Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 in der Türkei stehen nicht nur im Lichte einer propagierten «Schicksalswahl», sondern auch im Zeichen der größten Erdbeben-Katastrophe in der Geschichte des Landes, durch die über 59.000 Menschen (Stand 22.4.2023) insbesondere in den südost-anatolischen Großstädten gestorben sind. Die Nichteinhaltung der Bau-Norm durch Korruption und Baupfusch wird für die verheerende Katastrophe verantwortlich gemacht. Während die Opposition die Regierung für diese Baumängel verantwortlich macht und die Bevölkerung zur Solidarität aufruft, haben viele Bürger*innen das Vertrauen in die türkische Regierung verloren und fühlen sich ohne Schutz.
Klar ist: Im hundertjährigen Bestehen der Republik Türkei zeigt sich eine zunehmende Demontage des kemalistischen Staates, den Mustafa Kemal Atatürk einst ins Leben gerufen hatte. Stattdessen ist an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien ein Land entstanden, dass sich verstärkt in eine autokratische Präsidialdiktatur unter türkisch-islamischen sowie nationalistischen Vorzeichen verwandelt hat. Mit der Einführung des Präsidialsystems in 2017 hat Recep Tayyip Erdoğan als Alleinherrscher an Macht gewonnen, indem er die Legislative, Exekutive und Judikative kontrolliert und zudem als Oberbefehlshaber der Armee agiert. Kurz vor den Wahlen bleibt abzuwarten, ob Erdoğan seine Alleinherrschaft aufgeben wird. Die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen werden daher als entscheidend angesehen, zumal im Zuge des Wahlkampfes nicht nur die politischen Polarisierungen tiefer werden, sondern auch ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdoğan und dem sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspolitiker Kemal Kılıçdaroğlu der CHP (Republikanische Volkspartei) zu erkennen ist.
Politische Ausgangslage bei den Wahlen
Selbst wenn die aktuellen Umfragewerte für Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) nicht besonders gut sind, gibt es eine Reihe politischer Vorteile und Vorzüge, von denen die AKP bei den bevorstehenden Wahlen profitiert. Insbesondere gibt es eine deutliche Schieflage bei den Voraussetzungen zwischen Regierung und Opposition. Bis zur Wahl stehen daher der Türkei turbulente Zeiten bevor. So wird der türkisch-kurdische sowie der sunnitisch-alevitische Konflikt weiter angeheizt und der politische Druck auf die demokratische Opposition steigt. «Ich bin Alevit. (…) Unsere Identität macht uns zu dem, was wir sind» hieß es daher in einer kürzlich im Netz ausgestrahlten Videobotschaft (mit über 100 Millionen Views) von Kılıçdaroğlu, der damit auf die alevitenfeindliche Demagogie von Erdoğan reagierte.
Dr. Kemal Bozay ist Professor für Sozialwissenschaften und Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule Köln. Er ist Mitglied des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Türkeipolitik, türkischer Ultranationalismus, Rechtsextremismus, Ungleichwertigkeitsideologien, Rassismuskritik und Migration.
Auf Seiten der Opposition sind zudem nicht nur wichtige Vertreter*innen der prokurdischen und linken HDP (Demokratische Partei der Völker) im Gefängnis (wie die ehemaligen Co-Parteichefs Selahattin Demirtaş, Figen Yüksekdağ und viele abgesetzte Oberbürgermeister der HDP), sondern es ist auch ein Verbotsverfahren gegen die HDP anhängig, über das das Verfassungsgericht noch zu entscheiden hat. Um ein mögliches Verbot zu übergehen, tritt die HDP unter dem Dach der «Yeşil Sol Parti» (Grüne Linke Partei) zur Wahl an. Ihr kommt hingegen mit mehr als zehn Prozent der Stimmen eine Schlüsselposition bei den Wahlen zu. Mit ihren Wähler*innen könnte sie zudem bei den Präsidentschaftswahlen zur «Königsmacherin» werden. Des Weiteren droht dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP) in erster gerichtlicher Instanz ein Politikverbot, das noch nicht rechtskräftig ist. Wegen seiner Popularität wurde der Istanbuler Oberbürgermeister gemeinsam mit dem Oberbürgermeister von Ankara (Mansur Yavaş, CHP) Anfang März 2023 zu Stellvertretern des Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu ernannt.
Darüber hinaus ist in der Türkei die Presse- und Meinungsfreiheit im Rahmen des Wahlkampfes nicht wirklich vorhanden. Die meisten Fernseh- und Radiosender sind unter der Kontrolle der Regierung, die sozialen Medien werden durch das «Desinformationsgesetz» unter dem Vorwand der Verbreitung von «Falschinformationen» eingeschränkt und oppositionelle Medien werden gesperrt, konfisziert oder sind verboten.
