Analyse | Arbeit / Gewerkschaften - Gewerkschaftliche Kämpfe Zusammen geht mehr

Neue Streikbereitschaft und Bündnisoptionen in Deutschland

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Autorin

Fanny Zeise,

Stillstand am Flughafen Köln/Bonn: Wegen der angekündigten ver.di-Warnstreiks fallen über 130 Flüge aus. Deutschlandweit hatten die Gewerkschaften ver.di und EVG zu einem großem Streik am 27. März 2023.
Stillstand am Flughafen Köln/Bonn: Wegen der angekündigten ver.di-Warnstreiks fallen über 130 Flüge aus. Deutschlandweit hatten die Gewerkschaften ver.di und EVG zu einem großem Streik am 27. März 2023. Foto: IMAGO / Panama Pictures

In den ersten Monaten des Jahres 2023 überraschten die Gewerkschaften mit dynamischen Warnstreiks und Aktionen. Schon im Herbst hatten zweistellige Tarifforderungen bei der Post AG (15 Prozent), für die knapp 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen (10,5 Prozent bzw. mindestens 500 Euro) und für die DB AG und den sonstigen Schienenpersonenverkehr (12 Prozent bzw. mindestens 650 Euro) für Aufmerksamkeit gesorgt. Die damit angestrebte Reallohnsicherung sowie der Mindestbetrag angesichts der Inflation – die auf Grund der besonders hohen Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs überproportional Menschen mit geringen Einkommen trifft – scheint den Erwartungen der Beschäftigten entsprochen zu haben. Gleichzeitig sind sie sich ihrer Marktmacht angesichts des Fachkräftemangels bewusst.[1]

Fanny Zeise ist Referentin für Arbeit, Produktion, Gewerkschaften im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Während bei der Deutschen Post die Warnstreikbeteiligung ebenso wie die in der Urabstimmung zum Ausdruck gekommene Streikbereitschaft sehr hoch waren und seit Anfang März ein Abschluss vorliegt, war zunächst unklar, ob die Gewerkschaften in den öffentlichen Bereichen in der Lage sind, die Anliegen der Beschäftigten in Aktionsbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit zu transformieren. Denn gerade im öffentlichen Dienst sind die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich geschwächt worden.

Angriffe auf das Öffentliche

Seit den 1990er Jahren privatisierten und liberalisierten diverse Bundesregierungen den öffentlichen Bereich und setzten den mit EU-Austeritätsregeln und Schuldenbremse künstlich geschaffenen Sparzwang über Personalabbau, Arbeitsverdichtung, prekäre Beschäftigung, sinkende Einkommen und die Schwächung der Gewerkschaften durch. Die Deutsche Bahn blieb zwar im Eigentum des Staates, wurde aber 1994 in ein Wirtschaftsunternehmen privatrechtlicher Form überführt. Seit der Bahnreform 1996 wird der ebenfalls von der EVG vertretene Schienenpersonenverkehr zu einem relevanten Anteil von privaten Anbietern übernommen. Ähnlich sieht es in den von ver.di organisierten Bereichen aus. Über Privatisierungen im Nahverkehr oder der Müllentsorgung wurden traditionell streikstarke Beschäftigtengruppen aus dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes herausgebrochen. Die verbliebenen Bereiche wurden in den 2000er Jahren zudem in einen Tarifvertrag für die Landesbeschäftigten (TV-L) und einen Tarifvertrag für die Beschäftigten von Bund und Kommunen (TVöD) gespalten und die Durchsetzungsperspektive entsprechend geschwächt.

Während die EVG (bzw. ihre Vorgängerin Transnet) phasenweise sogar für die Privatisierung der Deutschen Bahn eintrat, sind viele Belegschaften im dem großen und diversen Tarifbereich des öffentlichen Dienstes wegen der kontinuierlichen Verschlechterungen demoralisiert. So kam es seit 1992 trotz aller Angriffe der Arbeitgeber auch nie wieder zu einem Vollstreik im öffentlichen Dienst.

Revitalisierung der Gewerkschaften?

Angesichts dieser Situation zeigen beide Gewerkschaften in jüngster Zeit deutliche Anstrengungen, ihre Durchsetzungsfähigkeit zu erhöhen. So hat in der EVG nach der letzten Tarifrunde in der Corona-Pandemie ein Generationswechsel stattgefunden. In dem Bewusstsein, den 2021 geleisteten Verzicht wieder aufholen zu müssen, kündigte die neue Führung schon früh eine offensive Tarifauseinandersetzung und strukturelle Veränderungen an. Mit dem Ziel einheitliche Standards zu setzen verhandelt sie nicht nur für die rund 180.000 Beschäftigten der Deutsche Bahn AG, sondern parallel auch für zehntausende Beschäftigte bei 50 Privatbahnen.

