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Die zutiefst unpopuläre Rentenreform des französischen Präsidenten könnte über das Schicksal seiner Regierung entscheiden.

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Ethan Earle,

Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht auf einer Pressekonferenz während des Gipfels des Europäischen Rates in Brüssel am 23. Juni 2022 zu den Medien. Foto: IMAGO/NurPhoto/Nicolas Economou

Donnerstag, 19. Januar 2023, war ein historischer Tag in Frankreich, an dem im Rahmen eines landesweiten Streiks weit über eine Million Menschen auf die Straße gingen und gegen Reformvorschläge für das viel gepriesene Rentensystem des Landes protestierten. Klingt das bekannt? Kein Wunder, denn eine ähnliche von Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagene Reform wurde erst vor wenigen Jahren durch Proteste der Bevölkerung auf Eis gelegt.

Ethan Earle ist ein in Paris ansässiger politischer Analyst und langjähriger Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die genauen Teilnehmerzahlen sind wie immer umstritten: Die Polizei schätzt 1,12 Millionen, während laut Confédération générale du travail (CGT), Frankreichs wichtigstem Gewerkschaftsverband, landesweit mehr als zwei Millionen öffentlich protestierten. Aber wie dem auch sei: Niemand bestreitet das beeindruckende Ausmaß der Streikaktionen. In ganz Frankreich verzeichneten Kleinstädte und Dörfer eine so breite Beteiligung wie seit Generationen nicht mehr – vielleicht sogar wie nie zuvor.

Eine unbestrittene Zahl, die hilft, diese Mobilisierung der Massen zu erklären, lautet: Alle acht französischen Gewerkschaftsverbände riefen zum ersten Mal seit Jahrzehnten gemeinsam zu Streiks und Mobilisierungen auf. Eine weitere – wahrscheinlich die wichtigste – Zahl ist, dass rund 70 Prozent der Französinnen und Franzosen Macrons Plan rundweg ablehnen.

Was genau bedeutet diese vorgeschlagene Rentenreform, warum ist sie für die Regierung Macron so wichtig, und wie wahrscheinlich ist es, dass sie durchkommt?

Ein ideologisch motiviertes Projekt

Die vorgeschlagene Reform würde das französische Renteneintrittsalter für die meisten Menschen von 62 auf 64 Jahre anheben. Sie würde auch die Einführung einer Schwelle von 43 Arbeitsjahren vorantreiben, mit der das Rentenalter für viele Menschen auf über 64 Jahre angehoben würde.

Dieser Vorschlag unterscheidet sich von Macrons letztem Versuch, bei dem die in Wirklichkeit vielen verschiedenen, nach Arbeitskategorien geordneten Rentensysteme zu einem einzigen gestrafften System umstrukturiert werden sollten. Was bleibt, ist das hartnäckige Beharren des Präsidenten, das Rentensystem des Landes sei zu teuer und müsse um jeden Preis geändert werden.

Um es klar zu sagen: Frankreichs Rentensystem ist teuer – es liegt bei rund 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts –, und es gibt Prognosen, dass es in den kommenden Jahren zu einer systemischen Belastung kommen könnte. Allerdings ist das vom Regierungsbeirat prognostizierte Defizit von 0,4 Prozent für sich genommen nicht existenziell, und Fachleute haben eine Reihe alternativer Vorschläge vorgelegt, um das Budget auszugleichen, ohne das Renteneintrittsalter zu erhöhen.

Inzwischen finanziert dieses System durchschnittlich 74 Prozent des Vorruhestands der Arbeitnehmer*innen. Infolgedessen weist Frankreich die zweitniedrigste Altersarmut der OECD auf, hinter Dänemark und weit vor Deutschland, Japan und anderen großen, reichen Ländern.

Obwohl das derzeitige System selbst nicht perfekt ist, bietet es älteren Arbeitnehmer*innen – insbesondere jenen mit körperlich belastenden Jobs – eine echte Grundlage materieller Unterstützung, um nach dem Ende ihrer Berufslaufbahn ein erfülltes Leben zu führen. Als System, das auf Solidarität und allgemeiner Zugänglichkeit beruht, bietet es in der kollektiven Vorstellungswelt des französischen Volkes ein Minimum an wahrhaft sozialer Sicherheit. Das ist es, wofür das französische Volk in den Umfragen und auf der Straße so überwältigend eintritt, und ebendieses System will Macron ändern.

