FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua, deutsch: «Bund der Wohnbaugenossenschaften durch Gegenseitige Hilfe Uruguay») entstand in den 70er Jahren im Zuge der einsetzenden Bewegung genossenschaftlichen Wohnungsbaus in Uruguay. Der Verband besteht aus einer Vielzahl von Genossenschaften, denen breite Bevölkerungsteile beitreten und so kollektiv Wohn- und Nutzungsrecht einer Wohneinheit erwerben können.
Das Leitprinzip der «Gegenseitigen Hilfe» beruht darauf, dass die Kosten für den Wohnraum dadurch niedrig gehalten werden, dass die Mitglieder auf der Baustelle mitarbeiten. Es wird auf Grundstücken gebaut, die in der Regel vom Staat zur Verfügung gestellt werden und geringe Kosten aufweisen. Auch wird auf staatliche Kredite zu einem niedrigem Zinssatz zurückgegriffen. Die vereinbarten Arbeitsstunden sowie die Teilnahme an gemeinsamen Treffen, Versammlungen, Schulungen und integrierenden Instanzen sind ein Muss. Zu dieser Struktur zählt auch die Genderkommission, die im Zuge der feministischen Mobilisierung in Lateinamerika zunehmend Ungerechtigkeiten und Gewalt inner- und außerhalb des Verbands zur Debatte stellt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit Isabel Zerboni, Genossenschaftsmitglied und Teil der Genderkommission von FUCVAM.
RLS: Wie arbeitet die Genderkommission von FUCVAM und in der Bewegung allgemein?
Isabel Zerboni: FUCVAM ist eine Organisation, die in den 70ern entstanden und in vielen Aspekten patriarchal aufgebaut ist. Nach dem Vorbild der Gewerkschaften. Da der Verband aber aus Familien besteht, hatte er immer schon eine sehr umfassende Perspektive und eine eng mit dem häuslichen Leben verbundene Arbeitsweise. Es wurden z. B. schon immer kollektive Einkäufe getätigt, um so die Kosten für alle zu senken. Schon immer hat sich der Verband der sozialen Probleme angenommen, die sich uns stellen. Er hat sich um kollektive Alternativen in den Bereichen Gesundheit, Bibliotheken, Konsum, Eingreifen bei geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Kinder, Arbeitslosigkeit, und kollektive Kinderbetreuung bemüht. Es wird immer nach solidarischen Unterstützungsmaßnahmen für die Familien gesucht. Dadurch bekam der Bund sowohl Merkmale einer Bewegung als auch einer gewerkschaftlichen Organisation, also mit flexibler territorialer Struktur, aber auch mit einer Instanz, die politisch kämpft.
Die Genderkommission ist 2015 aus der feministischen Welle heraus entstanden. Da kommen wir her. Da haben wir gemerkt, dass wir einen Raum im Verband brauchen, wo wir über diese Dinge sprechen können. Anfangs haben wir uns als Genderkommission verstanden, mit den Jahren wurden wir immer feministischer und so verorten wir uns heute. An den Frauentreffen (Anm. d. Red.: Ab 2017 wurde von verschiedenen feministischen Gruppen zu bundesweiten Frauentreffen eingeladen) haben an die 200 Genossinnen teilgenommen. Wir organisieren Versammlungen, Schulungen und Sensibilisierungsworkshops. Außerdem versuchen wir, in allen Bezirken mit organisierten Genossenschaften die Bildung von Genderkommissionen zu fördern, sodass wir auf lokaler Ebene arbeiten können. Wir sind nämlich in Montevideo, der Hauptstadt, und manchmal ist es schwierig, die Menschen vor Ort zu erreichen.
Am intensivsten haben wir bisher zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt gearbeitet, da wir eben eine Bewegung sind, die aus Familien besteht. Unsere aktuelle Herausforderung ist es, diese Formen von Gewalt auch innerhalb der genossenschaftlichen Strukturen zu identifizieren. Es gibt unterschiedliche Formen von Gewalt, die manchmal nicht erkannt werden. In unserer Organisation gilt, dass bei geschlechtsspezifischer Gewalt in Familien der Genossenschaft die Gewalt ausübende Person die Genossenschaft verlassen muss. Wer schlägt, muss auf der Stelle gehen. Es ist die Aufgabe der Genossenschaft dafür zu sorgen, dass die Genossin in ihrem Haus bleiben kann.
Ihr beschäftigt euch auch mit feministischer Stadtplanung. Wie macht ihr das?
