„Arbeitet nie!» - eine zentrale Aussage der Situationistischen Internationale(S.I.) gibt hier in mehrfacher Hinsicht einen idealen Buchtitel ab. Die S.I. war schließlich ein wesentlicher Impuls für den Anfang der 1970er Jahre gegründeten MAD-Verlag in Hamburg, der sich dann, nachdem das gleichnamige Satiremagazin eine Klage anstrengte, in Edition Nautilusumbenannte. Die S.I., das waren u.a. Guy Debord, Raoul Vaneigem und Asger Jorn, deren Bücher dann auch in dem noch jungen Verlag erschienen – und zum Teil bis heute erscheinen. Die MAD-Anekdote ist übrigens nicht der letzte Prozess, dem der Verlag ausgesetzt war. Langjähriger Verlagsanwalt war Albrecht Götz von Olenhusen, der in jenem Monat starb, in dem auch dieses Buchmanuskript abgeschlossen wurde.
«Arbeitet nie!» verweist zugleich auf den keineswegs nur auf die S.I. beschränkten anarchistischen Entstehungskontext des Verlages. Dieses anarchistische Milieu, aus dem heraus schließlich der Verlag entstand, scheint höchst fruchtbar gewesen zu sein und ging dabei von Beginn an deutlich über den klassischen Anarchismus hinaus. Ein Glücksgriff war dabei auch die frühe Freundschaft zu Pierre Gallissaires, zu dessen Tod im Jahr 2020 Hanna Mittelstädt im «Börsenblatt des deutschen Buchhandels» einen persönlichen Nachruf schrieb (der auch, ohne Hinweis darauf, in dieses Buch teils wortwörtlich eingeflossen ist). Der äußerlich – im Vergleich etwa zu Nautilus-Mitgründer Lutz Schulenburg – eher unscheinbare Pierre war äußerst belesen. Er hatte umfassende Kenntnis diverser künstlerischer Bewegungen und übersetzte die literarische Avantgarde ebenso wie anarchistische Klassiker ins Französische, von Oskar Panizza bis Max Stirner, wie er umgekehrt die rebellischen Traditionen Frankreichs in Deutschland vermittelte. Hier war ein regelrechtes libertäres Trüffelschwein auf nicht endender Entdeckungstour – womit Gallissaires eine kongeniale Ergänzung zur 1951 geborenen Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg war, ein ideales Verlagsgründungs-Trio.
«Arbeitet nie!» ist andererseits eine Provokation mit einer gehörigen selbstironischen Note. Denn in weiten Phasen der Verlagsgeschichte war die Edition Nautilus, zumal die persönlich-politische Liaison von Hanna und Lutz, vor allem auch eine untrennbare Verbindung von Verlagsarbeit, politischer Arbeit und Alltagsleben. Das Spannungsfeld eines – vom Anspruch her – Kollektivs, das formal in der Hand von Lutz Schulenburg lag und inhaltlich-ideell vom Zweiergespann Mittelstädt/Schulenburg geprägt war, wird hier nicht weiter skizziert. Was bewog die anderen im Nautilus-Team, der Arbeitsbelastung standzuhalten? Edition Nautilus, das war zumindest für Mittelstädt/Schulenburg auch die Suche nach nicht-entfremdeter Arbeit, nach den Möglichkeiten literarischer Intervention. In langen Jahren der Verlagstätigkeit erfüllte der Lebens- und Arbeitsalltag die Grundlagen dessen, was man später dann Selbstausbeutung nannte. Aber es fühlte sich wohl nicht so an, denn man wusste, warum man tat, was man tat: «Es ging um einen zu gewinnenden Reichtum an Lust, Wissen, Autonomie» (S.6). Eben, wie es im Buchuntertitel heißt, um die Erfindung eines anderen Lebens.
