Nachricht | Krieg / Frieden - Migration / Flucht - Osteuropa - Ukraine-Krieg Wer wird bleiben, und wer kehrt zurück?

Wie Klasse, Geschlecht und Alter sich auf die Erfahrungen ukrainischer Geflüchteter auswirken

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Die ukrainischen Flüchtlinge Dimitri Didenko und Elena Bobo und ihre Kinder, die derzeit in einem Flüchtlingslager in der Stadt Căinari, Moldawien, leben, gehören zu den über 500.000 Ukrainern, die in dem Land Schutz suchen.
Die ukrainischen Flüchtlinge Dimitri Didenko und Elena Bobo und ihre Kinder, die derzeit in einem Flüchtlingslager in der Stadt Căinari, Moldawien, leben, gehören zu den über 500.000 Ukrainern, die in dem Land Schutz suchen. Foto: IMAGO/Mauersberger

Russlands Angriff auf die gesamte Ukraine hat viele Ukrainer*innen kalt erwischt. Viele dachten zuerst, es müsse sich um ein Missverständnis handeln, das sich binnen weniger Tage oder Wochen durch Verhandlungen lösen ließe. Die Menschen, die damals ihre Städte verließen, wollten «abwarten, bis sich die Lage beruhigt», und nur wenige Ukrainer*innen glaubten, der Krieg könne sich über ein Jahr oder gar länger hinziehen. Ein Großteil der Ukrainer*innen, die das Land verließen (Umfragen zufolge 52 Prozent), entschlossen sich erst einige Wochen nach Kriegsbeginn dazu.

Anastasiya Ryabchuk ist Lehrbeauftragte an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie und Scholar at Risk des PAUSE-Programms am Institut national des langues et civilisations orientales in Paris.

Schon im Mai, als russische Truppen sich aus Kyjiw und den nördlichen Regionen der Ukraine zurückzogen, fingen viele ins Ausland geflüchtete Ukrainer*innen an, zurückzukehren, obwohl die Verhandlungen nur stockend vorankamen und der Krieg fortwährte. Ukrainischen Grenzbehörden zufolge reisten schon ab Mai 2022 wieder mehr Menschen ein als aus. Wer waren diese Ukrainer*innen, die so früh zurückeilten? Wer zögerte? Ist diesen Winter eine neue Migrationswelle zu erwarten, jetzt, da Russland die zivile Stromversorgung im Visier hat?

Neben den unterschiedlichen Wegen und Zielen von Migrant*innen und Geflüchteten im Allgemeinen ist die Einschätzung bezüglich der Länge des Krieges ausschlaggebend für die Migrationsmuster ukrainischer Geflüchteter in die EU. Klassische Migrationstheorien, die «Schub- und Sogfaktoren» im Ausgangsland und in den Zielländern betrachten, sind natürlich auch weiterhin relevant. Trotzdem muss auch der Zeitfaktor in dieses Narrativ einbezogen werden. Dies ist insbesondere in Anbetracht des «vorübergehenden Schutzstatus» der Fall, der ukrainischen Migrant*innen in der EU gewährt wird, und der Erwartung, dass die Geflüchteten wieder in die Ukraine zurückkehren, «sobald der Krieg vorbei ist», im Gegensatz zum Status anderer Geflüchteter, der einen langfristigeren Bruch mit dem kriegszerstörten Heimatland abstellt.

Hoffnungen und Erwartungen

Etwa zwei Drittel der Geflüchteten haben die Ukraine im März 2022 verlassen (84 Prozent bis Ende April), während die restlichen 15 Prozent ab Mai weggingen. Fast die Hälfte der Menschen, die im Mai an einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) teilnahmen, waren der Ansicht, der Krieg würde in den nächsten sechs Monaten enden, und nur 18 Prozent vermuteten, er könne sich auch länger hinziehen. 11 Prozent gaben an, er würde zwischen sechs und zwölf Monate dauern, und 7 Prozent hielten eine Dauer von länger als einem Jahr für möglich.