Die feministische Stadtplanung ist ein neues Thema für uns. Als Genderkommission sind wir der festen Überzeugung, dass es ein großes Potential zur Planung von Raumnutzung mit sich bringt. Wir wollen, dass es präsent ist, wenn sich die Genossenschaft mit dem Beratungsteam, also den Architekten, zusammensetzt, und das Projekt geplant wird. Manche Architekten kommen mit einem Vorschlag, übergeben ihn der Genossenschaft, diese stimmt zu und das war‘s. Wir sind aber der Ansicht, dass das Projekt partizipativ erarbeitet werden muss und dass die Genossenschaft mitreden muss, und zwar nicht nur im Sinne von «ich finde Fliesen in der und der Farbe schön» oder «die Treppe soll aus dem und dem Material sein» – die Debatte muss viel tiefer gehen. So wie der Vorarbeiter einen pädagogischen Willen haben muss, so müssen die Architekten, die mit der Genossenschaft arbeiten, sich um die Vermittlung von Fachwissen bemühen, sodass es der Genossenschaft ermöglicht wird, sich an diesen Debatten zu beteiligen. Ungleich verteiltes Wissen führt nämlich dazu, dass man nicht eingreifen kann, wenn die andere Seite es nicht will. Meiner Meinung nach müssen die Architekten, die mit Genossenschaften arbeiten, zuerst einen pädagogischen Prozess mit den Mitgliedern der Genossenschaft durchlaufen und ihnen erklären, was sie machen werden, sodass die Genossenschaft anschließend dem, was sie bauen möchte, eine Gestalt geben kann. Nach dem Bau hat die Genossenschaft nämlich eine Menge wichtiger und reichhaltiger Kenntnisse und kann über das Projekt diskutieren. Das Problem ist aber, dass es dann schon gebaut ist.
Die Genderkommission will also dazu beitragen, dass die Projekte nicht einfach von den Architekten eingereicht werden und die Genossenschaft sie annimmt oder nicht, sondern dass das Ganze von Anfang an gemeinsam durchdacht wird: wo der Erholungsraum sein soll, wie der Garten aussehen soll, wie die Häuser auf dem Gelände verteilt werden sollen. Eine Sache zum Beispiel, die wir in den Workshops herausgearbeitet haben, ist das Bedürfnis zu wachsen, also dass es Platz gibt, um die Häuser später ausbauen zu können.
Die Genderkommission ist der Ansicht, dass die gemeinsame Planung des Projekts aus einer feministischen Perspektive mit Blick auf die Sorgearbeit stattfinden muss. Es soll nicht nur darum gehen, was uns gefällt, sondern es sollen bei der Planung der gemeinschaftlichen Räume die Debatten um Sorgearbeit mit einbezogen werden.
Früher hatten alle Genossenschaften einen großen Gemeinschaftsraum, wo Treffen veranstaltet wurden. Dieser Raum verliert heute immer mehr an Bedeutung und wird immer weiter verkleinert. Das Ministerium (Anm. d. Red.: für Wohnungswesen und Raumordnung) verlangt von den Genossenschaften, dass mehr Häuser gebaut werden und dass der Gemeinschaftsraum entfernt werden soll, um «den Boden besser auszunutzen». Die Genderkommission hingegen ist der Auffassung, dass der Gemeinschaftsraum enorm wichtig ist und dass er verteidigt werden muss, weil dort eine Vielzahl gemeinschaftlicher Aktivitäten stattfinden. Die Teilnahme der Genossenschaft am Architekturprojekt garantiert uns, dass wir den Gemeinschaftsraum, wo wichtige Dinge wie Treffen und Versammlungen stattfinden, zum Thema machen können. Heute haben wir Genossenschaften, die ihre Versammlungen nicht abhalten können, wenn es regnet. Deshalb wollen wir die Rolle des Gemeinschaftsraums als einen für die Genossenschaft politisch notwendigen Raum stärken. Es ist aber auch der Raum, wo wir Geburtstage feiern - dort findet also ein wichtiger Teil des gemeinschaftlichen Lebens statt.
Neben dem Gemeinschaftsraum sind da noch andere Sachen. Wir haben z.B. Polikliniken, Gemeinschaftsgärten, Bibliotheken, Fußballplätze, Sportplätze.
Das wäre also eine Art, wie feministische Stadtplanungbei der Raumgestaltung von Bedeutung sein kann. Wir sind allerdings noch in einem Vorstadium, in dem wir die Raumnutzung in heute schon bewohnten Genossenschaften untersuchen. Wir haben ein gemeinsames Forschungsprojekt mit Genossinnen von der Fakultät für Architektur, das mit schon bewohnten Genossenschaften mit Genderkommission zusammenarbeitet, um zu untersuchen, wie der gemeinschaftliche Raum in diesen Genossenschaften genutzt wird. Das geschieht seit zwei Jahren. Auf lange Sicht wollen wir Empfehlungen erarbeiten, wie generationenübergreifendes Wohnen und Sorgearbeit berücksichtigt werden können. Uns muss bewusst sein, dass wir nicht immer jung und gesund sein werden und dass wir irgendwann einmal Krankheiten oder Behinderungen durchleben werden, wodurch wir die Häuser nicht so nutzen werden können, wie wir es heute tun. Und nicht nur die Häuser, sondern das gesamte Gelände. Thema Treppen zum Beispiel. Die Sorgearbeit beschäftigt uns besonders, weil wir diese innerhalb der Genossenschaft oft teilen. Die feministische Stadtplanung soll also vor allem dazu dienen, schon bestehende genossenschaftliche Projekte zu überdenken, um zu sehen, wie diese verbessert werden können. Und die zukünftigen Projekte sollen dann von Anfang an mit dieser Perspektive geplant werden.