Alarmiert durch die Blockade der Arbeitgeber in der TVöD-Runde 2020 gegenüber den Beschäftigten, die in der Corona-Krise oft in erster Front standen, setzte ver.di schon 2020 mit Organizing-Elementen wie Ansprache-Trainings, Tarifbotschafter*innen, Arbeitsstreiks, Stärketests und Videokonferenzen nach den Verhandlungsrunden auf gezielten Machtaufbau.

Noch vor der ersten Verhandlungsrunde startete ver.di 2023 mit ungewöhnlich vielen und großen Warnstreiks, an denen sich 500.000 Mitglieder beteiligten, in die Tarifauseinandersetzung. Um die eigene Stärke zu testen und zu demonstrieren, wurden über 340.000 Unterschriften für die Durchsetzung der Tarifforderung in Betrieben und Einrichtungen gesammelt. Flächendeckend fanden Arbeitsstreiks – also Streiks, bei denen einige aktive Beschäftigte in den Streik treten, um in der gewonnenen Zeit den Streik im Betrieb zu planen – statt. Sicher auch in Folge dieser Herangehensweise konnte ver.di 70.000 Eintritte in den ersten drei Monaten des Jahres 2023[2] verkünden – so viele wie nie seit der ver.di-Gründung.

Gleichzeitig realisierten ver.di und EVG eine alte Forderung linker Gewerkschafter*innen, indem sie einen gemeinsamen Warnstreiktag verabredeten, der als «Mega-Streik» am 27. März enorme öffentliche Aufmerksamkeit erzielte. Sie legten dabei den öffentlichen Personenverkehr, sowie Teile der Flughäfen, Häfen und der Binnenschifffahrt lahm und konnten so auch Druck auf die Privatwirtschaft ausüben.

Schon am 3. März hatte ver.di mit einem Streiktag der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr auf dessen Bedeutung für den Klimaschutz hingewiesen. Mit der Teilnahme der warnstreikenden Busfahrer*innen am Klimastreik von Fridays for Future wurde die schon 2020 begonnene Kooperation zwischen Gewerkschafts- und Klimabewegung gefestigt und ein erster Schritt vom symbolischen zum ökonomischen Klima-Streik gegangen. Auch am Frauentag am 8. März suchte ver.di die Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Bündnispartner*innen, rief in vielen Regionen Erzieher*innen zum Streik auf und machte – auf gemeinsamen Demonstrationen mit lokalen Frauen*streikbündnissen – die Entlohnung im öffentlichen Dienst zu einem gesellschaftlichen Thema. 

Auswirkungen der Schlichtung

In den Verhandlungen machten die öffentlichen Arbeitsgeber sehr deutlich, die Tarifrunde nicht nutzen zu wollen, um den Einkommensverlust großer Teile der Bevölkerung auszugleichen und den öffentlichen Dienst attraktiver zu machen. Stattdessen argumentierten sie mit klammen öffentlichen Kassen, die deutliche Lohnsteigerungen nicht zuließen.

Ver.di erklärte daher nach der dritten Runde das Scheitern der Verhandlungen, worauf die in einem Abkommen der Tarifparteien verabredete Schlichtung erfolgte. Deren Empfehlung umfasst im Wesentlichen eine steuer- und abgabenfreien Sonderzahlung von 3000 Euro im ersten Jahr und im zweiten Jahr einen Sockelbetrag von 220 Euro plus Gehaltserhöhung von 5,5 Prozent. In den darauffolgenden Verhandlungen am 22. April erzielten die Tarifparteien ein Ergebnis auf dieser Grundlage. Die Gewerkschaften mussten dabei viele Abstriche von ihren Forderungen machen: Die doppelt so lange Laufzeit, die erst im März 2024 kommende tabellenwirksame Erhöhung, eine deutlich geringere soziale Komponente und die Tatsache, dass das Gesamtvolumen die Reallohnverluste der letzten Jahre nicht ausgleicht.

Dennoch wurde das Ergebnis gegen Arbeitgeber durchgesetzt, von denen einige in der Schlichtungskommission gegen das Schlichtungsergebnis votierten und es im Verhandlungsprozess deutlich verschlechtern wollten. Dass ver.di sich während der Schlichtung weiter offensiv auf Erzwingungsstreiks und Urabstimmung vorbereitete, dürfte sich hier ausgezahlt haben.