Auch die aktuellen Änderungen im Wahlgesetz, die politisierte Justiz sowie die erneute Möglichkeit der Instrumentalisierung des Hohen Wahlausschusses (YSK) sind als ungleiche und nicht faire Ausgangsbedingungen für die Opposition zu verzeichnen. Im neuen Wahlgesetz wurde beispielsweise die Sperrklausel von zehn auf sieben Prozent gesenkt, Erdoğan erhielt als amtierender Präsident die Ausnahmeerlaubnis für die Nutzung staatlicher Mittel während des Wahlkampfes und der Hohe Wahlausschuss wird seitdem durch Erdoğan und seine AKP politisch dominiert. Daher kann von freien und sicheren Wahlen kaum die Rede sein. Bei den Wahlen im Juni 2018 hatten bereits Wahlbeobachter*innen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisiert, dass die Kandidat*innen nicht die gleichen Chancen hatten, unter anderem wegen Einschränkungen bei Versammlungs- und Medienfreiheit. Bei den anstehenden Parlamentswahlen sprechen Beobachter*innen des Europarats von einem «schwierigem Wahlumfeld» und kritisieren ebenfalls die unzureichende Medien-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Am schwierigsten sei die Situation in den Erdbebengebieten, wo die Menschen wegen der Zerstörung unter erschwerten Bedingungen wählen. Etwa 100.000 Betroffene in den Erdbebenregionen haben sich in anderen Provinzen für die Wahl registriert. Hunderttausende haben die Erdbebenregion verlassen.
Nicht ausgeschlossen bleibt, dass auch die Hochrechnungen und Ergebnisse noch am Wahlabend manipuliert und im Anschluss mit der Ausrufung des Wahlsieges von Erdoğan Fakten geschaffen werden. Eine nationale und internationale unabhängige Wahlbeobachtung wird schon deshalb eine zentrale Rolle bei den Wahlen spielen.
Die sozialen Versprechen Erdogans…
Mit Regierungsantritt hat Erdoğan viele soziale Versprechen verkündet, die in der mehr als 20-jährigen Regierungsära nicht eingehalten wurden. Gerade in Wirtschaft, Infrastruktur, Sozialsystem, Gesundheitswesen und Bildung versprach er Fortschritte. Zudem propagierte er Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Lösung der kurdischen Frage. Die Praxis zeigt, dass ein Großteil dieser Zusicherungen nicht eingelöst wurde.
Vor allem hat sich in dieser Zeit eine radikale Neoliberalisierung der Gesellschaft vollzogen, der eine «grüne Kapitalklasse» herausgebildet hat, die in Abhängigkeit zum Machtsystem Erdoğans steht. Nach dem Motto «Der Staat ist die Beute, die oben bekommen große Stücke, nach unten fallen Krümmel» hat sich in der AKP-Ära ein ausgeprägtes System von wirtschaftlichen Abhängigkeiten, Korruption und Vetternwirtschaft etabliert. Das Resultat dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik war die Umsetzung eines umfangreichen Privatisierungsprogramms in der Geschichte der Türkei, womit die bisherige Wirtschaftspolitik noch weiter radikalisiert wurde. Während die Inflationsrate auf knapp 20 Prozent stieg, erreichte die offizielle Arbeitslosigkeit zwölf Prozent, bei einer noch wesentlich verdeckten Arbeitslosigkeit. Durch Leiharbeit, Flexibilisierung, Lockerung von Arbeitsschutzgesetzen und Eingrenzung gewerkschaftlicher Mitbestimmungsrechte wurden die Löhne weiter gedrückt, so dass viele Beschäftigte derzeit ein Leben unter dem Existenzminimum führen müssen. Durch die aktuelle Krise ist die Kaufkraft gesunken und auch die Sozialleistungen für Rentner*innen wurden drastisch gekürzt. Hinzu kam, dass das Wirtschaftswachstum seit der Corona-Pandemie einen starken Rückgang erlebt und die türkische Lira seit 2018 enorm an Wert verliert. Auch die Kaufkraft der Mittelschicht ist stark zurückgegangen. Gerade unter jungen Wähler*innen herrscht eine starke Unzufriedenheit über die Ungerechtigkeit, Korruption und Nepotismus, die sich im Land breitgemacht haben. Sie sehen, dass zahlreiche Beamte der AKP-Regierung wohlhabend geworden sind, während gleichzeitig die Jugendarbeitslosigkeit bei 25 Prozent liegt.