Im September begannen die Hoffnungen auf ein rasches Kriegsende zu schwinden. Ein Großteil der Ukrainer*innen war noch zuversichtlich, dass das Land den Krieg letzten Endes gewinnen würde und als EU-Mitgliedstaat eine aussichtsreiche Zukunft vor sich habe.

In einer Umfrage vom 7. bis 13. September 2022 fragte das KIIS die Teilnehmer*innen, ob sie eine endgültige Auswanderung in die EU oder USA in Betracht ziehen würden, sofern ihnen dort die gleichen Rechte wie Staatsbürger*innen gewährt würde. Im Vergleich zu 2020 antwortete nur noch ein Viertel der Teilnehmer*innen mit Ja (7 statt 28 Prozent). Schätzungen des Instituts zufolge wäre es auch bei Miteinbeziehung derer, die das Land seit Beginn des russischen Einmarschs bereits verlassen hatten und die Frage mit Ja beantworten würden, immer noch circa die Hälfte gewesen – ein wesentlicher Rückgang.

Das Meinungsforschungsinstitut InfoSapiens unternahm zwischen dem 12. und 18. August eine Omnibus-Umfrage, aus der hervorging, dass immer mehr Menschen stolz waren, Ukrainer*innen zu sein (98 Prozent im Vergleich zu 41 Prozent im Jahr 2002 und 69 Prozent 2020). Die Umfrage zeigte auch, dass eine überwältigende Mehrheit – 95 Prozent – bezüglich der Zukunft der Ukraine optimistisch ist und 92 Prozent zuversichtlich sind, was ihre eigene Zukunft in der Ukraine angeht. Der Prozentsatz der Menschen, die einen Frieden mit territorialen Zugeständnissen an Russland ablehnten, blieb weiterhin hoch und nahm sogar ein wenig zu: von 84 Prozent im Mai auf 87 Prozent im September.

Ein Großteil der Befragten (86 Prozent) war der Ansicht, dass die Ukraine ihren Widerstand auch in Anbetracht der massiven Angriffe auf das ukrainische Stromnetzwerk im Oktober 2022 fortführen sollte, mit denen Russland die ukrainische Bevölkerung terrorisierte, und nahm die damit einhergehenden Risiken in Kauf: komplette Blackouts, den Kollaps der Strom-, Heizungs- und Trinkwasserversorgung.

Was die Kriegsdauer angeht, wurden die Hoffnungen allerdings deutlich gedämpft. Aus der bereits erwähnten KIIS-Studie ging hervor, dass nur noch 28 Prozent der Teilnehmer*innen glaubten, der Krieg könne innerhalb der nächsten sechs Monate enden, während die Anzahl derer, die meinten, er würde länger dauern, sich mit 34 Prozent fast verdoppelte. 16 Prozent erwarteten eine Dauer zwischen sechs und zwölf Monaten und weitere 18 Prozent glaubten, er würde länger als ein Jahr währen.

Tatsächlich können die russischen Angriffe auf das Energienetzwerk, die im Oktober begannen, eine neue Welle ukrainischer Geflüchteter in die EU mit sich bringen. NGOs, die mit ukrainischen Geflüchteten in den benachbarten Staaten arbeiten, haben Ende Oktober mitunter einen zehnfachen Zuwachs beobachtet, so passieren täglich zwischen 300 und 500 Menschen den Grenzübergang von Záhony nach Ungarn, im Vergleich zu durchschnittlich 50 im Sommer. Selbst mehrere hochrangige Regierungsbeamt*innen rieten Bürger*innen, die es könnten, das Land für den Winter zu verlassen, und legten den sich derzeit im Ausland aufhaltenden Ukrainer*innen nahe, nicht vor Anbruch des Frühlings zurückzukehren.

Was sind die Schub- und was die Sogfaktoren?

Von den 4,5 Millionen ukrainischen Geflüchteten, die in der EU einen vorübergehenden Schutzstatus bekamen, sind über 80 Prozent Frauen und zwei Drittel davon haben Kinder. Gleichzeitig wird nur ein Drittel der Ukrainer*innen, die in das Land zurückkehren, von Kindern begleitet.

