Eine der größten Herausforderungen, die uns die Corona-Pandemie hinterlässt, ist die Notwendigkeit, unsere Städte anders zu gestalten. Das derzeitige Modell muss dringend überdacht werden, denn es hat sich gezeigt, dass die Art und Weise, wie unsere Städte konzipiert und bewohnt werden, zu anfällig dafür ist, zu einem Brennpunkt der Expansion und der Verschärfung jeglicher Art von Krise zu werden. Die anhaltende soziale, wirtschaftliche und territoriale Ungerechtigkeit und Ungleichheit lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit, unsere Territorien umzugestalten und andere Formen der Nutzung und der symbolischen Bedeutung zurückzugewinnen. Die Städte müssen ihren Bewohner*innen in jedem erdenklichen Sinn zurückgegeben werden.
Wir wissen heute, dass:
- geeigneter Wohnraum retten kann,
- auf das eigene Zuhause begrenzt zu sein ein Risiko für Frauen und LGBTIQ+-Personen ist,
- die lokale Infrastruktur, Auffangsorte und Ökonomien als Motor für die Produktion und Reproduktion städtischen Lebens verstanden werden müssen,
- das Kollektive ist wesentlich für den Erhalt von Leben.
Ana Duplat Velázquez ist Projektmanagerin im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung ConoSur in Buenos Aires.
80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten. Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Dies würde bedeuten, den Weg für Sorgende Städte zu ebnen.
Heute sind wir, wie es Gabriela Massuh formuliert, auf dem Weg hin zu Städten, die «als leerer Signifikant bewegungslos in einem Haufen falscher Wahlversprechen glänzen und die reale Dimension des unwiederbringlichen Verlustes darstellt: des öffentlichen Raums. Jener Raum, durch den wir in unserer Vielfalt an einem gemeinsamen Projekt teilhaben, und zwar als politische Wesen, die fühlen, denken, überlegen, bewahren und die Wurzeln eines sozialen Bandes teilen. Das macht uns zu einer Gemeinschaft». Aus diesem Grund ist es unerlässlich, die Stadt zu dekonstruieren, wieder neu zu aufzubauen, als öffentlichen Raum zurückzugewinnen und sie auf diese Weise wieder mit Sinn zu erfüllen.
Um in diesem Prozess von Dekonstruktion und Wiederaufbau der Stadt voranzukommen, ist es wesentlich zu verstehen, wie wir überhaupt bis zu diesem Punkt gekommen sind; zu verstehen, wie das bisherige Modell städtischer Entwicklung immense Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Gewalt etabliert hat. Nur so können wir diesem Modell entgegentreten. Das Konzept des städtischen Extraktivismus wird hier zu einem Schlüssel, da es ermöglicht, konkrete Phänomene zu untersuchen und sie durch die Lupe des wirtschaftlichen Modells zu betrachten, das diese Phänomene hervorruft. Der Begriff des städtischen Extraktivismus ermöglicht Untersuchungen, durch die institutionelle Gerüste, Marktmechanismen, Typologien der durchgeführten politischen Maßnahmen, Strategien zur Stigmatisierung und Kriminalisierung gewaltsam ausgestoßener und ausgeschlossener «Anderer» ergründet werden können; ebenso können so materielle und symbolische Konstrukte untersucht werden, die es ermöglicht haben, dass der globale Neoliberalismus städtischen Raum gewaltsam vereinnahmt und die Türen unserer Häuser und die Grenzen unseres Lebens überschreitet.
Städte haben sich räumlich, funktional und symbolisch von jenem Binarismus her entwickelt, der dem Kapitalismus eigen ist: ein Prinzip, das Raum in Funktion zweier Kernideen trennt und organisiert: Wohnraum und Arbeit. Der Wohnraum stellt hier das Herz des Privaten und die Arbeit den Mittelpunkt des Öffentlichen dar. Die zutiefst patriarchale Gestaltung der Städte hat den Bereich des Privaten (den Wohnraum) als Entwicklungsraum von Frauen und den Rest (das Öffentliche, die Arbeit) als Betätigungsfeld beruflich aktiver Männer gekennzeichnet. Eine der Folgen, städtischen Raum auf diese Weise zu gestalten, ist die Tatsache, dass andere städtische Funktionen und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Erholung fast als Ornamente der städtischen Organisation erscheinen. Sorge in den Mittelpunkt der Stadtplanung zu stellen heißt also, mit diesem Binarismus zu brechen, die Bedeutungen des Privaten und des Öffentlichen zu erweitern und die Prioritäten bezüglich der Funktionen von Städten neu zu ordnen. Die feministische Stadtplanung hat diesbezüglich eine strategische Reihe von Diskussionen und konkreten Vorschlägen entwickelt.
Um eine Sorgende Stadt zu gestalten, die die Reproduktion des Lebens in Gleichberechtigung und Würde in den Mittelpunkt stellt, braucht es sowohl Veränderungen bei der Verteilung und der Vergütung von Sorgearbeit als auch bei dem ihr zugeschriebenen Wert: Sorgearbeit muss die Grenzen der Privatssphäre überschreiten, darf nicht weiter ausschließlich weiblich gelesenen Körpern zugeschrieben werden und muss zu einer Leitlinie werden für gesellschaftliche Beziehungen, für politisches Handeln und für neue Formen, unsere Beziehungen mit der Natur und den Gemeingütern zu verstehen.
Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen. Sorgearbeit zu vergemeinschaftlichen und gemeinsame Verantwortung aufzubauen bedeutet außerdem, Mobilität und öffentlichen Verkehr neu zu planen sowie neue Infrastruktur und lokale und zugängliche Dienstleistungen und Einrichtungen zu schaffen, die die Grenzen und Trennung zwischen Wohnraum und Arbeit, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verwischen und die Dekonstruktion von Geschlechterrollen begünstigen.
Die Bewegung für genossenschaftliches und selbstorganisiertes Wohnen hat Schritte in diese Richtung unternommen und Schlüssel bereitgestellt. Nicht nur wurden Debatten und Grundlagen entwickelt, sondern durch die genossenschaftliche Praxis, die Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe zum Bau von Wohnraum wurde eine «Alternative [aufgezeigt], die den ausgeschlossenen Mehrheiten einen Horizont gibt, in dem sie eine andere Wirtschaft und andere Werte aufbaut» (Rodríguez, 2021).
FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua, deutsch: «Bund der Wohnbaugenossenschaften durch Gegenseitige Hilfe Uruguay») ist zu einem weltweiten Symbol geworden. Seine Geschichte ist ein Beispiel für das Potential der Selbstorganisation von sozialem Wohnraum und den strategischen Wert desselben beim Bau neuer Städte. Wie es in der Grundsatzerklärung der Kooperative zu lesen ist, ist «die Genossenschaftliche Bewegung für Wohnraum durch Gegenseitige Hilfe im Herzen der Arbeiterklasse entstanden, mit dem Ziel, das Wohnraumproblem zu lösen. Von diesem konkreten Bedürfnis ausgehend wurden Stadtteile gestaltet, die ihren Bewohnern ein würdiges und anständiges Leben ermöglichen sollen. Die Wohnbaugenossenschaften waren ursprünglich aufs Engste mit der Gewerkschaftsbewegung in Uruguay verbunden und von dort ausgehend trafen sie eine Reihe strategischer und zutiefst klassenbewusster Entscheidungen. Sich global als Klasse zu verstehen ermöglichte es, eine Reihe von Forderungen und Bedürfnissen zu umfassen, die zu einer integralen Definition des Projekts führten. Die Genossenschaft beschränkt sich nicht allein auf den Wohnraum, sondern integriert, vom Klassenverständnis ausgehend, alle Bedürfnisse, die der Begriff Klasse – im Gegensatz zur Vorstellung als gesellschaftlicher Teilbereich - mit sich bringt».
Zwei der bahnbrechenden Bauprojekte von FUCVAM sind Beispiele für diese Prozesse: der Komplex José Pedro Varela Zone 3 und das Viertel General Artigas. Zwei Orte, an denen Gemeinschaft entstand. Abgesehen von den 1200 Wohneinheiten, aus denen die beiden Komplexe bestehen, haben die Genossenschaften Kindergärten gebaut, die später zu staatlich geführten Kindergärten wurden, frei zugängliche Polikliniken, Gemeinschaftsbibliotheken, Fußballplätze, Sportplätze und -hallen, Geschäfte, Supermärkte und Gemeinschaftsräume, die nicht nur als Orte für Kultur- und Freizeitaktivitäten dienen, sondern auch für Begegnungen und Entscheidungsprozesse der Einwohner*innen.
Die Genossenschaften in Uruguay haben Lebensraum, ja, sie haben Sorgende Städte geschaffen. Sie sind ein Beispiel für eine Gestaltung von Städten, die Binarismen aufbricht, Gemeinschaft bildet und eine Vergemeinschaftlichung der Sorgearbeit ermöglicht; und dies nicht nur durch den Bau von Infrastruktur und Raum für Spiel, Erholung und Bildung für Kinder, sondern weil sie als Stadtteil die Möglichkeiten von Nähe und Nachbarschaftlichkeit nutzen und mit vielen Augen und vielen Armen kollektiv und mitverantwortlich Sorge tragen.
Auf beiden Seiten des Río de la Plata (in Uruguay und Argentinien) wurden bedeutende Initiativen zur selbstorganisierten Gestaltung von Lebensraum durchgeführt; Erfahrungen, die andere, sorgende Städte erahnen lassen. Die genossenschaftlich gebauten Komplexe sind wahre Beispiele eines Modells sozialer Wohnraumverwaltung, die es schafft, im Einklang mit einer tiefgreifenden Klassenperspektive zentrale Debatten zum Umsturz der kapitalistischen Stadtplanung anzuregen, wie z.B. die Verteidigung von Kollektiveigentum. Ebenso werden Werte für neue soziale Beziehungen verbreitet, die sich auf Solidarität durch gegenseitige Hilfe stützen und die mit einer enormen Partizipation von Frauen zählt, was dazu geführt hat, dass die im Rahmen dieser Bewegungen gebauten Stadtteile zu tatsächlichen Sorgenden Städten wurden. Dort müssen wir hinschauen, denn in diesen Bewegungen wird, so wie es in Argentinien MOI (Movimiento de Ocupantes e Inquilinos, deutsch: «Bewegung von Besetzern und Mietern») bekräftigt, mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufgebaut.