Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Brasilien / Paraguay Hunger bekämpfen durch Ernährungssouveränität

30 Jahre «La Via Campesina»: Neue Herausforderungen für die Organisation

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Protestierende mit bunt geschminkten Gesichtern und Fahnen
Bild: Umut Vedat / La Via Campesina

Im Interview analysiert Jaime Amorim, politischer Koordinator von La Via Campesina, die Herausforderungen der Organisation angesichts von Krieg und Umweltkrise. Das Interview führten: Jorge Pereira Filho (Regionalbüro Brasilien und Paraguay) und Patricia Lizarraga (Regionalbüro Argentinien, Chile und Uruguay)

30 Jahre nach dem ersten Kongress von La Via Campesina im belgischen Mons sieht sich die Organisation mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert: Während der internationale Handel mit commodities jährlich weiter zunimmt, erreichten die Lebensmittelpreise im Jahr 2022 den höchsten Stand aller Zeiten. Im April dieses Jahres führte die Organisation, in der 182 bäuerliche Bewegungen aus 81 Ländern zusammengeschlossen sind, überall auf der Welt Aktionen durch, um diese Situation anzuprangern und die Ernährungssouveränität zu verteidigen. Dies setzte sich La Via Campesina im April 1996 auf der zweiten Konferenz in Mexiko zum Ziel ihres Kampfes. Zur gleichen Zeit fand das Massaker von Eldorado de Carajás in Brasilien statt. Militärpolizisten ermordeten dort am 17. April 1996 kaltblütig 21 landlose Landarbeiter, die für eine Agrarreform demonstrierten. Das Datum wurde zum internationalen Landarbeiter*innen-Kampftag erklärt und 2023 geht es bei den Aktionen von La Via Campesina angesichts der globalen Krisen darum, die Ernährungssouveränität und damit eine Zukunft für die Menschheit zu sichern.

Jaime Amorim, politischer Koordinator von La Via Campesina und Mitglied des nationalen Vorstands der Landlosenbewegung (MST), ist der Ansicht, dass die heutigen Herausforderungen für die Landarbeiter*innen-Bewegungen weit über das hinausgehen, was vor drei Jahrzehnten vorstellbar war – und dass die Bewältigung der verschiedenen gegenwärtigen Krisen, von der Zunahme des Hungers bis zum Klimawandel, einschließlich der wachsenden sozialen Ungleichheit, notwendigerweise eine Änderung des Produktionsmodells im ländlichen Raum erfordert.

Im Laufe des Jahres 2022 haben mehrere UN-Gremien vor einer Verschärfung des Hungerproblems in der Welt gewarnt. Wie bewertet La Via Campesina dieses Risiko?

La Via Campesina beschäftigt sich seit 2020 mit der Möglichkeit einer weltweiten Nahrungsmittelkrise. Während der Pandemie war es von grundlegender Bedeutung, weiterhin Lebensmittel zu produzieren. Als Landarbeiter*innen befanden wir uns in einer anderen Situation als die Menschen in der Stadt. Wir konnten uns isolieren, Lebensmittel produzieren und der Gesellschaft so in der Praxis zeigen, wie wichtig unser Beitrag ist. Wir haben diese Aufgabe erfüllt und darüber hinaus den Übergang zu einer Landwirtschaft gefördert, die sich um die Produktion gesünderer Lebensmittel bemüht. Wir wissen, dass die weltweite Bevölkerung eine immer höhere Anfälligkeit und geringere Immunität aufweist – und das hat mit unserem Ernährungsmodell zu tun. Dies ist auch eine Folge des kapitalistischen Modells, das eine weltweite Standardisierung von Lebensmitteln erzwingt.

La Via Campesina  (spanisch „der bäuerliche Weg“) ist ein internationales Bündnis von Kleinbauern, Landarbeitern, Fischern, Landlosen und Indigenen aus über 80 Ländern. Die Organisation kämpft seit 1993 erfolgreich gegen die Folgen der neoliberalen Globalisierung und für eine Umgestaltung des von Konzerninteressen dominierten und auf Profite ausgerichteten globalen Agrar- und Ernährungssystems.