Die Türkei verzeichnet zudem weltweit die höchsten Zahlen an Femiziden, so wurden mehr als 4.000 Frauen in den letzten 15 Jahren von ihren Partnern ermordet. Als Antwort auf den feministischen Widerstand für den gesetzlichen Schutz von Frauen, erklärte Präsident Erdoğan 2021 den Ausstieg aus der Istanbuler Konvention, weil angeblich dadurch die «türkische Familienstruktur zerstört» und eine «rechtliche Grundlage für Homosexualität» geschaffen würde. Seit Austritt aus der Konvention nehmen Gewalt gegen Frauen, Femizide und LGBTQ-Menschen weiter zu.
Das politische Kräfteverhältnis
Das gegenwärtige Parteiensystem der Türkei ist sehr komplex und divers. Aufgrund der gesetzlich bestimmten sieben Prozent-Sperrklausel ist es kleineren Parteien kaum möglich in das Parlament einzuziehen. Trotzdem ist die politische Parteienlandschaft geprägt von Neugründungen und Spaltungen. Eine wichtige Rolle spielen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen die Wahlbündnisse. Für Staatspräsident Erdoğan und seiner AKP entfallen derzeit von 600 Sitzen in der Großen Nationalversammlung 286 und seinem Verbündeten MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) 48 Sitze. Damit kann Erdoğan bislang auf eine parlamentarische Mehrheit zählen. Bei den letzten Kommunalwahlen im März 2019 verlor die AKP vor allem in den türkischen Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Adana und Diyarbakir gegen die Opposition der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP und der linksgerichteten pro-kurdischen HDP.
Wahlbündnis «Volksallianz» (Cumhur Ittifakı)
Die «Volksallianz» als Wahlbündnis wurde im Februar 2018 ursprünglich durch die AKP in enger Koalition und Zusammenarbeit mit der rechtsextremen MHP und der islamistisch-nationalistischen BBP (Große Einheitspartei) gegründet. Sie erhielt als Bündnis bei den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (2018) 53,7 Prozent der Stimmen. Für die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen haben sich diesem Wahlbündnis auch die islamistisch-antisemitische Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei) und die in den kurdischen Gebieten aktive radikal-islamistische Hür Dava Partisi (Partei der Freien Sache) angeschlossen, die durch ihre Nähe zur «Hizbullah» bekannt ist. Auch die konservativ-nationale ANAP (Mutterlandspartei) hat ihre Unterstützung für die Volksallianz zugesichert. Eine weitere wichtige Basis für Erdoğan bilden auch islamische Ordensgemeinschaften und Sekten (wie z.B. Menzil, Ismailağa, Iskenderpaşa, Nur Cemaati und Süleymancılar), die ebenso ihre Unterstützung für die «Volksallianz» erklärt haben. Die Zusammensetzung dieses Bündnisses zeigt, dass im Sinne der türkisch-islamischen Synthese ein Bündnis zwischen islamischen, islamistischen und rechtsextremen Parteien entstanden ist.
Bündnis der Nation (Millet Ittifakı)
Das «Bündnis der Nation» wird von der CHP angeführt. Die CHP ist im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Sozialdemokratien nicht aus der Geschichte der Arbeiterbewegung entstanden, sondern verkörpert die Tradition einer Staatspartei. Bis in die 1990er Jahre bestand ihre soziale Basis aus Militärs, der Staatsbürokratie und der Bildungselite. Mit dem 2010 gewählten neuen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu hatte die CHP einen politischen Richtungswechsel bekanntgegeben, der bislang kaum Durchbruch erzielen konnte. Dem «Bündnis der Nation» hatten sich bei den Parlamentswahlen 2018 auch die IYI Parti (Gute Partei, IP), Demokratische Partei (DP) und Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit, SP) angeschlossen, die gemeinsam auf 34 Prozent der Stimmen kamen. Ein wichtiger Partner des Bündnisses ist die IYI Parti von Meral Akşener, die zwischen 1996 und 1997 Innenministerin der Türkei war und sich im Oktober 2017 mit einem Flügel von der MHP löste. Die IP verfügt derzeit im Parlament über 36 Abgeordnete und ist politisch dem konservativ-rechtspopulistischen Spektrum zuzuordnen. Als das Oppositionsbündnis Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) zum Präsidentschaftskandidaten ernannte, verließ Akşener den sogenannten «Sechser-Tisch» des «Bündnis der Nation». Die größte Kritik Akşeners richtete sich insbesondere gegen die Kandidatur von Kılıçdaroğlu. Sie forderte als Alternative die Kandidatur von entweder dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu oder Ankaras Bürgermeister Mansur Yavaş. Schließlich einigte sich das Bündnis darauf, beide Bürgermeister zu Stellvertretern von Kılıçdaroğlu zu machen.