Das ist nicht überraschend: Mütter haben mehr Bedenken, vor Kriegsende in die Ukraine zurückzukehren, da sie um die Sicherheit ihrer Kinder bangen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass jüngere, alleinstehende Menschen, die denken, dass sie sich an die neue Kriegsrealität anpassen werden, aber auch ältere Menschen, die sich im Ausland schwertun und ihr Zuhause vermissen, zum jetzigen Zeitpunkt zurückkehren.

Aus einer Studie des Razumkov Centre im Frühjahr 2022 geht hervor, dass 79 Prozent der Migrant*innen «nach dem Krieg» zurückkehren wollen. Eine Studie von Work.ua belegte wiederum, dass 59 Prozent der ukrainischen Geflüchteten, die mit einem vorübergehenden Schutzstatus in der EU leben, Arbeit suchen. Das kann natürlich daran liegen, dass die den Kriegsgeflüchteten zustehenden Sozialleistungen das Existenzminimum nicht decken, und muss nicht unbedingt bedeuten, dass diese ihren Aufenthalt über das Kriegsende hinaus verlängern wollen. Kurzfristig ziehen diese 59 Prozent allerdings die Integration der Rückkehr vor.

Die Studie KIIS for CASE Ukraine vom 3. bis zum 18. Mai ergab, dass nur 42,9 Prozent der Ukrainer*innen sich eine Zukunft für ihre Kinder in der Ukraine vorstellen können, sollte der Krieg sich weiter hinziehen. Im Falle eines baldigen Waffenstillstands und Friedensabkommens steigt diese Zahl auf 54,7 Prozent. Frauen hatten nach dieser Studie ein höheres Sicherheitsbedürfnis als Männer.

Mütter machen sich nicht nur um den russischen Beschuss Sorgen, sondern auch darüber, ob Schulen und Kindergärten wieder geöffnet werden und ob Kindern eine «normale Kindheit» gewährt wird. Da Frauen stärker in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, können sie besser einschätzen, was Kinder im Alltag brauchen, wie zum Beispiel Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Apotheken, Arztpraxen, WLAN-Verbindungen, ganz zu schweigen von verlässlicher Wasser- und Stromversorgung.

In der Grundschule meiner Tochter im Stadtzentrum von Kyjiw sprachen sich zwei Drittel der Eltern in einer Umfrage im Juni für eine Wiedereröffnung der Schule im September aus. Das Resultat war allerdings, dass aus einer Klasse mit 20 Schüler*innen, nur ein einziges Kind Präsenzunterricht erhielt, während drei weitere Kinder online aus anderen Teilen der Ukraine teilnahmen. Der Rest ging im Ausland in die Schule. Einige waren von den russischen Atomwaffendrohungen im letzten August beängstigt, während andere von der langen Liste dessen abgeschreckt wurden, was die Kinder in ihrem Notfallrucksack dabei haben sollten, falls sie nach einem Beschuss drei Tage lang im Keller ausharren müssten.

Trotzdem können Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung und fehlende Unterstützung vonseiten der Familie (wenn zum Beispiel die Familien getrennt wurden), Frauen dazu bewegen, in Situationen zurückzukehren, die sie nicht als sicher empfinden. Mit älteren Kindern und Jugendlichen kann es sogar dazu kommen, dass die Mutter zurückkehrt und das Kind in der EU bleibt. Es gibt mehrere Internate, die Vollzeitbetreuung für Jugendliche aus der Ukraine anbieten. Ab Sommer 2022 wurden auch private Internate gegründet, die speziell auf ukrainische geflüchtete Kinder ausgerichtet sind.

