RLS: Was sind die Forderungen der Kampagne «Wir Zahlen Nicht»?
Marie Bach: Wir verfolgen mit dem Zahlungsstreik kurz-, mittel- und langfristige Ziele. Kurzfristig fordern wir ein Verbot von Stromsperren und einen bezahlbaren Strompreis von 15 ct/kWh im Grundkontingent. Dies ist der Preis für die Stromerzeugung von erneuerbarem Strom aus neuen Anlagen (in etwa 7,5 ct/kWh) plus 7,5 ct/kWh als Netzentgelte zur Instandhaltung, den Aus- und Umbau des Stromnetzes sowie notwendige Energiespeichersysteme. Mittel- und langfristig wollen wir eine grundlegend andere Energieversorgung. Fossile Energie ist hauptverantwortlich für die massiven Preissteigerungen und die aktuelle Krise und befeuert zudem die Klimakrise. Wir wollen nachhaltigen und bezahlbaren Strom und selbst über die Produktion und den Preis von Energie entscheiden. Deshalb fordern wir 100 Prozent erneuerbare und dezentrale Energie und die Vergesellschaftung der Energieversorgung.
Bislang sind die Aktivitäten des «solidarischen» oder «heißen» Herbsts noch auf keine Massenresonanz getroffen; weshalb denkt ihr, dass die ambitionierte Kampagne auf eine Million Unterstützer*innen hoffen darf?
Viele Erhöhungen der Stromrechnungen und die Nachzahlung der Betriebskostenabrechnung werden erst jetzt am Anfang des Jahres fällig. Gleichzeitig sind die Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Preiserhöhung für Viele nicht ausreichend. Die Strompreisbremse bedeutet immer noch eine durchschnittliche Preissteigerung von über 30 Prozent zum Vorjahr. Laut Berechnungen mit durchschnittlichen Verbräuchen ist im Bürgergeld für diesen Strompreis nicht genug Geld vorgesehen. Schon 2021 wurde rund 235.000 Haushalten der Strom abgeklemmt. 4,3 Millionen Haushalte haben eine Androhung zu Stromsperren bekommen. Wer schon vor der Krise kaum für die Rechnungen aufkommen konnte, den zwingen die derzeitigen Preise endgültig in die Knie. Bisher fehlten konkrete Aktionsangebote gegen die immer höher steigenden Preise. Wir hatten den Eindruck, dass die klassischen Formen Demo und Kundgebung keinen Druck aufbauen konnten und auch viele Menschen nicht erreicht haben.
Eine Unterstützung von Arbeitskämpfen, wie sie derzeit im Rahmen der TVöD-Verhandlungen stattfindet, ist sehr wichtig. Der Zahlungsstreik schließt aus unserer Sicht aber eine Lücke, indem er allen Menschen ein wirkmächtiges Handlungsangebot gegen die Preissteigerungen bietet. Ein weiterer Punkt ist, dass wir neben einer solidarischen Antwort auf die Krise weitergehende Forderungen aufstellen: Wir kritisieren die hohen Preise für Strom, aber wir kritisieren auch das Festhalten an fossiler Energie und verbinden damit die soziale und ökologische Frage. Entsprechend hoffen wir, dass wir auch Menschen erreichen können, die gegen die Klimakrise aktiv sind oder dies werden möchten.
Ein Vorbild für euch ist die britische Kampagne «Don´t pay UK», warum?
Wir haben viel von der Kampagne in UK gelernt. Für uns ist sie eine extrem erfolgreiche Kampagne, die fast 300.000 Menschen hinter ihre Forderungen versammelt hat. Wir fanden die Aktionsform der Kampagne spannend. Sie wirkt auf verschiedene Weise: Sie bietet eine konkrete solidarische Antwort auf die Krise, da durch die massenhafte Bestreikung der Stromrechnungen Menschen, die von den Preissteigerungen besonders betroffen sind, nicht alleine gelassen werden. Die Kampagne beinhaltet mit dem Zahlungsstreik einen materiellen Hebel und schafft einen Raum, sich gemeinsam zu organisieren und gegen die Preissteigerungen aktiv zu werden. Sie baut politischen Druck auf und interveniert diskursiv durch mediale Präsenz. Durch die Kampagne wird die Tatsache, dass Menschen ihre Rechnungen nicht zahlen können, nicht länger als individuelles Problem behandelt, sondern als systemisches Versagen geframed. Wir fanden diese Antwort auf die Krise sehr überzeugend, weswegen wir viel aus den UK übernommen haben.
Neben einer Präsenz in den Medien und Verbreitung über Social Media-Kanäle setzen wir wie die UK-Kampagne darauf, dass Menschen eigenständig bei sich vor Ort im Rahmen der Kampagne aktiv werden. Bei «Don’t Pay» haben sich viele lokale Gruppen im Rahmen der Kampagne gebildet, woraus dann eine Bewegung entstanden ist. Wie in den UK können sich bei uns auf der Homepage Menschen melden, die mehr tun wollen, als sich für den Streik einzutragen. Sie finden sich dann nach Postleitzahlen in Gruppen zusammen. Wir stellen Material und Infos zur Verfügung, mit dem die Leute aktiv werden können.
Die Grassroots-Mobilisierung ist ein interessanter Aspekt, aber sind die Gelegenheitsstrukturen für eine massenhafte Beteiligung im Sommer in England nicht deutlich besser gewesen, als in Deutschland, wo die Bundesregierung durch die Staatsausgaben doch einigermaßen viel Geld in die Hand genommen hat?