Dem «Bündnis der Nation» wird sich bei den kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auch die im März 2020 gegründete DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt) anschließen, die aus innerparteilichen und politischen Differenzen mit der AKP entstanden ist. Ihr Gründer Ali Babacan, war unter anderem als stellvertretender Ministerpräsident, Wirtschaftsminister und Außenminister im Amt und versteht seine Partei als konservativ-islamische Partei, die eine europäisch-westliche Orientierung hat. Ein weiterer Bündnispartner ist die Gelecek Parti (Zukunftspartei, GP), die ebenfalls eine Abspaltung von der AKP ist. Ihr Gründer und Vorsitzender Ahmet Davutoğlu war bekannt als einer der wichtigen Strategen von AKP und amtierte von 2014 bis zu seinem Rücktritt 2016 als Vorsitzender der AKP und Ministerpräsident der Türkei. Seine Partei ist dem islamisch-konservativen Spektrum zuzuordnen und verfolgt eher eine anti-westliche Politik.
Eine Spaltung erlitt die CHP durch ihren ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Muharrem İnce, der im Mai 2021 die Heimatpartei (MP) gründete. Sie ist der konservativ-kemalistischen Linie zuzuordnen und ihr Präsidentschaftskandidat İnce tritt mit einer populistischen Rhetorik auf, die durch AKP-nahe Medien auch gegen die CHP instrumentalisiert wird. Unbedeutend bei den Wahlen bleibt dagegen die linksnationalistische und pro-russische Vaterlandspartei (VP) von Doğu Perinçek.
Ein Blick in politische Diversität des Sechser Bündnisses der Nation zeigt, dass innerhalb der beteiligten Parteien in zahlreichen Themen eine Uneinigkeit existiert. Vielmehr hat sich hier unter dem Motto «der Feind meines Feindes ist mein Freund» ein Zweckbündnis zusammengefunden, dass zwar in Fragen wie Wirtschaftspolitik, Friedensprozess oder Laizismus unterschiedliche politische Inhalte vertritt, doch im Kampf gegen Erdoğans Machtpolitik geschlossen agiert.
Bündnis für Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük Ittifakı)
Die pro-kurdischen und linkssozialistischen Parteien waren in ihrer Geschichte vielseitigen Verboten und Repressalien ausgesetzt. Seit Mitte der 1980er Jahre wurden in der Türkei zwölf pro-kurdische und linkssozialistische Parteien verboten. Die HDP ist in der Geschichte der Türkei die erste pro-kurdische Partei, der es als Bündnis mit vielen fortschrittlichen und linksozialistischen Parteien 2015 gelungen ist, die damalige Zehn-Prozent-Sperrklausel zu überwinden und als drittgrößte Fraktion ins Parlament einzuziehen. Bei den Parlamentswahlen 2018 blieb sie trotz Repression und Kriminalisierung weiterhin drittstärkste Kraft. Um einen Verbot zu umgehen tritt sie bei den anstehenden Parlamentswahlen unter dem Dach der Yeşil Sol Parti (YSP) als «Bündnis für Arbeit und Freiheit» auf, an der auch zahlreiche linkssozialistische Parteien beteiligt sind. Bei diesem Bündnis wirkt auch die sozialistische TIP (Arbeiterpartei) mit, die jedoch als eigenständige Partei zur Wahl antritt. Da die YSP eine Schlüsselrolle im politischen Kräfteverhältnis einnimmt und offiziell erklärt hat, Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen, eröffnete Erdoğans AKP eine Diffamierungskampagne gegen die YSP. Ihr wird Unterstützung für PKK und Terror vorgeworfen.
Marginal bleibt bei den Wahlen das alternative Lager des Sozialistischen Kräftebündnisses (Sosyalist Güç Birliği) von der Sol Parti (Linkspartei), TKP (Kommunistische Partei der Türkei) und TKH (Kommunistische Bewegung). Ihnen wird es kaum möglich sein ins Parlament einzuziehen.