Im Mai führte das UNHCR eine Studie an der Grenze der Oblast Transkarpatien durch zu den Gründen, die ukrainische Geflüchtete zur Rückkehr bewegten. Ein Drittel der Befragten gab die Wiedervereinigung mit Familienangehörigen als Hauptgrund an, ein anderes Drittel gab an, sich in den Regionen, in die sie zurückkehrten, sicher zu fühlen (insbesondere in nördlichen Regionen und Kyjiw). Diese Antworten lassen sich also als Sogfaktoren einordnen. Gleichzeitig, wenn auch weniger eindeutig, machten sich auch Schubfaktoren bemerkbar, die zum Verlassen der EU beitrugen: fehlende Unterkünfte bzw. Schwierigkeiten, im Aufnahmeland eine Wohnung zu finden (5 Prozent), mangelnde Arbeitsmöglichkeiten im Aufnahmeland (unter denen, die nach Kyjiw zurückkehrten, war dies der Beweggrund von 5 Prozent – selbst im Krieg konnte Kyjiw einigen Menschen bessere Arbeitsbedingungen bieten als die EU-Länder).

In der Zukunft könnten diese Faktoren noch stärker zum Tragen kommen. Es ist möglich, dass Ukrainer*innen die unzulänglichen Wohnbedingungen kurzfristig, aber nicht auf längere Sicht, in Kauf nehmen. Hinzukommt, dass die Sozialleistungen, die ukrainischen Geflüchteten in den ersten Wochen und Monaten zustanden, vielerorts drastisch gekürzt wurden, was das Überleben ohne Vollzeitanstellung erschwert.

In Frankreich zum Beispiel, einem der großzügigsten Länder, standen jedem Erwachsenen anfangs 420 Euro pro Monat an Sozialleistungen zu. Zudem erhielten sie unentgeltliche Zugfahrten und eine kostenlose Hotelunterbringung. Anfang Mai allerdings wurde die Gratisnutzung der Verkehrsmittel eingestellt, und man begann, in Hotels untergebrachten Menschen alternative Unterkünfte anzubieten (insgesamt drei an der Zahl). Die Wohnungen befanden sich oft in abgeschiedenen, ländlichen Regionen. Wurde allerdings auch das dritte Angebot abgelehnt, folgte kein Weiteres. Im Oktober wurden die französischen Sozialleistungen um die Hälfte gekürzt und die zweite Hälfte nur denen zugesprochen, die beweisen konnten, dass sie Miete zahlten. Zudem begrenzt Frankreich den Schutzstatus auf sechs Monate, und die erste Welle ukrainischer Geflüchteter musste bereits im September ihren Status erneuern.

Die Klassenfrage

Derartige Änderungen haben mindestens zwei unmittelbare Folgen. Erstens «sortieren» sie ukrainische Geflüchtete in mehr und minder «wünschenswerte» – sie unterstützen die weitere Integration jener, die erfolgreich Arbeit und Unterkunft gefunden haben, und schränken die Sozialleistungen an alle anderen ein. Sie forcieren somit die Rückkehr in die Ukraine. Zweitens erschweren sie die Lage für neu ankommende Ukrainer*innen, die oft einer vulnerableren Subkategorie angehören als die Geflüchteten der ersten Welle.

Studien zeigen, dass die ersten, die das Land verließen, meist über bessere wirtschaftliche Grundlagen verfügten und das soziale und kulturelle Kapital hatten, in Betracht zu ziehen, ins Ausland zu gehen. Die erste Migrationswelle hatte mit größerer Wahrscheinlichkeit finanzielle Rücklagen, mit denen sie ihre Grundbedürfnisse decken konnten, während ihr Antrag auf vorübergehenden Schutz bearbeitet wurde.

Laut einer UNHCR-Umfrage, an der 34.145 ukrainische Geflüchtete teilnahmen, hatten 12 Prozent der Befragten Verwandte in den Aufnahmeländern, 56 Prozent hatten bereits private Unterkünfte gefunden (obwohl 29 Prozent sich noch in Aufnahmezentren befanden, bei den neu ankommenden Ukrainer*innen sind es noch mehr). Sie besaßen mit größerer Wahrscheinlichkeit private Fahrzeuge (und konnten somit das Land in den ersten Kriegstagen verlassen) und einige hatten bereits vor ihrer Flucht persönliche oder berufliche Kontakte in den Aufnahmeländern, beherrschten mindestens eine Fremdsprache und verfügten über eine Hochschulbildung.