Freilich zeigte sich in den kommenden Verlagsjahren, wie sich das Programm aufgrund der ökonomischen Spielregeln im schließlich noch immer existenten Kapitalismus verändern musste, um den Verlag am Leben zu halten. Trivial wurde das Verlagssortiment dabei nie, vielleicht vom ersten Bestseller des Verlages, «Dinner for one», abgesehen. Hanna Mittelstädt geht recht ausführlich auf die Erweiterungen und Entwicklungen des Verlages ein. Nie war die Edition Nautilus ein rein anarchistischer Verlag, doch bei allen neu hinzukommenden Reihen und Projekten war die libertäre Verankerung doch immer wieder spürbar. Das Buch ist dabei keine Chronik in dem Sinne, dass das Buch stringent einem chronologischen Aufbau folgen würde. Die Anordnung folgt eher thematischen Bezügen. Neben dem Anarchismus ist vor allem Franz Jungzu nennen, der Rätekommunist und Schiffsentführer, der geradezu programmatisch für ein Verlagsprogramm steht, in dem sich libertäre Grundstrukturen mit Büchern mit Büchern wie dem «Todestrieb» von Jacques Mesrineund den Werken des «Boxer-Poeten» Arthur Cravanverbindet. Allein schon die ökonomisch waghalsige Jung-Werkausgabe ist ein wahres Verlagsdenkmal. Sie zeigt, dass bei der Edition Nautilus das Büchermachen eine Leidenschaft war, die bisweilen die wirtschaftliche Vernunft in die zweite Reihe treten ließ. Damit dies so lange gut ging, waren verlagsinterne Quersubventionierungen nötig. «Der rote Kanal» des stalinistischen Journalisten Karl-Eduard von Schnitzler– im Verlagsprogramm doch ein stark irritierender Titel – ermöglichte so ausgerechnet die Herausgabe des voluminösen Werkes über den Anarchisten Durrutivon Abel Paz(S. 287).
«Arbeitet nie!», das bedeutet wohl auch die Aufhebung der Trennung von Privat- und Arbeitsleben. Die Arbeits- und Wohnverhältnisse waren in den ersten Jahren oft reichlich beengt, und was bedeutet schon ein «Feierabend», wenn man die Freude am situationistischen «großen Spiel» kultiviert? Hanna Mittelstädt schildert immer wieder, mit welcher Lust namentlich ihr Lebensgefährte dieses Spiel betrieb. Und sie zitiert ausgiebig aus Briefen von Lutz Schulenburg – auch einigen anderen -, die den Spaß dieses Menschen, der nach klassischen Schulmaßstäben als Legastheniker abgestempelt war, an geschliffener Rhetorik, witzigen Pointen, originellen Wendungen, Gedanken und Wortspielen offenbaren. Unwillkürlich fragt man sich: woher nahm er sich eigentlich die Zeit, neben dem Verlagsalltag diese ganzen wunderbaren Briefe zu schreiben? Nicht zuletzt durch diese Briefe lernen wir das feingesponnene, sich im Laufe der Verlagsgeschichte immer wieder einmal neu strukturierende (aber auch von beachtlichen Konstanten begleitete) Netz um den Verlag herum kennen: Uli Becker, Thorwald Proll, Frank Witzel, Anna Rheinsberg, die Verbindung zu den mexikanischen Zapatistas seit dem am 1. Januar 1994 begonnenen Aufstand in Mexiko1.
«Arbeitet nie!» muss die Lesenden freilich mit reichlich nostalgischen Gefühlen zurücklassen. Die subrealistische Bewegungrund um den Verlag, die das situationistische Erbe fortzusetzen versuchte, ist längst Geschichte. Und die Buchbranche – insbesondere deren linker Flügel - hat sich in den letzten Jahrzehnten verheerend entwickelt. Das umfassende Spektrum linker und anarchistischer Verlage und Buchläden, das von den Raubdruck-Anfängen der Endsechziger bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre hineinreichte, wird von Mittelstädt (hier) nur peripher angedeutet. Hanna Mittelstädt fokussiert sich konsequent auf den Verlag, an dessen Praxis sie selbst einen gewichtigen Anteil hat. Doch wenn auch dieser Niedergang nicht so sehr Thema ist, so ist schon an der geschilderten Verlagsentwicklung deutlich, wie sich die Zeiten änderten und wie die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen schwieriger wurden. Der Verlag kann dies zum Teil dadurch ausgleichen, dass sich im Laufe der Jahre die Verbindungen zum Kultur-Establishment verbessern. Dies bringt eine gute Beachtung auch in bürgerlichen Medien, viele positive Rezensionen, Lesungen, Verbindungen zum Theater.
