Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Stadt / Kommune / Region - Commons / Soziale Infrastruktur - Feminismus für alle - Sorgende Stadt Die feministischen Städte

Ansätze der sozial-ökologischen Transformation durch eine feministische Stadtpolitik. Eine digitale Entdeckungsreise.

Information

Es gibt nicht nur eine feministische Stadt, sondern viele. Denn wenn Geschlechtergerechtigkeit als grundsätzliches Paradigma der Stadtentwicklung wirksam ist, ergibt sich daraus nicht einfach ein Plan für «die feministische Stadt» – sondern Fluchtpunkte für gerechte Städte der Gegenwart und Zukunft. Viele Städte und Stadtteile sind auf ihre eigene Art und Weise feministisch: ob es die Stadt der kurzen Wege ist, ein Markt der informellen Ökonomie, das Nachbarschaftszentrum im Zeichen der Stadtteilorganisierung oder der Kampf um bezahlbaren Wohnraum – all diese Kämpfe setzen an unterschiedlichen Ebenen an, und sind doch unter dem Begriff der feministischen Stadtpolitik zu fassen. Besonders dort, wo die Ebenen der Ungleichbehandlung sich überschneiden, also an den Intersektionen der Diskriminierung, können politische Kämpfe wirksam miteinander verbunden werden.

Eine interaktive Karte soll im Sinne der digitalen Grundlagenbildung diesen Intersektionen aufspüren und in der Bewegung durch die Stadt mögliche Ansatzpunkte vorstellen, die dem Transformationsprozess Anschub leisten können.

Ein Kurztrip durch die Stadt

Die feministische Stadtplanung möchte Städte für alle Geschlechter gerecht gestalten. Dabei stellt sich die Frage: Für wen wurden diese Räume gebaut? Welches Leben wird hier ermöglicht – und welches nicht? Erlebe mit dieser interaktiven Karte den Alltag von Bewohner*innen in verschiedenen Teilen einer Stadt, lerne ihre Geschichten und Probleme kennen und erfahre, wie man sich für den Umbau zu einer gerechteren Stadt organisieren kann.


Karte als Poster bestellen

Das Poster ist ein Begleitmaterial zu der interaktiven Karte «Feministische Städte» auf der Bildungsplattform L!NX der Rosa-Luxemburg-Stiftung.


Wie kann eine feministische Stadt aussehen?

Städte sind bekanntlich Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung: In der gebauten Umwelt gerinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse, sie sind buchstäblich in Stein gemeißelt. In der Betrachtung dieser Räume und anhand einer einfachen Fragestellung lässt sich daher einiges ablesen: Für wen wurden diese Räume geplant oder gebaut? Diese Frage gibt Aufschluss darüber, wer in diesen Räumen ein- und ausgeschlossen wird, und wer durch die Räume zur Handlung befähigt wird.

Die Disziplin der feministischen Stadtforschung sucht nach den Wechselwirkungen zwischen Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlichen Räumen.(vgl. Bauriedl & Strüver 2010) Die Stadt ist dabei nicht nur Schauplatz dieser Verhältnisse, sondern produziert und reproduziert diese mit. Die feministische Stadtforschung betrachtet auf der einen Seite die sozialen Prozesse und gesellschaftlichen Verhältnisse, und wie diese sich andererseits im Raum artikulieren. Dadurch kann die feministische Stadtforschung Rückschlüsse darüber anstellen, welche räumliche Ordnung gewisse Ungleichbehandlung verstetigt und welche Räume im Gegenzug die Entwicklung transformatorischer Ansätze und Beziehungsweisen begünstigen. (vgl. Massey 1994) Und nicht nur in der städtebaulichen Praxis, sondern auch in der Planungstheorie stellen feministische Ansätze den Androzentrismus der Disziplin in Frage, also die Ausrichtung der Planung anhand einer idealtypischen Figur des weißen, heterosexuellen cis-Mannes in Vollbeschäftigung. (vgl. Bauriedl 2013)

Das Projekt «Feministische Städte» sucht diese Leerstellen der gendersensiblen Analyse und gendergerechten Planung und erschafft an diesen Stellen digitale Lernräume. Die Lernräume folgen einer einfachen Frage: Welche Intersektionen und Schnittstellen werden sichtbar, wenn wir die Analyse stadtpolitischer Konflikte wie Touristifizierung, Klimakrise oder Wohnungsnot durch eine feministische Perspektive ergänzen?

