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Wahlnachtbericht zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei am 14. Mai 2023

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Autor

Murat Çakır,

«Wer bei diesen Wahlen einen Ausweg für die Demokratisierung des Landes, Einhaltung von Menschenrechten und friedliche Lösung der kurdischen Frage erhofft hatte, wurde bitter enttäuscht. Die gesellschaftliche Polarisierung scheint wie in Beton gegossen.» Istanbul, 15. Mai 2023: AKP-Anhänger*innen feiern vermeintlichen Sieg, Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Nach einem von der AKP verursachten skandalträchtigen Nervenkrieg, der tief bis in die Nachtstunden gedauert hat, steht das Ergebnis fest: Bei den Präsidentschaftswahlen wird es eine Stichwahl geben.

Die Ergebnisse im Überblick

Von den insgesamt 64.113.941 Wahlberechtigten haben knapp 57 Millionen an den Wahlen teilgenommen. Laut der Aussage der Hohen Wahlkommission lag die Wahlbeteiligung bei 88,78 Prozent. Die Hohe Wahlkommission erklärte gegen 2 Uhr (MEZ), dass rund 91,9 Prozent der Stimmen ausgezählt wurden und keine der Kandidaten die 50-Prozent-Hürde überschritten habe. Laut den Angaben der Nachrichtenagentur ANKA sahen die Ergebnisse um diese Uhrzeit wie folgend aus:

Präsidentschaftswahlen

Kandidat

Stimmen

in Prozent

Recep Tayyip Erdoğan (Volksallianz)

26.050.547

49,25

Kemal Kılıçdaroğlu (Bündnis der Nation)

23.827.127

45,05

Muharrem İnce (Heimatspartei – Kandidatur zurückgezogen)

221.576

0,42

Sinan Oğan (Ata Bündnis)

2,793.207

5,28

Quelle: artigercek.com/secim-2023, abgerufen am 15.05.2023, 02:17 Uhr.

Die Hohe Wahlkommission erklärte, dass rund die Hälfte der Stimmen aus den Auslandswahlbezirken ausgezählt sind. Diese Stimmen könnten wahlentscheidend sein. Während Erdoğan bei einer Rede einräumte, dass er bereit sei für einen weiteren Wahlgang, trat Kılıçdaroğlu mit seinen Bündnispartnern vor die Presse und verkündete, dass er vorne liegt, daher bei einem voraussichtlichen weiteren Wahlgang siegreich werden würde. Aufgrund der manipulativen Berichterstattung der regierungsnahen Medien, den zahlreichen Widersprüchen zu den Wahlergebnissen und noch ausstehenden Auszählung von zahlreichen Wahlbezirken spricht man in den sozialen Medien über mögliche Wahlfälschungsversuche der AKP, was durchaus möglich ist. In den oppositionellen Kreisen ist eine klare Enttäuschung über das Verhalten des Bündnisses der Nation zu spüren.

Murat Çakır leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen.

Parlamentswahlen

Bei diesen Parlamentswahlen traten Parteienblöcke und einzelne Parteien an. Die größten Parteienblöcke sind:

«Volksallianz» bestehend aus der regierenden Gerechtigkeits- und Aufschwungspartei (AKP), der neofaschistischen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), der islamistischen Wieder Wohlstandspartei (Yeniden Refah) und der neofaschistischen Splitterpartei Große Einheitspartei (BBP). Die «Volksallianz» wurde von dem legalen Arm der kurdisch-islamistischen Hisbollah (Hüda-Par) unterstützt und stellte auf den AKP-Listen einige seiner Kandidaten auf.

«Bündnis der Nation» bestehend aus der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der MHP-Abspaltung Gute Partei (IYI Parti). Dieses Bündnis wird von den AKP-Abspaltungen DEVA Partei des ehem. AKP-Wirtschaftsminister Ali Babacan sowie der Zukunftspartei (Gelecek Partisi) des ehem. AKP-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu und der gemäßigt islamistischen Glückspartei (SP) unterstützt, deren Kandidat*innen auf CHP-Listen kandidiert haben.

«Bündnis für Arbeit und Freiheit» bestehend aus der Grünen Linkspartei (YSP), die als Dachpartei für die vom Parteienverbot bedrohten HDP und unterschiedlichen sozialistischen wie kommunistischen Gruppen und Parteien fungiert sowie von der Türkischen Arbeiterpartei (TIP). Die TIP trat in 54 Wahlbezirken eigenständig an, wobei sie als Bündnispartei von der 7-prozentigen Wahlhürde nicht betroffen war.

«Bündnis der sozialistischen Einheit» bestehend aus der sogenannten Kommunistischen Partei T.K.P. (ehemals Partei der sozialistischen Macht -SIP- und nicht mit der seit 1921 verbotenen KP der Türkei -TKP- zu verwechseln) sowie aus deren Abspaltung der kemalistisch orientierten Kommunistischen Bewegung der Türkei (TKH) und der Linkspartei (Sol Parti).

Weitere angetretene Parteien (unter der Rubrik: Sonstige Blöcke und Parteien) waren: das «Ata Bündnis» bestehend aus der ultranationalistischen Partei des Sieges (Zafer Partisi) und der Gerechtigkeitspartei (AP); Partei der Nation (Millet Partisi); Partei der Rechte und Freiheiten (HAK-PAR); Junge Partei (Genc Parti); Heimatspartei (Memleket Partisi von Muharrem Ince); Partei der Gerechtigkeit und Union (AB Parti); Mutterlandspartei (Anavatan Partisi); Erneuerungspartei (YP); Partei der Befreiung des Volkes (HKP); Partei des nationalen Weges (Milli Yol Partisi); Vaterlandspartei (Vatan Partisi) und Einheitspartei (GBP).