Wir gehen zwei Wege: Zum einen haben wir die Forschung, die das Ziel verfolgt, mit angehenden Genossenschaften zusammen Empfehlungen zu erarbeiten. Zum anderen wollen wir Schulungen in feministischer Stadtplanung vorantreiben, um das Thema innerhalb von FUCVAM bekannt zu machen. Später wollen wir dann ausgehend von den Genossenschaften in Gründung und der Genderkommission diese Debatte in jeder Genossenschaft anstoßen. Feministische Ansätze vermitteln, mit denen Genossenschaften geplant werden können. Das kommt allerdings erst in einer späteren Phase, das ist unser langfristiges Ziel: dass eine Genossenschaft ihr Projekt von vornherein aus der Perspektive der feministischen Stadtplanung angeht.
Das ist schwierig, weil sich die Bewegung aus 500 Genossenschaften zusammensetzt und nicht alle dem Dachverband gleichermaßen nahe stehen. Es gibt da unterschiedliche Beteiligungsgrade. Das kommt nach und nach. Uns feministisch aufzustellen ist ein langfristiges Vorhaben.
Wenn wir uns mit feministischen Perspektiven bezüglich des Themas Wohnen beschäftigen, ist auch diskriminierungsfreier Zugang wichtig. Wie gehen zum Beispiel Frauen mit den Arbeitszeiten um, wenn sie die Familienernährerinnen sind?
In allen Genossenschaften gibt es alleinerziehende Mütter, weil diese Situation weit verbreitet ist. Viele Frauen treten an die Genossenschaften heran, weil sie von Gewalt betroffen sind und ihre Wohnprobleme lösen müssen. Diese Frauen können eine Hilfsperson benennen und so übernimmt dann jemand aus der Familie die Arbeitsstunden.
Die Genossenschaft ist ein überaus wichtiges Netzwerk für die Menschen, die dort leben. Wenn einer Frau etwas passiert, dann sucht die Genossenschaft nach Lösungen. Es gibt da tausend mögliche Strategien. Manche Genossenschaften bestehen ausschließlich aus weiblichen Familienernährerinnen. Es gibt eine LGBTQIA*-Genossenschaft, eine Afro-Frauen-Genossenschaft, eine von feministischen Genossinnen, in der Männer keinen Zutritt haben. Es ist eine beeindruckende Vielfalt an Genossenschaften entstanden und das hat mit den sozialen Bewegungen zu tun, mit den Kämpfen der LGBTQIA*-Community, mit den feministischen Kämpfen. Viele Genossenschaften entstehen in Gewerkschaften, z.B. vom Baugewerbe, und das sind fast alles Männer. Dann die Gewerkschaften aus dem Bildungsbereich, das sind fast alles Frauen. Oder die Reinigungskräfte. Es gibt auch viele Gewerkschaften, die unter Kindern von Mitgliedern anderer Genossenschaften entstehen – Kinder, die in Genossenschaften geboren und aufgewachsen sind.
Wie kann man Mitglied werden?
Alle über 18 können Mitglied werden. In anderen Ländern gibt es auch Wohngenossenschaften, aber nicht so viele. In Uruguay sind es viele, deswegen wissen alle, dass es sie gibt. Sie sind in allen Stadtteilen, aber nicht alle wissen, wie sie funktionieren. In manchen Stadtteilen gibt es so viele, dass fast der ganze Stadtteil aus Genossenschaften besteht.
Vom rechtlichen Standpunkt her können Familien mit einem Einkommen zwischen Null und 70.000 bis 80.000 Pesos beitreten – das sind etwa 2000 Dollar. Das Kriterium hat mit der Geldmenge und der Anzahl der beitretenden Personen zu tun. Das ist der Durchschnitt. Wer mehr als das verdient, kann nicht beitreten, weil das vom Staat her nicht gestattet wird. Aber das Minimum ist Null, es können also Menschen beitreten, die arbeitslos sind. Das ist relativ neu, seit 2008. Vorher ging das nicht. Es war immer ein für Arbeitende gedachtes Modell und das Minimum war immer tatsächlich ein Minimum. Die Genossenschaften haben oft arbeitslose Menschen beitreten lassen und dann auf den Papieren gemogelt. Oder wenn jemand aus der Genossenschaft die Arbeit verloren hat, hat sich die Genossenschaft um den Lebensunterhalt gekümmert. Aber jetzt ist das Minimum Null. Wir werden durch Genossenschaften mit sehr geringen Einkommen, z.B. aus der informellen Wirtschaft, gestärkt. Als der Staat die Beitrittsgrenze auf Null gesenkt hat, war das auf Betreiben der Genossenschaft hin, das war eine Forderung von FUCVAM. Im Gegenzug wurde die staatliche Unterstützung beim Mitgliedsbeitrag eingeführt. Wenn jemand den Beitrag nicht zahlen kann, bekommt diese Person Unterstützung und muss die Genossenschaft nicht verlassen. Dadurch wird der Zugang zu Wohnraum gesichert.