Ahnen-Bündnis (Ata Ittifakı)
Neben Erdoğan und Kılıçdaroğlu, die nach bisherigen Wahlprognosen die meisten Wählerstimmen auf sich vereinen werden, hat auch das Ahnen-Bündnis mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan ihre Teilnahme angekündigt und jeweils 100.000 Unterschriften für die Kandidatur gesammelt – obwohl das Bündnis keine bedeutende Mehrheit hat. Oğan, ein ehemaliges Mitglied der rechtsextremen MHP, wird von anderen völkisch-rechtsnationalistischen Gruppen unterstützt. Unter ihnen befindet sich auch die 2021 von Ümit Özdağ gegründete Zafer Partisi (Partei des Sieges, ZP), die sich kurz nach Gründung von IP abgespalten hat und in seiner Programmatik völkisch-nationale Narrative vertritt. Bekannt ist die ZP insbesondere für ihre rassistische Stimmungsmache und Abschiebungspolitik gegenüber Geflüchteten.
«Schicksalswahl»: Was passiert, wenn Erdogan die Wahlen verliert?
Die aktuellen Wahlkampfanalysen zeigen, dass die politische Kluft zwischen den Parteien zusehends feindseliger wird und Erdoğan erstmals um seine Macht fürchten muss. Nicht nur sein schlechtes Krisenmanagement während der größten Erdbebenkatastrophe des Landes, sondern auch das Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Rivalen Kılıçdaroğlu schwächen derzeit seine Machtrolle. Nahezu alle Umfragen zeigen Kılıçdaroğlu (noch) vor Erdoğan. Bei AKP-Eliten löste diese Entwicklung nicht nur Aggressionen, sondern auch Provokationen aus. So hat Innenminister Süleyman Soylu im Rahmen einer Wahlveranstaltung in Istanbul sogar den angekündigten Wahltermin (14.5.) als «politischen Putsch des Westens» bezeichnet und Parallelen zum gescheiterten Putsch von 2016 gezogen. Bekannt ist, dass die AKP vor den Wahlen die Verbalattacken gegen die Opposition erhöht hat. Zudem fielen im Zuge dieser Provokationen Schüsse auf Parteibüros der CHP und IP. Bei einer Wahlniederlage Erdoğans wird vermutet, dass die angeheizte Stimmung im gesamten Land eine neue Dimension erreichen wird.
Falls einer der vier Präsidentschaftskandidaten nicht die absolute Stimmenmehrheit erhält, wird es Ende Mai eine Stichwahl geben. Bei einem Sieg Kılıçdaroğlus ist davon auszugehen, dass er als unparteiischer Präsident agieren und schrittweise zum alten türkischen Präsidentschaftsmodell zurückkehren wird. Kılıçdaroğlu verspricht, dass seine Regierung inklusiver sein und sich um politischen Konsens bemühen wird. Auch wenn es nicht im Programm des Sechser-Tisches steht, hat er in Interviews die Freilassung von Philanthrop Osman Kavala und dem ehemaligen HDP-Chef Selahattin Demirtaş sowie seinen Mitstreiter*innen, die derzeit politischer Haft unterliegen, signalisiert. Eine wichtige Forderung an die Opposition bleibt aber die Stärkung der Frauenrechte und die Rückkehr zur Istanbul-Konvention, die nicht im Programm des Sechser-Tisches vereinbart wurde.
Ein weiteres wichtiges Streitthema im Wahlkampf und bei einer möglichen Machtübernahme der Opposition ist die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Besondere Aufmerksamkeit gilt hier der seit 2018 anhaltenden Währungskrise, die aufgrund von Geldentwertung mittlerweile zu einer der höchsten Raten weltweit geführt hat. Das Leistungsbilanzdefizit verzeichnet ein Rekordhoch und die Währungsreserven schwinden zunehmend. Zudem löst der rapide Anstieg der Preise und die damit einhergehende gesunkene Kaufkraft innerhalb breiter gesellschaftlicher Teile Unmut aus. Zwar strebt Kılıçdaroğlu außenpolitisch eine Verbesserung der Beziehungen zur NATO und EU an, dennoch sind in seiner Haltung zum Syrien- und Ukraine-Krieg keine gravierenden Änderungen sichtbar.
Die anstehenden Parlamentswahlen sind ausschlaggebend, ob die Türkei den Weg zur parlamentarischen Demokratie finden oder weiterhin in den Sog eines autokratischen Regimes gezogen wird. Die demokratische Opposition besitzt die Chance, durch die Mobilisierung aller Kräfte – unabhängig verschiedener politisch-kultureller Farben – die Zukunft der Türkei weg von der Autokratie hin zu einer Demokratie zu führen. Als linkes Wahlbündnis hat die Yeşil Sol Parti in dieser «Schicksalswahl» die Chance, in der Königsmacherinnenrolle zu agieren.