Dokumentation Der Krieg gegen die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarländer

Buchvorstellung mit Holger Politt

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Holger Politt (r.) im Gespräch zu seinem Buch "Ein Krieg, der keiner sein sollte..."

Das kürzlich erschienene Buch „Ein Krieg der keiner sein sollte. Russlands Überfall auf die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn“ von Holger Politt und Krzysztof Pilawski stand im Mittelpunkt der Veranstaltung, die am 22. Februar in der Geschäftsstelle der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg stattfand und verschiedene Perspektiven auf die Vorgeschichte des Krieges gegen die Ukraine eröffnete.

Holger Politt, ehem. Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau und Co-Autor, führte zunächst in das Buch ein. Er verwies darauf, dass die beiden Autoren nicht den tatsächlichen Krieg beschreiben wollten, auch nicht die Absicht gehabt hatten, über die Ukraine als solche zu schreiben. Für beide sei im Sommer 2022 entscheidender gewesen, dass hinter dem weitgehend einheitlichen Vorgehen der westlichen Seite (EU, Nato) gegen den russischen Angriffskrieg die entschiedene Haltung jener Länder eine wesentliche Rolle gespielt habe, die unmittelbar an Russland und im Falle Polens an die Ukraine grenzen. Der große geographische Zwischenraum, der Berlin von Moskau trenne, habe mit dem Kriegsausbruch an politischer Bedeutung gewonnen, von dort werde auch deshalb so ablehnend auf das Vorgehen Russlands geschaut, weil sofort Gespenster der Vergangenheit geweckt worden seien.

Politt stellte zwei grundlegende Fragen in den Raum, die je nach dem Grad ihrer Beantwortung zu weiteren Konsequenzen führten, auch die Wahrnehmung des russischen Angriffskriegs im starken Maße beeinflussten. „Wie halten wir es mit der Ukraine?“ fragte der Autor in den Saal. Wer zur nationalen Souveränität und territorialen Integrität des 1991 unabhängig gewordenen Landes stünde, müsse auch die Verteidigung der Ukraine gegen den Angreifer weitgehend unterstützen, im Grunde mit allen und auch weitgehenden Konsequenzen. Würden indes Abstufungen oder Abschwächungen hinzugesetzt, kämen natürlich andere Sichtweisen heraus. So, wenn betont würde, dass es sich um eine ehemalige Sowjetrepublik handele, weshalb sich nun einmal besondere Rücksichten auf die Sicherheitsinteressen Russlands erforderlich machten, die in keinem Fall verletzt werden dürften. Ganz unten in dieser Stufenleiter stünden dann die geschichtspolitischen Vorträge des russischen Präidenten, wonach es eine selbständige und unabhängige Ukraine gar nicht geben dürfte.

Die andere Frage zielt auf das Verständnis der Vorgänge in den weit zurückliegenden Jahren 1991/92: „Wie halten wir es mit dem Zerfall der Sowjetunion?“ Politt verwies auf die von Krzysztof Pilawski geschriebenen Teile im Buch, denn der sei ausführlicher auf diesen Zerfallsprozess eingegangen, wobei die Erfahrungen als Moskauer Korrespondent einer polnischen Tageszeitung genutzt worden seien. Der entscheidende Punkt, so stellte Politt jetzt noch einmal heraus, sei das Verhalten an der Spitze der Russischen Föderation gewesen, weil im Laufe des unruhigen und stürmischen Jahres 1991 dort entschieden worden sei, auf die Sowjetunion zu verzichten, Gorbatschows Pläne einer erneuerten Union zu ignorieren und auf dem Kreml statt der Sowjetfahne das russische Fahnentuch zu hissen. Und damals, so Politt, habe niemand unter der politischen Elite Russlands von einer geopolitischen Katastrophe gesprochen, habe niemand Grenzveränderungen verlangt, sondern andersherum: einvernehmlich seien die bisherigen Grenzen der Unionsrepubliken als Grenzen der nun unabhängigen Staaten akzeptiert worden. Wenn nun aber Wladimir Putin in späteren Jahren das Auseinanderbrechen der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts herausstelle, dann habe das doch Gründe, die auf eine wohl weitgehend verfehlte Ukraine-Politik Moskaus zurückwiesen.

Die von Holger Politt in den Raum gestellten Fragen führten zu Debattenbeiträgen, in denen sich die Komplexität der Verhältnisse widerspiegelte. In der Diskussion wurde von Raimund Krämer, langjähriger Chefredakteur von WeltTrends, eingeworfen, dass der Zerfallsprozess großer Imperien oft genug ein längerer sei, auch zu späteren Kriegen führen könne, wie etwa an den Entwicklungen in Lateinamerika im 19. Jahrhundert sehr gut beobachtet werden könne. Und Gabi Zimmer, langjährige Vorsitzende der Konföderalen Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament, kam noch einmal auf Politts These zu sprechen, wonach insbesondere der erfolgreiche EU-Beitrittsprozess Polens von besonderer Sogwirkung für die EU-Orientierung in der Ukraine sei. Die EU, so Gabi Zimmer, habe versagt darin, die besondere Mittlerrolle der direkt an Russland grenzenden Länder zu stärken, sondern habe stattdessen an diesen Ländern im Kräftemessen mit Russland gezerrt. Kerstin Kaiser, bis vor Kurzem Büroleiterin der RLS  in Moskau, betonte die Versäumnisse in der Minderheitenpolitik, die in den östlichen Ländern Europas besonderen Sprengstoff berge. Hier habe die EU einfach nicht genügend hingeschaut und die Eskalationsgefahren nicht im Blick gehabt. Grundlegend wurde die Fokussierung auf die Frage von Grenzverläufen und -verschiebungen kritisiert. Mehr die Menschen mit ihren Bedürfnissen in den Blick zu nehmen - unabhängig von nationalstaatlichen Zugehörigkeiten – wurde als zentrale Forderung aus dem Publikum formuliert. Über Waffenlieferungen wurde an diesem Abend nicht geredet. Aber die Frage, wie denn im Sinne aller leidtragenden Menschen ein schneller Frieden möglich sei, beschäftigte viele der Anwesenden.


Krzysztof Pilawski/Holger Politt:
Ein Krieg, der keiner sein sollte. Russlands Überfall auf die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn

VSA: Verlag Hamburg 2022
172 Seiten

Zur Verlagsseite: https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/ein-krieg-der-keiner-sein-sollte/