Im Herbst 2021 setzte mit den Preissteigerungen im Energiesektor die Lebenshaltungskostenkrise ein, die heute in ganz Europa zu beobachten ist. Mit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine verschärfte sich die energetische Komponente dieser Krise noch weiter. Die meisten europäischen Länder koppelten sich von russischen Gaslieferungen ab, und die Regierungen schürten gleichzeitig Ängste in der Bevölkerung, dass die Energieversorgung in diesem Winter – oder im nächsten – knapp werden könne.
Nessim Achouche arbeitet als Projektmanager im Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Doch während sich die europäischen Verbraucher*innen fragten, ob sie noch ihre Häuser heizen könnten, erzielten die Energiekonzerne Rekordgewinne. Sieben der größten Öl- und Gasunternehmen fuhren mehr als 150 Milliarden Euro Übergewinne ein. Dem stehen 34 Millionen Menschen gegenüber, die nach Schätzungen der Europäischen Kommission im Jahr 2021 in Energiearmut lebten, eine Zahl, die 2022 drastisch anstieg.
Die Preissteigerungen blieben jedoch nicht auf den Energiesektor beschränkt. Sie traten zunehmend auch in anderen Bereichen auf, allen voran im Nahrungsmittelsektor. Im Wohnungssektor schossen die Preise ebenfalls in die Höhe, was Millionen europäische Mieter*innen in eine schwierige, wenn nicht gar aussichtslose Lage brachte.
Der allgemeine Preisanstieg ist ein komplexes Phänomen, das durch den unterschiedlichen Grad der Finanzialisierung bestimmter Märkte beeinflusst und durch die Komplexität globaler Wertschöpfungsketten verstärkt wird. Entscheidend ist aber auch, dass die allgemeine Inflation bisher nirgendwo in Europa mit entsprechenden Lohnerhöhungen einherging. Trotzdem haben die Gewerkschaften auf diese Welle der Verarmung mit immer neuen Streiks und Blockaden reagiert, während soziale Bewegungen und Aktivist*innengruppen versuchet haben, auf lokaler Ebene Widerstand zu organisieren.
Vor diesem Hintergrund hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem Corporate Europe Observatory und den Gastivists eine Kartierung der Lebenshaltungskostenkrise in Europa (European Mapping of the Cost of Living Crisis) gestartet. Die Website, die eine Karte und eine umfangreiche Datenbank enthält, ist ein Versuch, zumindest einige Momentaufnahmen dieser rasanten Entwicklung zu erfassen. Mit detaillierten Zahlen für neun europäische Länder liefert sie die Grundlage für einen Vergleich der verschiedenen nationalen Kontexte und einen Überblick über die Situation auf dem gesamten Kontinent. Außerdem werden die politischen Aktionen zur Bewältigung der Krise auf nationaler und europäischer Ebene sowie die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Abfederung (Preisobergrenzen, Übergewinnsteuern, Steuersenkungen) aufgezählt.
Mit einem Schwerpunkt auf Arbeitskämpfen und Massenbewegungen auf dem ganzen Kontinent soll die Plattform die allgemeine Politisierung der Lebenshaltungskostenkrise vorantreiben. Während die meisten Beschäftigten, Bürger*innen und vulnerablen Gruppen der Gesellschaft mit zunehmend prekären Lebensbedingungen zu kämpfen haben, machen Großkonzerne und Finanzinstitute riesige Gewinne. Das kommt einem massiven Vermögenstransfer von der Mehrheit zur Elite gleich.
Die Kartierung der Lebenshaltungskostenkrise in Europa stellt eine Momentaufnahme eines laufenden Prozesses dar. Das Instrument befindet sich noch im Aufbau und wird sich gemäß den jeweiligen Situationen vor Ort weiter entwickeln. Wir werden die Daten weiter aktualisieren und Analysen zu den Entwicklungen in den verschiedenen Sektoren bereitstellen. Dabei werden wir politische Lösungen für Phänomene aufzeigen, die letztlich nur Symptome einer größeren politischen Krise sind. Wir freuen uns über Anregungen von Einzelpersonen und Organisationen, wie wir das Projekt gemeinsam verbessern können.
Übersetzung von André Hansen und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective.