen der aktuellen. Die gesellschaftliche Macht herzustellen, die eine tiefgehende soziale Verbesserung herbeiführt, ist die Aufgabe, die ein linkes Bündnis übernehmen muss.