Wenn wir uns um Lebensmittelproduktion kümmern, rückt automatisch die lokale Esskultur in den Fokus. Und Ernährungssouveränität bedeutet nichts anderes, als dass sich ein Land auf die Produktion konzentriert, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung nicht hungern muss. Das stärkt die lokale Kultur, denn es wird nur das produziert, was die klimatischen, geografischen und historischen Bedingungen zulassen. Im April wollen wir diese Debatte führen und die Ernährungssouveränität als fundamentales Thema in der ganzen Welt hervorheben. Der Hunger ist die Folge eines Modells der Gier, in dem verschiedene Krisen aufeinandertreffen: die Umweltkrise, die Wirtschaftskrise, die ideologische Krise. Im globalen Süden nimmt die Armut zu. Im Jahr 2016 lebten zum Beispiel in Brasilien rund 50 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, heute sind es 62,5 Millionen. Rund 33 Millionen Menschen hungern. Eine ähnliche Situation finden wir auch in anderen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens vor.

Wie lässt sich dieses Muster in der Praxis bekämpfen?

Zunächst einmal ist eine Volksagrarreform von entscheidender Bedeutung, wenn wir diesen Tendenzen entgegenwirken wollen. Sie ist überall auf der Welt anwendbar – auch dort, wo es bereits Landverteilungsprozesse gibt, denn es ist notwendig, das Problem des landwirtschaftlichen Entwicklungsmodells zu lösen. Und genau darum geht es bei der Volksagrarreform: Gewährleistung von technischer Hilfe, biologischem Saatgut und Produktion von biologischen Erzeugnissen. Die gesamte Wirtschaft muss sich ändern. Heute ist die Agrarwirtschaft auf Massenproduktion, Monokulturen und den großflächigen Einsatz von Giften, chemischen Mitteln und Gentechnik ausgerichtet. Die Erzeugung gesunder Lebensmittel erfordert einen neuen Lernprozess und Kenntnisse im ökologischen Landbau.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Verabschiedung der „Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten“ (UNDROP)

Diese Erklärung trägt zur Erreichung des übergeordneten Ziels von La Via Campesina bei und wir stehen vor der Herausforderung, sie in die Praxis umzusetzen. Die Verabschiedung im Jahr 2018 war ein historischer Moment. Landarbeiter*innen, einschließlich Flussanwohner*innen und indigene Völker, werden darin als Rechtssubjekte anerkannt. Aber die Existenz der Erklärung reicht nicht aus, wenn sie nicht in die Praxis umgesetzt wird. Die erste Aufgabe nach der Verabschiedung besteht darin, die Aufmerksamkeit der bäuerlichen Organisationen auf der ganzen Welt auf das Thema zu lenken. Darauf folgt eine Phase des Lernens, des Verstehens und des Austauschs, um die Wirkung und Konsequenzen der Erklärung zu verstehen. Und schließlich gilt es, die Länder dazu zu bringen, die in der Erklärung verankerten Rechte anzuerkennen, wie es Bolivien getan hat.

Dies hängt nicht nur von den Bemühungen der UNO ab, sondern auch von unserer Möglichkeit, Druck auf die jeweiligen Parlamente auszuüben, die vielfach von Konservativen dominiert sind. Wir haben jetzt eine Charta, die uns auf nationaler und internationaler Ebene zusammenführt, uns als Landarbeiter*innen anerkennt und uns bei schwerwiegenderen Verstößen die Möglichkeit gibt, internationale Gremien einzuschalten. Damit haben wir ein fantastisches Instrument der politischen Beteiligung – ein Rechtsinstrument, aber auch ein Instrument des politischen Kampfes.

Ist dies eine der wichtigsten Errungenschaften von La Via Campesina in den vergangenen dreißig Jahren?