Wenn der vorherige Reformvorschlag noch Zweifel an den Beweggründen der Regierung aufkommen ließ, ist das beim aktuellen Plan nicht der Fall. Während der letzte Versuch eine komplexe und technokratische neoliberale Reform beinhaltete, ist die aktuelle Reform viel einfacher und unverblümter: Die ärmsten und schutzbedürftigsten Arbeitnehmer*innen – diejenigen, deren Arbeit ihren Körper zerstört und deren durchschnittliche Lebenserwartung in vielen Berufen nur bis Mitte 60 reicht – werden einen größeren Teil ihres Lebens am Arbeitsplatz verbringen, Schmerzen hin oder her.

Nehmen Sie sich eine Auszeit und kümmern sich um Ihr Baby oder Ihre sterbende Schwester? Dann werden Sie auch länger arbeiten. Die Auswirkungen auf die Vertiefung der Ungleichheiten nicht nur zwischen sozialen Schichten, sondern auch zwischen ethnischen Gruppen und Geschlechtern sind offensichtlich.

Statt einer technischen Lösung, die darauf abzielt, den Haushalt auszugleichen, kann dies nur als ideologisch motiviertes politisches Projekt interpretiert werden, das die Macht der Großunternehmen – und der mit ihnen verbundenen Kapitalinteressen – über die abhängig Beschäftigten ausweiten will. Nach mehr als drei Jahren einer globalen Pandemie werden Frankreichs größte Konzerne gerettet, während ihre Niedriglohnarbeitskräfte nicht nur verraten und verkauft werden, sondern auch eine Lektion über ihre Stellung im Leben erhalten.

In der Nationalversammlung oder auf der Straße?

Wie wahrscheinlich ist es, dass Macron Erfolg haben wird? Nach herkömmlicher politischer Logik liegt die Wahrscheinlichkeit leider ziemlich hoch.

Unmittelbar nach einem erfolgreichen Kampf um seine Wiederwahl, bei dem er genau dieses Vorhaben versprochen hatte, ist das Timing gut, und es wäre weit hergeholt zu glauben, dass er es mit 70 Prozent der Franzosen aufnehmen würde, ohne die Reform auch durchzusetzen zu können. Obwohl er in der Nationalversammlung nur eine hauchdünne Mehrheit hat, scheint er die Stimmen zu haben – vorausgesetzt, er kann seine eigene Partei zusammenhalten und auf die traditionell rechtsgerichteten Republikaner zählen, die seit Jahrzehnten von dieser Reform träumen. Und für den Fall, dass es ihm nicht glückt, haben er und seine Premierministerin, Elisabeth Borne, bereits die Anwendung des berühmt-berüchtigten französischen Verfassungsartikels 49.3 salonfähig gemacht, der es dem Präsidenten erlaubt, Gesetze ohne Abstimmung durchzudrücken.

Doch Frankreich ist und bleibt ein Land, in dem Bürgerproteste die Grenzen des Möglichen diktieren können. Politische Streiks finden hier tatsächlich statt und können funktionieren, indem sie breite Unterstützung in der Bevölkerung gewinnen und zugleich Teile des Landes lahmlegen, Chaos stiften, die Gesetzgebungsarbeit ausbremsen und sie dann in die Netze anderer politischer Konflikte verstricken. Darüber hinaus verfügt Macron zwar auf dem Papier über eine Mehrheit in der Nationalversammlung, hat jedoch institutionelle Gegner, die in der Lage sind, ihn in die Enge zu treiben.

An erster Stelle sind die Gewerkschaften zu nennen, deren Mitgliederzahlen zu den niedrigsten in der Europäischen Union gehören, die allerdings aufgrund ihrer strukturellen Einbindung in die demokratischen Institutionen Frankreichs einen nach wie vor vergleichsweise großen Einfluss im Land ausüben. Obgleich nicht ganz auf Augenhöhe, haben die Gewerkschaften in Frankreich doch ein Mitspracherecht bei der Gesetzgebung. Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland, wo diese Stimme häufiger in konsensorientierten Verhandlungen hinter verschlossenen Türen zu hören ist, ertönt sie in Frankreich auf der Straße, mit einem Megafon und im Takt einer Marschkapelle.