Einer Studie des Razumkov Centre zufolge war der Anteil an Führungskräfte (14 Prozent im Vergleich zu 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung) und Privatunternehmer*innen (14 Prozent im Vergleich zu 4 Prozent) unter den Geflüchteten höher. 12 Prozent gaben an, Facharbeiter*innen zu sein und wiederum 11 Prozent waren Hausfrauen. Die Menschen, die die Ukraine verließen, verfügten also oft über einen besseren sozio-ökonomischen Status als jene, die im Land blieben. Auch kamen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit aus urbanen Gegenden (neun von zehn Teilnehmer*innen der Razumkovstudie) und hatten einen Hochschulabschluss (86 Prozent hatten entweder ein Studium abgeschlossen oder studierten gerade).

Menschen, die sich erst später zur Ausreise entschlossen, sahen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit aufgrund der sich verschärfenden Sicherheitslage, des Verlusts oder der Beschädigung ihrer Wohnungen und anderer Schubfaktoren dazu gezwungen. Sogfaktoren in die EU spielten für sie also eine geringere Rolle.

Sorgen um die Sicherheit waren unter den wichtigsten Schubfaktoren aus der Ukraine, während die Lebensstandards einen Sogfaktor in die EU darstellten (vorübergehender Schutz und weitere Dienstleistungen). Allerdings lässt sich diese Dynamik auch leicht umkehren: Die Wahrnehmung einer verbesserten Sicherheitslage kann ein Sogfaktor in die Ukraine sein, während Schwierigkeiten bei der Sicherung angemessener Lebensstandards als Schubfaktor aus der EU und Sogfaktor in die Ukraine gelten.

Sogfaktoren in die EU haben für vulnerablere Gruppen, die besondere Unterstützung benötigen, wahrscheinlich ein größeres Gewicht: Die EU hat ein besseres Gesundheitssystem, Einrichtungen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen und bessere Versorgung für Menschen mit chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten wie zum Beispiel Krebs. Sogfaktoren in die EU können auch für junge Menschen, die keine Familie haben oder deren Familienmitglieder keiner Pflege bedürfen, von Vorrang sein (Studierende und Ledige). Sie sehen die finanzielle Unterstützung, die sie ihren Angehörigen in der Ukraine zukommen lassen, als wertvollen Beitrag und als Grund, in der EU zu bleiben («Ich kann zwar nicht bei meinen Eltern sein, dafür kann ich ihnen Geld schicken und auf diese Weise helfen»).

Des Weiteren ist die Entschlossenheit zu bleiben stärker, wenn die Familieneinheit nicht getrennt wurde. Wenn zum Beispiel der Vater sich seiner Frau und seinen Kindern in der EU anschließen konnte (bei Familien mit drei oder mehr Kindern oder Kindern mit Behinderungen oder wenn der Vater bereits vor Kriegsausbruch außerhalb des Landes war) oder in Fällen, in denen Großeltern bei ihren Kindern wohnen und im Haushalt wie auch bei der Kinderbetreuung aushelfen können.

Schubfaktoren in die Ukraine sind wiederum oft mit negativen Anfangserfahrungen verbunden: schleppende bürokratische Abläufe, Schwierigkeiten, eine Beschäftigung, eine Wohnung oder Kinderbetreuung zu finden. Ukrainische Geflüchtete finden nicht nur aufgrund der üblichen Hindernisse keine Anstellung – fehlende Sprachkenntnisse oder Nachweise für Qualifizierungen und Ausbildungen oder die Abneigung, «erniedrigende» Angebote anzunehmen (wie zum Beispiel Landarbeit für urbane Migrant*innen aus der Mittelschicht). In einigen Fällen ist es auch so, dass die Arbeitsaussichten in der Ukraine schlichtweg besser sind.

So hat die Razumkov Centre Umfrage auch ergeben, dass bis zu 60 Prozent der geflüchteten Ukrainer*innen mit ihren Mitteln gerade einmal Essen und einfache, billige Kleidung sowie Haushaltsgegenstände kaufen können, und weitere 12 Prozent haben Schwierigkeiten, ihre Existenz zu sichern, im Vergleich zu jeweils 11 und 2 Prozent in der Ukraine. 42 Prozent der Teilnehmer*innen hatten Probleme, eine Anstellung zu finden, 32 Prozent hatten Schwierigkeiten, eine Mietwohnung zu finden, weitere 21,5 Prozent haben keine Wohnung und 15 Prozent beschreiben ihre Wohnumstände als unangenehm.

Ihre Lage wird durch die Schwierigkeiten bei der Organisation von Kinderbetreuung noch verschärft: Manchmal hängt zum Beispiel der Platz im Kindergarten davon ab, ob die Mutter berufstätig ist, oder es ist eine Registrierung notwendig, um sich für einen Platz zu bewerben, oder die Arbeitsstunden stimmen nicht mit denen der Kinderbetreuung überein oder die Gebühren sind unerschwinglich (insbesondere bei Krippenplätzen ist dies oft der Fall). 14 Prozent der befragten Geflüchteten hatten Schwierigkeiten, einen Schulplatz für ihre Kinder zu finden, und 13,5 Prozent konnten sich kaum um Nachmittags- und Freizeitaktivitäten kümmern.

Nicht nur die Öffnungszeiten der Schulen und Kindergärten, sondern mitunter auch der Ämter, Läden und Apotheken überlappen sich oft mit den Arbeitszeiten. Das macht es den nun alleinerziehenden Müttern oft unmöglich, Haushaltsaufgaben zu verrichten, die Kinder zu betreuen und einer Lohnarbeit nachzugehen. Eine Studie mit Müttern von Kindern im Kindergartenalter ergab, dass der Mangel an Betreuungsoptionen das größte Hindernis für eine Beschäftigung darstellt. Zudem begrenzt er die Optionen bezüglich des Wohnortes und hat wahrscheinlich einige Menschen dazu gebracht, in die Ukraine zurückzukehren.

Geflüchtete sind in den Aufnahmeländern weniger gut vernetzt, während sie in der Ukraine auf Angehörige oder Freund*innen und Bekannte zählen können. Zudem spielen emotionale und psychologische Aspekte mit hinein: Sie sind mit der ukrainischen Bürokratie vertraut (sie fühlen sich dort «wie ein Fisch im Wasser»), während sie woanders alles neu lernen müssen, was sowohl zeit- als auch ressourcenzehrend ist (sie fühlen sich also «wie ein Fisch auf dem Trockenen»).

«Sobald der Krieg vorbei ist»

Wie bereits erwähnt, gab ein Großteil der ukrainischen Geflüchteten vorerst an, in die Heimat zurückkehren zu wollen: Aus einer 4Service Umfrage vom 28. März und 4. April 2022 ging hervor, dass mehr als zwei Drittel zurückkehren wollten, sobald es in ihrer Herkunftsregion wieder sicher (36 Prozent) oder «sobald der Krieg vorbei ist» (35 Prozent). Weitere 13 Prozent planten ihre Rückkehr innerhalb von ein bis zwei Jahren nach Kriegsende und 7 Prozent für den Fall, dass das Unternehmen, das sie früher beschäftigt hatte, seinen Betrieb wieder aufnahm oder sie Aussicht auf eine Festanstellung erhielten. An den zwei Extremen des Spektrums stehen 11 Prozent, die planten, in der nahen Zukunft zurückzukehren, und 7 Prozent, die keine Rückkehr in Betracht zogen. 