Stadtpolitik aus intersektionaler Perspektive

Eine interaktive Stadtkarte bildet drei Stadtteile ab die lose miteinander verbunden sind. Jeder dieser Stadtteile steht stellvertretend für Schnittstellen bestimmter Diskriminierungsebenen, die anhand von Protagonist*innen und ihrer Erfahrung des Stadtraumes verbildlicht werden. Die drei Stadtteile sind drei realen Fallbeispielen und damit drei unterschiedlichen Kontexten der Stadtentwicklung nachempfunden.

Ein Stadtteil stellt die fordistische Stadtentwicklung dar (vgl. Mayer 2014): Industriell hergestellte Baustoffe prägten besonders in den 60er und 70er Jahren das Bild neuer Stadtquartiere. Auf diese Weise entstanden oft Großwohnsiedlungen am Rand der Stadt und boten seinerzeit das Versprechen auf ein komfortables Leben für alle. Doch dieses Leitbild ging mit einer funktionalen Trennung der Stadtteile einher: Gewerbe und Wohnen wurden voneinander getrennt und in unterschiedliche Stadtteile verlagert. So verlängerten sich etwa Arbeitswege oder Wege zur urbaner Infrastruktur, und auch der Verkehr wurde vom öffentlichen Nahverkehr auf den PKW verlagert. Aufgrund der funktionalen Trennung fehlte oft Infrastruktur in den Großwohnsiedlungen, sodass die Sorge um sich und andere Menschen, wie Kinder oder Pflegebedürftige, außerhalb des eigenen Haushalts zum zeitraubenden Kraftakt wird. Auch an kollektiven Räumen des Austausches und der Organisierung mangelt es klassischerweise in den Großwohnsiedlungen, die von Plattenbau und Ladenzeilen im Erdgeschoss geprägt sind. In diesem Szenario folgen die Lernenden einer Person, die offensichtlich mehrfach belastet ist: durch Sorgearbeit für ihr eigenes Kind und eine benachbarte Person, durch die langen Wege zur Kita, zum Supermarkt und zur Arbeit, durch die steigenden Mieten und dem geringen Einkommen als alleinerziehende Person, durch die mangelhafte Verkehrsanbindung. Die verschiedenen Aspekte werden in der Bewegung der Person durch die Karte, also durch den Raum dargestellt. Neben den Ebenen der Diskriminierung werden aber auch Momente der politischen Handlungsfähigkeit und Transformation angeboten. Die Szenarien sind dabei nicht auserzählt und bieten Anknüpfungspunkte für weitreichende Transformationsansätze.

Ein weiteres Szenario greift die rasante Urbanisierung auf, die beispielsweise Städte wie Istanbul oder Rio de Janeiro erfahren haben. In diesen Regionen entstehen aufgrund des Tempos der Urbanisierung oft informelle Siedlungen, häufig in entlegenen oder nur schwer bebaubaren Gebieten am Rand der Stadt. Die Siedlungen bestehen kurz nach ihrem Entstehen aus Notfallbehausungen, die häufig mit gefundenen Materialien erbaut werden. Dennoch bleiben viele Siedlungen über Jahrzehnte; sie wachsen und verstetigen sich. Die Anbindung an Infrastruktur wie Zu- und Abwasser, Energie und Verkehr wird notgedrungen selbst organisiert, indem zum Beispiel Strommasten unter Lebensgefahr abgeleitet werden. (vgl. Roy 2011) Zusätzlich sind Menschen in Regionen mit starken Erdbeben, oder durch die Klimakrise vermehrtem Starkregen und damit einhergehenden Landrutschen, Überschwemmungen, sowie Hitzewellen den Folgen durch prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse besonders stark ausgesetzt (vgl. Voigt & Williams 2022). Eine feministische Perspektive fordert nicht nur die Garantie des Bodennutzungsrechts, sondern auch den Ausbau der kommunalen Infrastruktur und eine Anpassung an Klimafolgen. Der erschwerte Zugang zu Frischwasser und Strom und die fehlende oder prekäre Anbindung zum öffentlichen Nahverkehr machen die tägliche Sorgearbeit zur Herausforderung. Die zeitintensive Arbeit lässt kaum Raum für Bildung, für formelle Erwerbsarbeit oder für Organisierung. Und dennoch sind es eben diese Personen, die viel Zeit in den Siedlungen verbringen und ihre Bewohner*innen am besten kennen. Sie können daher auch die treibenden Kräfte darin sein, die Organisierung im Stadtteil zu fördern.

Eine weitere Intersektion, die anhand der Fallbeispiele erkennbar werden soll, sind lokale Auswirkungen des internationalen Tourismus. Weltweit wehren sich Stadtregierungen und Einwohner*innen gegen den Ausverkauf ihrer Wohnräume an Anbieter*innen von Ferienwohnungen und Investor*innen, und auch gegen die Aneignung ihres Lebensraums als Erlebniswelt für Tourist*innen. Mit dem Begriff der «Disneyfication» wird eine extreme Form der Touristifizierung bezeichnet, die das kulturelle und kulinarische Angebot homogenisiert und an die kaufkräftigsten Tourist*innengruppen anpasst (vgl. Warren 1994). Touristifizierung geht stark mit Verdrängung einher und macht die Stadt zur Ware. Städte werden also nicht mehr im Interesse der Einwohner*innen verwaltet und gestaltet, sondern sollen Investor*innen und Unternehmer*innen anziehen (vgl. Häußermann & Siebel 1987). Der feministische Zugang lässt sich anhand der Verdrängungsmechanismen festhalten: So werden lokale Händler*innen und informelle Ökonomien durch multinationale Ketten verdrängt und der Wohnraum durch lukrative Kurzzeitvermietung zweckentfremdet. All diese Sektoren setzen auf prekäre und oft geschlechtlich ungleich verteilte Arbeit und bieten für die lokale Bevölkerung oft die einzige Möglichkeit auf Einkommen.

Kreative Ansätze in der digitalen, politischen Bildung

Mit einer interaktiven Kartierung dieser Räume tritt das Projekt selbst in die Tradition kritischer Stadtforschung. Durch die Verbildlichung auf der Karte werden Konflikte und Transformationsansätze lokalisiert, und durch die interaktive Bewegung durch die Karte werden diese abstrakten Räume erlebbar. Der Raum wird damit nicht als feste und konstante Größe in der Erzählung verstanden, sondern ist stets im Begriff, sich zu verändern. Hierin bietet das Format Anknüpfungspunkte für weitere Transformationsperspektiven aber auch Zuspitzungen der Verhältnisse.

Das Format der interaktiven Karte kann verschiedene Ansätze einer feministischen Stadt vermitteln und gleichzeitig Analyseprozesse anregen. Die drei Etappen: Ausgangslage, Zuspitzung und Transformationsansätze sollen Probleme, Entwicklungen und Handlungsoptionen porträtieren. Sie zeigen exemplarisch – und daher nicht vollständig –, wie wir handeln können, um den Raum, den wir kollektiv bewohnen, gerechter zu machen und für ein Recht auf Stadt für alle zu kämpfen. In der Bewegung durch die Stadt und dem Entdecken entstehen verschiedene Szenarien und fordern so einen selbstständigen Reflexionsprozess heraus. Mit dem spielerischen Ansatz im digitalen Raum erreichen wir ein breites Publikum, das dazu angeregt werden soll, auch den eigenen Wohn- und Lebenskontext in Frage zu stellen und große oder kleine Transformationsprozesse im eigenen Umfeld anzustoßen.

Literatur

Bauriedl, Sybille (2013): Androzentrische Leerstellen der Stadtforschung. Geschlechtliche Arbeitsteilung, heteronormative Geschlechterkonstruktion und deren sozialräumliche Organisation. Kommentar zu Hartmut Häußermann & Walter Siebels „Thesen zur Soziologie der Stadt“. In: sub\urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung, 1/1, 119-123.

Bauriedl, Sybille, Schier, Michaela & Strüver, Anke (Hrsg.) (2010): Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen. Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn (Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 27). Münster: Westfälisches Dampfboot.

Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter (1987): Neue Urbanität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Mayer, Margit (1994): Post-Fordist City Politics. In: Amin, Ash (Hrsg.): Post-Fordism. A Reader. Oxford: 316-337.

Massey, Doreen (1994): Space, place, and gender. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Roy, Ananya (2005): Urban informality. Toward an epistemology of planning. In: Journal of the American Planning Association 71/2, 147-158.

Roy, Ananya (2011): Slumdog cities: rethinking subaltern urbanism. In: International Journal of Urban and Regional Research 35/2, 223-238.

Voigt, Katja; Williams, David Samuel (2022): Klima der Ungerechtigkeit. In: Luxemburg 2022/2, 6-11.

Warren, Stacy (1994): Disneyfication of the Metropolis: Popular Resistance in Seattle. In: Journal of Urban Affairs, 16/2, 89-107.