Nach dem Ausstieg von Hanna Mittelstädt aus dem Verlag im Jahr 2018 ist nun ein Generationenwechsel vollendet. Die Autorin geht nur am Rande darauf ein, wenn sie etwa anmerkt darauf hinweist, dass eine Neuausgabe der Durruti-Biographie von Abel Paz nun nicht mehr bei der Edition Nautilus erscheint. Die schillernde Zeitschrift «Die Aktion», mit der sich Herausgeber Lutz Schulenburg auf die (gleichnamige) expressionistische Zeitschrift von Franz Pfemfertbezog, und die ab 1981 in der Edition Nautilus erschien, wurde bereits mit dem frühen Tod Schulenburgs am 1. Mai 2013 eingestellt. In ihrer Post-Verlagszeit nutzt die Nautilus-Mitgründerin zunehmend das Theater, inszenierte eine Franz Jung-Revue im Berliner «Hebbel am Ufer». Die erste Lesung von „Arbeitet nie!» fand denn auch im «Thalia-Theater» in Hamburg statt.
Das Buch zeugt auf beeindruckende Weise von der Kraft der Verweigerung, von der Suche nach Utopien, nicht zuletzt von einem immensen Wissensdurst, der sich nicht mit vorgefertigten Antworten zufrieden gibt. Das Buch zeugt von der Suche nach anderen Lebens- und Arbeitsformen, und zwar nicht erst in ferner Zukunft. Sondern jetzt und sofort. Auch wenn heute die Existenzbedingungen für engagierte kleine Verlage ungleich schwerer geworden sind – dies wäre Stoff für ein eigenes Buch -, so sind diese sehr persönlichen Schilderungen nicht nur jenen an die Hand zu legen, die das Verlegerpaar kennengelernt haben, und nicht nur (aber auch!) Menschen aus der gegenwärtigen Medienlandschaft. Heute scheint eine Utopie ferner denn je, wir haben gesehen – und sehen es immer noch -, wie sich Menschen, von Angst regiert, in Pandemien und Kriegen geradezu lehrbuchhaft beherrschen lassen, ja, selbst herrschaftsförmiges Verhalten annehmen. «Unvorstellbar, Lutz im Lockdown» (S. 345).
Dieses Buch zeugt von einer anderen Zeit, aber es zeigt eben auch: eine andere Welt, eine andere Gegenwart, ist möglich. Und nötig in einer Zeit, da nur reichlich weltfremde Menschen glauben können, dass die Welt, wenn es so weitergeht wie derzeit, noch eine Zukunft hat. „Nicht neuer Kontinente bedarf es, sondern neuer Menschen», so hieß es mal auf einer Nautilus-Werbepostkarte. Vielleicht nicht einmal neuer Menschen, sondern einfach nur Menschen, die wieder ihre Geschichte selbst schreiben wollen. In diesem Sinn ist diese Verlagserzählung ein anspornendes, befreiendes Leseerlebnis. Denn exemplarisch geht es hier eben um nicht weniger als die Erfindung eines anderen Lebens, das Aneignung und Autonomie, Politik und Kunst, Lust und Begehren verbindet.
Gerald Grüneklee
1 Ab 1995 erschien in der Edition Nautilus das Zirkular Land und Freiheit(Untertitel: Sonderblätter der Zeitschrift Die Aktion zur Solidarität mit den Aufständigen in Chiapas), das sich der Information über die und der Solidarität mit der EZLN verschrieb.
Hanna Mittelstädt: Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens; Verlag Edition Nautilus, Hamburg 2023, 360 Seiten, 28 Euro