Die Umfrage ergab, dass 18 Prozent der Menschen, die bereits eine Festanstellung in der EU gefunden hatten, nicht vorhatten, zurückzukehren, obwohl diese Zahl sich in der Zukunft wahrscheinlich noch ändern wird. Mit der Zeit werden sich unter den ukrainischen Geflüchteten in der EU womöglich zwei unterschiedliche Pole formen. Auf der einen Seite stehen dann Menschen, die sich erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren konnten, eine private Wohnung gefunden haben, ihre Kinder in den örtlichen Schulen unterbringen konnten, und die auch nach Ablaufen des vorübergehenden Schutzstatus in der EU willkommen sein werden.

Schon heute konnte die 4Service Studie die höhere Anzahl einiger spezifischer Profile unter den Ukrainer*innen herauskristallisieren, die nicht vorhaben, zurückzukehren. Menschen, die eine definitive Auswanderung in die EU schon vor dem Krieg in Betracht gezogen hatten (54 Prozent), alleinstehende junge Menschen unter 35, die diese Entscheidung nur für sich getroffen haben (und nicht für einen gesamten Haushalt) und solche, die eine oder mehrere europäische Sprachen beherrschen (64 Prozent).

Ihnen gegenüber steht eine Gruppe von Geflüchteten, die sich in einer schwierigeren Lage befinden, weil sie nirgendwohin zurückkehren können. Sei es, weil ihre Häuser zerstört wurden, sie kaum Berufsaussichten oder Sozialversorgung in der Nachkriegsukraine erwarten können oder weil sie hilfsbedürftigen Gruppen angehören, altersgeschwächten Menschen etwa oder Menschen mit Behinderungen. Von den 81 Prozent der Teilnehmer*innen, die vor dem Krieg berufstätig waren, sind nur 11 Prozent zuversichtlich, dass sie ihre Arbeit wieder aufnehmen können, und 34 Prozent hoffen, dass dies möglich sein werde. Wiederum 12 Prozent hoffen, eine andere Anstellung zu finden, während 36 Prozent sich nicht sicher sind, überhaupt Arbeit finden zu können.

Auch in den Aufnahmekapazitäten der verschiedenen Ankunftsländer wird sich wahrscheinlich eine zunehmende Diskrepanz bemerkbar machen. Gebildetere Menschen der Mittelklasse werden weiter in den Westen in Länder mit besserer Versorgung migrieren. Dieser Trend zeichnet sich schon jetzt in der Migration von Polen nach Deutschland ab: Obwohl Polen aufgrund der geografischen und kulturellen Nähe vorerst einen Großteil der Geflüchteten aufnahm, stieg die Anzahl der Geflüchteten in Deutschland im Herbst auf 800.000 an. Ein Großteil dieser Menschen hatte sich vorerst in Polen niedergelassen und war erst später nach Deutschland gezogen, wo die soziale Versorgung besser war. Auch Bulgarien berichtete, dass fast eine halbe Millionen Ukrainer*innen in das Land gekommen waren, allerdings entschloss sich nur ein Zehntel dafür, dort einen vorübergehenden Schutzstatus zu beantragen, während 90 Prozent in andere Länder weiterzogen.

Es gibt eine Tendenz, für einige Monate auszuharren, um die Optionen der Weiterreise auszuloten: Facebook-Gruppen von ukrainischen Geflüchteten in Nachbarländern tauschen sich oft darüber aus, an welchen Standorten es die bessere Versorgung gibt oder wie die Situation für Geflüchtete etwa in Frankreich, Spanien, den Niederlanden aussieht. Im Vergleich zu jenen, die im ersten Aufnahmeland bleiben, sind solche, die sich zur Weiterreise entschließen, oft motivierter und fokussierter – sie haben Informationen darüber eingeholt, wo sie bessere Schutzbedingungen bekommen können, sie haben ein klareres Bild davon, wohin sie gehen und was sie dort erwartet.

Was die ukrainische Seite angeht, zeichneten sich die regionalen Unterschiede schon in den ersten Kriegstagen ab – diese werden sich mit der Zeit nur verschärfen. Die 4Service Umfrage ergab, dass eine*r von fünf Geflüchteten aus den westlichen Regionen plant, in der nahen Zukunft zurückzukehren, während dies nur für 6 Prozent der Geflüchteten aus den östlichen und südlichen Regionen der Fall ist – und selbst diese wollen in eine andere Region in der Ukraine ziehen.