Allerdings wurde ver.di mit der Schlichtung die Steuerung des Prozesses entzogen. Eine lange Pause bei den Warnstreikaktivitäten, eine nicht in Verhandlungen, sondern in der Schlichtung entwickelte Struktur des Verhandlungskompromisses, und die öffentliche Wahrnehmung des Schlichtungsergebnisses als Endpunkt der Auseinandersetzung mussten zu Demobilisierung und Unsicherheit über die Durchsetzungsfähigkeit im Erzwingungsstreik führen.

Wahrscheinlich wird die vom 4. bis 14. Mai laufende Mitgliederbefragung zwar ein heterogenes Bild in der Mitgliedschaft zeigen und doch mehrheitlich für die Annahme ausfallen, auch weil ein Erzwingungsstreik, den sich die eigene Führung nicht zutraut, keine realistische Option für die meisten Gewerkschaftsmitglieder mehr darstellt. Unabhängig von der Einschätzung der aktuellen Lage drängt sich als wesentliche Konsequenz auf, die Schlichtungsvereinbarung in Frage zu stellen. Den sie verhindert, selbstbestimmt in der Mitgliedschaft über strategische Weichenstellungen zu diskutieren, spaltet im Ergebnis die Einheit der Gewerkschaft und stellt eine deutliche Hürde dar, die aufgebaute Stärke auch in einem unbefristeten Streik ins Feld führen zu können.

Der Sog der Schlichtung erfasst dabei auch die EVG. Schon in der letzten Woche trug die Deutsche Bahn den Bahnbeschäftigten außerhalb der regulären Verhandlungen Volumen und Struktur des Schlichterspruchs an. Auch wenn die EVG prompt ablehnte – gemessen am öffentlichen Dienst ist der Handlungsdruck auf Grund des Lohnniveaus, der Reallohnverluste und des Personalmangels noch umfassender – wird der Abschluss im öffentlichen Dienst auch auf ihren Tarifkonflikt ausstrahlen.

Politischer Konflikt

Weil die Inflation einige Milliarden an Steuereinnahmen in die Regierungskasse spülen wird, verwundert die harte Haltung der öffentlichen Arbeitgeber zunächst. Doch die Kosten der Tariferhöhung sind ein vorgeschobenes Argument denn die Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst wird nicht nach betriebswirtschaftlichen, sondern nach politischen Kriterien entschieden. Es ist eine gesellschaftliche Frage, wie die Löhne und Arbeitsbedingungen derjenigen gestaltet sind, die im Krankenhaus, im Bürgeramt und in der Kita wichtige Dienstleistungen erbringen. Denn davon hängt ab, ob sich die*der Berufsanfänger*in für den Job als Busfahrer*in im öffentlichen Nahverkehr oder als Mechatroniker*in in der Metallindustrie entscheidet.

Heute erleben wir die Auswirkungen von Personalnot und heruntergewirtschafteter öffentlicher Infrastruktur. Wir stecken stundenlang im ICE fest, weil wieder eine marode Lokomotive während der Fahrt den Dienst versagt und fürchten uns vor Krankenhausaufenthalten, weil die dünne Personaldecke Leib und Leben gefährdet.

Angesichts der zugespitzten Tarifauseinandersetzung ist es an der Zeit, einen Bündnisprozess anzugehen, der sich mit Ernsthaftigkeit daranmacht, den öffentlichen Bereich zu verteidigen und auszubauen. Dafür müssen sich soziale Bewegungen, Initiativen, Klimaaktive und linken Parteien aktiv auf Seiten der Beschäftigten positionieren. Denn sie sind – mit ihrer Streikmacht und ihrer besonderen Betroffenheit – der Nukleus jeder durchsetzungsfähigen Bewegung für die Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen. Die entschiedene Tarifkampagne und die großen Warnstreiks haben einiges in Bewegung gesetzt. Auf dieser neuen Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften, ihrer gestärkten gesellschaftlichen Relevanz und den Bündniserfahrungen in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Auseinandersetzung gilt es künftig aufzubauen.
 

Dieser Text erscheint in der Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr 134


[1] Die Arbeitslosenquote lag nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2019 auf einem Rekordtief von 5 Prozent und ist nach einer leichten Erhöhung während der Corona-Pandemie 2022 wieder auf 5,3 Prozent gesunken.

[2] Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr (2022) traten 110.411 Mitglieder in ver.di ein.