In der Tat war und sind die politischen und ökonomischen Bedingungen in Großbritannien andere als in Deutschland. Zum Zeitpunkt als «Don't Pay» dort gestartet ist, gab es praktisch keine Bearbeitung der Krise durch politische Entscheidungsträger*innen. In Deutschland hat die Regierung etliche Maßnahmen mit Blick auf die Preissteigerungen erlassen. Aber die Maßnahmen sind weder sozial gerecht noch ökologisch sinnvoll und werden, wie ja schon am Beispiel der Strompreisbremse erläutert - viele Menschen nicht ausreichend entlasten. Gleichzeitig haben wir die Kampagne aus den UK mit unseren Forderungen nach einer umfassend anderen – sozialen, ökologischen und demokratischen – Energieversorgung erweitert. Wir hielten dies sowohl strategisch als auch politisch für sinnvoll und sehen es als Versuch, wirkmächtig die soziale mit der ökologischen Frage zu verbinden. Wir hoffen so, viele Menschen erreichen zu können. Es ist ein Experiment, das wir wagen wollen.
Wie kommt es, dass ihr gerade die Strompreise boykottieren wollt? Die Kosten für Gasheizungen sind doch noch stärker gestiegen.
Für einen erfolgreichen Streik ist es wichtig, als Kollektiv zusammenzustehen. Eine solche Geschlossenheit ist bei einer Bestreikung der Strompreise leichter zu realisieren als bei Gasrechnungen. Gas wird oft über die Nebenkosten bezogen, die von Vermieter*innen festgelegt und über die Miete abgerechnet werden. Deshalb könnte es im Falle eines Gasstreiks zur Gefährdung des gesamten Mietverhältnisses kommen. Strom hingegen wird getrennt vom Mietverhältnis bezogen und von den Bewohner*innen direkt bezahlt. Mögliche Konsequenzen eines Stromstreiks sind dadurch überschaubarer und für alle Mieter*innen ähnlich, sodass ein gemeinsamer und solidarischer Umgang in lokalen Gruppen gefunden werden kann.
Wie ist denn die Lage für die Stromerzeuger? Geben die nicht nur die gestiegenen Kosten auf die Kund*innen weiter?
Wenn wir uns anschauen, wie der Strompreis zustande kommt, sehen wir, dass dies nicht so ist. An der Strombörse bestimmt der Erzeugerpreis für die teuerste Energiequelle den Gesamtpreis für die Stromerzeugung. Zuerst kommen immer die Kraftwerke zum Zug, die den günstigsten Preis anbieten können. Das sind die erneuerbaren Energien. Als billigste Stromanbieter speisen sie ihren Strom als Erste ein. Danach kommen Atomstrom, Braunkohle und Kohle. Wenn mehr Strom benötigt wird, kommen am Ende die teuersten Kraftwerke zum Zug – das sind gasgetriebene Kraftwerke. Und dann folgt eine Besonderheit, die nun die Preise explodieren lässt: Am Ende bekommt jeder den Preis, den das teuerste Kraftwerk verlangt hat. Diese Art der Preisbildung nennt sich «Merit Order». Faktisch bedeutet dies: Egal wie billig der Brennstoff ist, am Ende erhalten alle Kraftwerke den Preis des teuersten Stromeinspeisers. Und dieser Preis ist immer wieder um mehr als das Zehnfache höher als die tatsächlichen Kosten. Weil die Kosten für Gas in den letzten Monaten massiv gestiegen sind, steigt also auch der Strompreis an.
Die großen Energiekonzerne haben im letzten Jahr fette Gewinne eingefahren. E.ON hat alleine zwischen Januar und September 2022 4,3 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Bei Vattenfall stieg der Umsatz um 38 Prozent auf ca. 142 Milliarden Euro, der Gewinn belief sich bis Ende September damit auf ca. 15 Milliarden Euro. Auch RWE hat mit einem Gewinn von 2,1 Milliarden Euro seinen Gewinn im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Auch Betreiber von Windparks und Großsolaranlagen haben profitiert, denn auch sie erhalten die Preise des teuersten Einspeisers.
Stromsperren sind ja auch ohne Boykott ein großes Problem, was kann die Kampagne für die hunderttausenden Menschen, deren Strom abgeklemmt wird, erreichen?
Der Zahlungsstreik bietet einen Schutzschirm für diejenigen, die ihre Rechnungen nicht zahlen können und von Stromabsperrungen bedroht sind. Zum einen minimieren sich die individuellen Konsequenzen, wenn die Stromrechnungen massenhaft nicht gezahlt werden. Das Abklemmen vom Strom ist in der Regel nicht per Mausklick durchführbar, sondern muss durch einen Techniker im Haus erfolgen. Entsprechend wäre es ein gigantischer Aufwand, allen Menschen, die mitstreiken, den Strom zu sperren. Zum anderen können lokale Gruppen im Rahmen der Kampagne konkrete solidarische Praxen vor Ort entwickeln. Ähnlich wie bei Wohnungsräumungen können Menschen etwa den Zugang zum Gebäude für den Techniker, der eine Stromsperre durchführen soll, blockieren.
Was können Menschen tun, die euch unterstützen wollen?
Menschen können «Wir Zahlen Nicht» in unterschiedlicher Weise unterstützen. Zum einen freuen wir uns natürlich, wenn sie sich am Zahlungsstreik beteiligen und sich dafür auf unserer Homepage eintragen. Damit wir viele Menschen werden, sind wir darauf angewiesen, dass Menschen bei sich vor Ort aktiv werden und weitere Menschen für den Streik mobilisieren. Wie bereits erläutert, können sich Menschen bei uns auf der Homepage melden, wenn sie lokal aktiv werden wollen. Wir freuen uns auch, wenn Menschen spenden, denn zur Erstellung des Materials und Durchführung von Veranstaltungen sind wir auf Spenden angewiesen.
Mehr Informationen: wirzahlennicht.info