Auch bezüglich der Bereitwilligkeit, den Krieg durch Verhandlungen und territoriale Zugeständnisse zu beenden, gibt es regionale Unterschiede: Auch wenn in östlichen und südlichen Regionen eine große Mehrheit der Meinung ist, dass die Ukraine sich weiterhin militärisch wehren solle, so liegt der Anteil dennoch um einiges unter dem nationalen Durchschnitt (69 im Vergleich zu 88 Prozent) und der Anteil derer, die Verhandlungen und einem Waffenstillstand zustimmen würden, ist höher (29 im Vergleich zu 8 Prozent). Die Schrecken des Krieges, die eine größere Anzahl der Bevölkerung dieser Regionen unmittelbar erfahren musste, führen zu zunehmend auseinandergehenden Wahrnehmungen vom Krieg.

Neue Spaltungen, neue Solidaritäten?  

Es ist klar, dass die unterschiedlichen Migrationsmuster und Optionen sowie die verschiedenen Ausgangspositionen neue Trennlinien unter den ukrainischen Geflüchteten ziehen werden. Auch die Schub- und Sogfaktoren wandeln sich: Hoffen die Menschen auf ein rasches Ende des Krieges, so betonen sie für gewöhnlich die positiven Aspekte der Rückkehr (Familienzusammenführung, den familiären, sozialen und kulturellen Kontext, langfristigere Wohnaussichten und in einigen Fällen auch eine Anstellung) und zugleich die negativen Erfahrungen im Ausland (wie die unzulängliche Sozialversorgung und der fremde gesellschaftliche und kulturelle Kontext). Lässt diese Hoffnung allerdings nach, ändern sich die Beweggründe der Geflüchteten. Die Klassenunterschiede zwischen der mobileren Mittelschicht, die mit einem größeren Selbstvertrauen ausgestattet ist, und vulnerableren Gruppen mit weniger Optionen können sich weiter verschärfen.

Soziolog*innen beobachten zudem unterschiedliche Einstellungen unter den Ukrainer*innen, die geblieben sind, gegenüber jenen, die flüchteten. Eine Stichprobe des KIIS vom September 2022 ergab, dass trotz der positiven Gesamteinstellung gegenüber ukrainischen Geflüchteten (90 Prozent der Teilnehmer*innen hatten Verständnis und nur 5 Prozent lehnten ihre Entscheidung ab) je nach Geschlecht und Familienstatus dennoch Unterschiede gemacht werden.

Mütter minderjähriger Kinder, deren Männer in der Ukraine geblieben sind, werden von 90 Prozent der Teilnehmer*innen unterstützt, während 5 % ihre Entscheidung verurteilten. Bei jungen, ledigen Frauen ohne Kinder sinkt diese Zahl auf 87 Prozent, und 9 Prozent lehnen die Fluchtentscheidung ab. Für männliche Senioren (etwa einen 72 Jahre alten Professor) sinkt das Verständnis noch weiter auf 83 Prozent und die Ablehnung steigt auf 10 Prozent. Erwartungsgemäß genießt ein «31-jähriger männlicher Arbeitsmigrant, der in Polen war, als der Krieg ausbrach, und dort geblieben ist», den geringsten Zuspruch (75 Prozent haben Verständnis, 19 Prozent verurteilen seine Entscheidung).

Die unterschiedlichen Erfahrungen, die verschiedene Migrant*innengruppen machen, und die verschiedenen Wahrnehmungen dieser Migrant*innen in der Ukraine könnten sich zu erheblichen Hürden entwickeln. Sie können den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg erschweren und die Entwicklung vereinender sozialer Narrative verhindern, die in der Lage wären, diese Spaltung zu überwinden und neue Solidaritäten zu formen.

Übersetzung von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective