Die Debatte zum Vagabundentum pendelt immer wieder zwischen zwei Polen. Dem der Abscheu, der Not, des Zwangs und dem Strafgesetzbuch und anderer Arten der Verfolgung einerseits; und dem der Freiheit, der Selbsthilfe und der Idealisierung und Romantisierung des Vagabundentums andererseits). Das Spannungsfeld zwischen (subversivem) Widerstand und materieller Not, zwischen Freiheitsdrang und repressiven Zwängen erzeugt eine Ambivalenz, die sich wie ein roter Faden durch die insgesamt ein Dutzend Artikel dieses Buches zieht, das im Sommer des vergangenen Jahres erschienen ist.
Beiträge zu historischen Aspekten sind in ihm ebenso zu finden wie solche zu zeitgenössischen Themen: Lisa Boylos stellt zum Beispiel die bekannte Wiener Straßenzeitschrift «Augustin» vor, während sich Maren Rahmann und Georg Rosenitsch der (Geschichte der) Straßenmusik in Wien widmen. Georg Fingerlos ist 2020 eine historisch überlieferte Strecke nachgewandert, die 1928 von einer größeren Gruppe unternommen bzw. begonnen worden war, die (etwas leichtgläubig) jemandem folgten, der ihnen versprochen hatte, sie könnten in Äthiopien siedeln. In seinem Text berichtet Fingerlos von dieser Geschichte, und von seiner eigenen Wanderung.
Die drei Beiträge des ersten Kapitels wiederum bieten erste Untersuchungen zum Vagabundentum in Wien. Eva Schörkhuber führt ins Thema ein und nennt auch die wenige, bisher erschienene Literatur. Mitherausgeber Andreas Pavlic und Peter Haumer berichten unter anderem vom Verhältnis der Vagabundenbewegung zu Großveranstaltungen der (internationalen) Arbeiter(kultur)bewegung, dem Treffen der Sozialistischen Jugendinternationale 1929 und der Arbeiter-Olympiadeim Juli 1931, ebenfalls in Wien.
Pavlic diskutiert in einem weiteren Beitrag zwei historische Texte: Rudolfs Geists Rede auf dem Vagabundenkongressin Stuttgart 1929 und Jo MihalysBallade vom Elend (ebenfalls von 1929). Ljubomir Bratic und Evelyn Messner berichten von den Forderungen nach und den Konflikten um ein Migrationsmuseum in und für Wien. Die inhaltliche Verbindung zum Thema des Buches ist hier, dass MigrantInnen heute oftmals – freiwillig und unfreiwillig – NomadInnen seien, so ähnlich, und ähnlich widersprüchlich, wie die VagabundInnen der 1920er Jahre.
Die Beiträge bieten einen sehr bunten Strauß an Themen und Perspektiven. Sie stehen teilweise zwar etwas unvermittelt nebeneinander, zeigen aber, dass die Vagabondage eine Bewegung ist, die sich materiellen, kulturellen und sozialen Einhegungen widersetzt, damals und womöglich auch heute.
Andreas Pavlic / Eva Schörkhuber (Hrsg.): Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien. Sonderzahl Verlag, Wien 2022, 232 Seiten, 28 Euro