Wir werden dieses Jahr unsere achte Konferenz abhalten. Als die Organisation entstand, war unser großes Problem der Vormarsch der Export-Monokulturen, die zum transnationalen Agrargeschäftsmodell wurden. Die Welt organisierte sich in Wirtschaftsblocks. Es bestand eine Gefahr durch die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) und die Welthandelsorganisation (WTO) übernahm den Prozess der Verhandlungen über Lebensmittel. Nun entwickelt sich ein globaler Lebensmittelmarkt, in welchem Nahrung zur Ware wird, die ohne jegliche Kontrolle durch die Produzent*innen an der Börse und auf Terminmärkten gehandelt wird. Angesichts des Vormarschs des Neoliberalismus machen wir uns zur zentralen Aufgabe, annstelle der Wirtschaft unseren Kampf zu globalisieren. Globalisieren wir die Hoffnung! Nahrung darf keine bloße Ware werden und die Länder müssen die lokale Ernährungssouveränität rechtlich durchsetzen. Als Via Campesina haben wir der Welt einen Gegenentwurf zum vorherrschenden Wirtschaftsmodell aufgezeigt.

Ein weiterer Punkt, den ich hervorheben möchte, ist die Infragestellung des von der UNO verwendeten Konzepts der Ernährungssicherheit, das nach dem Zweiten Weltkrieg von großer Bedeutung war. Zweifelsohne besitzen alle Menschen das Recht auf Nahrung. Aber La Via Campesina begann zu fragen: Zu welcher Art von Nahrung besteht ein Zugang? Wenn es um Ernährungssicherheit geht, sprechen wir selten über die Art der Nahrungsmittel und und die Bedingungen, unter denen sie produziert werden, Ausbeutung, Kinderarbeit, sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse, Umweltzerstörung oder Landvertreibung bäuerlicher Familien. Zur Ernährungssouveränität reicht es nicht aus, dass die Lebensmittel die Menschen erreichen. Wir müssen darüber sprechen, welche Art von Lebensmitteln unter welchen Produktionsbedingungen hergestellt werden und welches Verhältnis zwischen diesen Lebensmitteln, dem Produktionsprozess, der Arbeit, der Umwelt, der lokalen und indigenen Bevölkerung besteht. Hinzu kommt die Umweltkrise. Vor 30 Jahren hätten wir uns die Dimensionen der Krise, die wir heute erleben, nicht vorstellen können.

Heute ist die Ernährungssouveränität nicht nur wichtig, um Landarbeiter*innen zu retten, sondern auch, um den Planeten zu erhalten. Wir sind dabei, diese Aufgabe anzugehen. Dazu gehört das Pflanzen von Bäumen, die Verteidigung von Schutzgebieten, die Wiederherstellung von Flussufern und der Druck auf die Länder, um Gesetze gegen Abholzung und Brandrodung zu erlassen. Wir haben genug Land, um die Welt zu ernähren. Das Problem ist, wer auf diesem Land produziert, was produziert wird und welche Interessen die Produzent*innen vertreten.

La Via Campesina hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, der auf die Umweltrisiken des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und Mercosur hinweist.

Der Vertrag wäre eine große Katastrophe für die Mercosur-Länder. Er würde eine verstärkte Reprimarisierung der Wirtschaft bedeuten [Anmerk. Red: also den Prozess einer erneut verstärkten Orientierung zur Gewinnung und zum Export von Gütern des Primären Sektors]. Im ersten Moment mag das Abkommen unsere Exporte steigern, aber es würde uns zunehmend zu Geiseln der europäischen Industrie machen. Ganz zu schweigen von der Umweltzerstörung, die durch den Raubbau an Rohstoffen und Erzen angerichtet wird. Darüber hinaus werden, sobald ein gemeinsamer Markt geschaffen ist, auch alle öffentlichen Beschaffungsprozesse für europäische Unternehmen geöffnet. Dies kann die vollständige Zerstörung der lokalen Vertriebsorganisationen und -strukturen zur Folge haben.

Öffentliche Maßnahmen zur Förderung der bäuerlichen und familiären Landwirtschaft, die zur Produktion der Lebensmittel, die auf den Tellern der Bevölkerung landen von entscheidender Bedeutung sind, würden so zunichte gemacht. Ein solcher Prozess führt zum Ausschluss von kleinbäuerlichen Kooperativen und Siedlungen. Stattdessen sollte Brasilien die Handelsbeziehungen ausbauen, um nicht von den Vereinigten Staaten oder Europa abhängig zu werden. So war das Land bereits vor dem Putsch gegen Dilma Rousseff im Jahr 2016 vorgegangen und dieser Weg sollte wieder aufgenommen werden.

Übersetzerin: Alina Salzer