Entweder Macron geht triumphierend aus seiner riskanten Wette hervor, oder aber sein Volk zeigt ihm die rote Karte und schränkt ihn dauerhaft in seiner Fähigkeit ein, wichtige Gesetze zu erlassen.

Für die Zeit nach dem 19. Januar wurde bereits zu einer Reihe von Streiktagen aufgerufen, und es ist damit zu rechnen, dass sie andauern werden, bis die Angelegenheit entschieden ist. Ausschlaggebend für den Erfolg des Widerstands wird die Fähigkeit der CGT sein, diesen Block aus acht Branchenverbänden gegen die Versuche der Regierung zusammenzuhalten, die einen oder mehrere von ihnen zu beschwichtigen und abzuspalten trachtet, insbesondere die große und relativ zentralistische Confédération française démocratique du travail (CFDT).

Zudem sind da noch die in Frankreich historisch starken politischen Parteien, die aber seit Macrons bahnbrechendem (und teilweise Parteien zerbrechendem) Sieg 2017 in einer existenziellen Krise gefangen sind.

Obwohl sie noch fragil ist, hat es die parlamentarische Linke geschafft, einen politischen Block in der Nationalversammlung unter dem Banner der Neuen ökologischen und sozialen Volksunion (NUPES) zusammenzustricken, die von Jean-Luc Mélenchons La France insoumise zusammen mit Sozialisten, Kommunisten und Grünen geführt wird. Insgesamt ist dieses Bündnis die zweitgrößte Kraft in der Nationalversammlung und steht der Reform geschlossen ablehnend gegenüber. Diese Position wird, unangenehmerweise, vom größten Konkurrenten der NUPES, dem rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen, geteilt.

Diese bunte zusammengewürfelte Opposition verfügt zwar über keine Mehrheit, ist aber dennoch groß genug, Probleme zu bereiten. Entscheidend für ihre Bemühungen wird die Reaktion auf die Streiks sein: Sieht die öffentliche Meinung sie weiterhin positiv? Und bleibt die Ablehnung von Macrons Vorschlag bestehen oder steigt sie sogar noch? Selbst eine Nationalversammlung, die dazu neigt, gegen den Volkswillen zu entscheiden, muss irgendwann auf die Wünsche ihrer Bevölkerung reagieren.

Um es jedoch klar zu sagen: Wenn die Nationalversammlung – oder irgendeine andere dämliche Machtzentrale – darüber abstimmt, wird das Ergebnis höchstwahrscheinlich nach Macrons Geschmack sein. Nur durch eine Abstimmung auf der Straße kann die Stimme der Opposition womöglich den Sieg davontragen.

Spiel mit dem Leben der Menschen

Trotzdem läuft die Rentenreform für Macron auf ein riskantes Spiel hinaus. Obwohl schon einmal aus dem Feld geschlagen, versucht er es nochmals – trotz schlechterer Karten in der Nationalversammlung, geschrumpfter Popularität und infrage gestelltem Mandat – und will eine sogar noch brutalere Version gegen den Mehrheitswillen durchsetzen. Inwieweit ist er den Wahlkampf- und sonstigen Versprechen gegenüber der französischen Elite verpflichtet? Oder hängt er wirklich nur dem Glauben an, es sei notwendig, den französischen Wohlfahrtsstaat im Namen des „Fortschritts“ zu demontieren?

Wir können den Politiker*innen nicht in die Köpfe schauen (weder im Guten noch im Schlechten) und sollten nicht darüber spekulieren, was in ihrem tiefsten Inneren vorgeht, sondern müssen sie vielmehr auf der Grundlage ihres konkreten Handelns beurteilen. Was Macron betrifft, sind seine Handlungen die eines Mannes, der entschlossen ist, aus den späten Lebensjahren der Menschen ein Schlachtfeld zu machen und sie auf diesem Terrain zu niederzuringen.

Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass die politische Ausrichtung und auch der Einsatz klar sind: Entweder Macron geht triumphierend aus seiner riskanten Wette hervor, vielleicht sogar mit einem Hauch napoleonischer Statur, oder aber sein Volk zeigt ihm die rote Karte und schränkt ihn dauerhaft in seiner Fähigkeit ein, wichtige Gesetze zu erlassen.

Unabhängig davon, welches dieser Szenarien eintritt: Die wahren Gewinner oder Verlierer werden die arbeitende Bevölkerung und der Mittelstand in Frankreich sein.