Kommentar | Kommunikation / Öffentlichkeit - Türkei Türkei: Journalismus als Straftatbestand

Das neue «Desinformationsgesetz» dient der Kriminalisierung von Journalist*innen

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Autorin

Gamze Kafar,

Nur die regierungsoffizielle «Wahrheit» soll an die Öffentlichkeit. Türkischen Journalist*innen drohen Gefängnisstrafen wegen «Falschinformation», wenn sie kritisch berichten.
Nur die regierungsoffizielle «Wahrheit» soll an die Öffentlichkeit. Türkischen Journalist*innen drohen Gefängnisstrafen wegen «Falschinformation», wenn sie kritisch berichten. Quelle: Firat News Agency (ANF)

Trotz vieler Kritik und Debatten trat in der Türkei am 18. Oktober 2022 das «Gesetz zur Bekämpfung der Desinformation» [türkisch: Dezenformasyonla Mücadele Yasası] in Kraft, von dem eine große Gefahr für die Meinungsfreiheit im Land ausgeht. Der entsprechende Gesetzesentwurf war dem Parlament von AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) als sogenanntes «Anti-Desinformations-Gesetz» vorgelegt worden, wird in der Öffentlichkeit aber als «Zensurgesetz» bezeichnet.

Während vergleichsweise kleine Mediengruppen, die sich nicht vom Staat «kaufen» ließen, heute einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten gegenüberstehen, wurden viele andere Medienorganisationen von der Regierung direkt geschlossen. Hunderte Journalist*innen wurden entweder inhaftiert oder konnten, wenn sie Glück hatten, aus dem Land fliehen. Ich verwende das Wort «Glück» hier absichtlich, denn in der Türkei werden Journalist*innen in der Tat für die bloße Ausübung ihres Berufs strafrechtlich verfolgt. Wir erleben zudem, dass dieses Vorgehen durch das «Anti-Desinformations-Gesetz» legitimiert wird, das ungeachtet lautstarker Kontroversen am 18. Oktober verabschiedet wurde.

Gamze Kafar arbeitete für die kurdische, ausschließlich mit Frauen besetzte Nachrichtenagentur JINHA, welche 2016 durch die türkische Regierung geschlossen wurde. Von 2015 bis 2018 berichtete Gamze Kafar über den Konflikt in Nordsyrien. 2018 zog sie nach Berlin und arbeitet weiter als Journalistin.

In der Türkei – oder in anderen despotischen Regimen, in denen Journalist*innen inhaftiert sind – ist Journalismus damit eine Straftat. Jede oppositionelle Meinung oder Information, die der Regierung schadet, kann ganz einfach zur «Desinformation» erklärt werden. Und wie bekämpfen despotische und diktatorische Regime, in denen Journalist*innen inhaftiert werden, derartige «Desinformation»? Ganz einfach, indem sie Gesetze verabschieden, die es ihnen ermöglichen, diejenigen zu inhaftieren, die kritische Meinungen oder Wahrheiten äußern und vertreten.

Auf diese Weise lassen sich Beiträge zur Inflationsrate im Land, die derzeit bei weit mehr als 100 Prozent liegt, oder Informationen über die parlamentarischen Hintergründe der Wahlen im Juni von der Regierung ganz leicht als Desinformation und Irreführung der Öffentlichkeit umdefinieren.

Eine Regierung, die bekanntermaßen sehr «sensibel» auf die Meinungsfreiheit im eigenen Land reagiert, wird natürlich wahre oder falsche Informationen nach ihren eigenen Interessen bewerten. Darüber hinaus können Personen, die nach der Auffassung dieser Regierung die Öffentlichkeit mit Falschnachrichten in die Irre führen und diese verbreiten, mit «ein bis drei Jahren» Gefängnis bestraft werden. Es ist durchaus möglich, dass die Umsetzung eines solchen Gesetzes nicht nur die freie Berufsausübung von Journalist*innen gefährdet, sondern auch zu verstärkter Selbstzensur in der Öffentlichkeit führt.

Welche Ausmaße die Zensur im Land annehmen kann, wurde der Bevölkerung unmittelbar nach dem Bombenanschlag vom 13. November 2022 auf der Istiklal-Straße in Istanbul, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen und viele weitere verletzt wurden, noch einmal deutlich vor Augen geführt: Unmittelbar nach der Tat wurde ohne Gerichtsbeschluss ein landesweites Sendeverbot verhängt. Anschließend sperrte die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) den Zugang zu Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram und Youtube. Zu dem Bombenanschlag, der ganz natürlich Fragen zur inneren Sicherheit des Landes aufwarf, kam hinzu, dass die Menschen für längere Zeit weder Aufklärung von der Regierung erhielten, noch die Möglichkeit besaßen, sich selbstständig über die Geschehnisse im Internet zu informieren, geschweige denn ihre Angehörigen zu kontaktieren. Die Frage, warum der Zugang zu Informationen nach diesem Vorfall gesperrt wurde, blieb trotz einer parlamentarischen Anfrage der CHP (Republikanische Volkspartei) unbeantwortet.

Ein weiteres Beispiel für die gesetzlich legitimierte Missachtung der Meinungsfreiheit in der Türkei, die seit Längerem besteht, bietet das Jahr 2016, als der damals verhängte Ausnahmezustand nach dem Putschversuch vorrangig dazu diente, die Nichtachtung von Presse- und Meinungsfreiheit zum «Normalzustand» zu erklären. Zwischen den Zeilen könnte man diese und aktuellere Bestrebungen so interpretieren, dass die Regierung um ihren Fortbestand bangt und deswegen den öffentlichen Zugang zu Informationen beschränkt, um die von ihr geschaffene «Wahrheit» zu schützen. Insbesondere das vor den Wahlen im Juni erlassene Anti-Desinformations-Gesetz weist darauf hin. Offiziellen Regierungsangaben zufolge gibt es in der Türkei keine inhaftierten Journalist*innen. Denn durch das besagte Gesetz werden Journalist*innen, die nicht im Sinne der Regierung berichten, als Terrorist*innen verurteilt, denen «Fehlinformation der Öffentlichkeit» und «Propaganda» vorgeworfen wird, obwohl sie bloß journalistischen Tätigkeiten nachgehen.

Früher oder später wird der Slogan «Journalismus ist kein Verbrechen» in der Türkei wieder an Bedeutung gewinnen, und möglicherweise wird dann Artikel 29 in den Geschichtsbüchern der reaktionären Regierung als ein Gesetz erscheinen, an das man sich mit Scham erinnert.

Wer weiß?