Die Ergebnisse:

Parteienblock

Partei

Stimmen

In Prozent

Sitze im Parlament

«Volksallianz»

AKP

18.548.790

35,56

267

MHP

5.235.031

10,04

168

Yeniden Refah

1.399.938

2,68

4

BBP

552.590

1,06

0

«Bündnis der Nation»

CHP

13.367.565

25,63

168

IYI Parti

5.195.641

9,96

44

«Bündnis für Arbeit und Freiheit»

YSP

4.574.258

8,77

62

TIP

825.730

1,58

4

«Bündnis der sozialistischen Einheit»

T.K.P.

57.333

0,11

0

TKH

17.465

0,03

0

Sol Parti

69.805

0,13

0

Sonstige Blöcke und Parteien

2.063.515

4,45

0

Quelle: artigercek.com/secim-2023, abgerufen am 15.05.2023, 02:19 Uhr.

Vorläufige Wahlanalyse und Deutungen

Grundsätzlich dürfte es nicht falsch sein zu konstatieren, dass die gesellschaftliche Mehrheit in der Türkei konservativ und nationalistisch bis ultranationalistisch ist. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist das seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 gewalttätig durchgesetzte autoritär-neoliberale Akkumulationsregime, welches nicht nur die Stabilisierung der inneren Kräfteverhältnisse zugunsten der herrschenden Klassen bedurfte, sondern zugleich einen gewaltigen Transformationsprozess der politischen und ideologischen Grundlagen des Staates auslöste. Dieser Transformationsprozess mündete in einer reaktionär-nationalistisch-rassistischen Hegemonie, die bis heute anhält. In der über 20-jährigen AKP-Herrschaft, die in der Kontinuität der Militärjunta stand, konnte sich diese Hegemonie verfestigen.

Selbst wenn man die kemalistische CHP, die durchaus in ihren Reihen nationalistische Kreise beherbergt, herausrechnet, beweisen die Wahlergebnisse, dass über zweidrittel der türkischen Gesellschaft konservativ, reaktionär und nationalistisch eingestellt ist. Besonders traurig war es zu verfolgen, dass sogar in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten mehrheitlich die AKP und die neofaschistische MHP gewählt wurden. In den 11 Städten, die vom Erdbeben betroffen waren, konnte die AKP, während Erdoğan die Mehrheit der Stimmen bekam, rund 47 Abgeordnete gewinnen – nur im völlig zerstörten Hatay konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit auf sich vereinen. Weder die desolate ökonomische Lage und die hohen Inflationsraten noch die öffentlich gewordenen Korruptionen des AKP-Palast-Regimes konnten einen großen Teil der konservativen Wähler*innen davon abhalten, die AKP und MHP zu wählen.

Die AKP setzte von Anfang an auf die gleiche Manipulationsstrategie wie in den vergangenen Jahren. Sämtliche gleichgeschaltete Medien und auch die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu gaben in der Wahlnacht Zahlen durch, nach denen Erdoğan und die AKP als Wahlgewinner bezeichnet wurden. Dabei wurden die Ergebnisse der Wahlurnen, in denen Kemal Kılıçdaroğlu vorne lag und deren Ergebnisse durch die systematische Widerspruchserhebung Stundenlang nicht in die Prognosen aufgenommen. Es wurde in der Nacht berichtet, dass die Stimmen zahlreicher Wahlurnen sechs bis sieben Mal gezählt worden sind - in einigen Wahlbezirken sogar bis zu 11-mal! So wollte die AKP erreichen, dass die Vertreter*innen der Oppositionsparteien sich resigniert zurückziehen und die abgegebenen Stimmen in der Obhut der AKP-Vertreter zu lassen. Aus der gesamten Türkei wurden viele Wahlfälschungsversuche seitens der AKP und ihren Bündnispartnern berichtet. Dank der digitalen Medien und der Beobachtung der Wähler*innen, die nach der Stimmabgabe sich nicht aus den Wahlzentren zurückgezogen hatten, konnten viele Fälschungsversuche vereitelt werden.

Dennoch sollte festgestellt werden, dass die regierende AKP und der amtierende Staatspräsident auch Stimmenverluste einstecken mussten. Ein Vergleich mit den letzten Wahlen macht das deutlich:

Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 hatten von den 59.367.469 Wahlberechtigten insgesamt 51.197.959 (86,24 Prozent) teilgenommen. Das Wahlergebnis sah damals so aus: R. T. Erdoğan (AKP) 52,59 Prozent; Muharrem İnce (CHP) 30,64 Prozent; Selahattin Demirtaş (HDP) 8,4 Prozent; Meral Akşener (IYI Parti) 7,29 Prozent; Temel Karamollaoğlu (SP) 0,89 Prozent und Doğu Perinçek (Vatan Partisi) 0,2 Prozent. Gegenüber 2018 hat Erdoğan rund 3,34 Prozent verloren.

Auch bei den am 24. Juni 2018 stattgefundenen Parlamentswahlen lag die Wahlbeteiligung bei 86,22 Prozent. Das Wahlergebnis sah damals wie folgt aus:

Partei

Stimmen

In Prozent

Sitze im Parlament

AKP

21.338.693

42,56 %

295

CHP

11.354.190

22,65 %

146

HDP

5.867.302

11,70 %

67

MHP

5.565.331

11,10 %

49

IYI Parti

4.993.479

9,96 %

43

Sonstige

1.000.877

2,03 %

0

Während die AKP diesmal 7 Prozent ( 2.789.903 Stimmen) weniger Zustimmung erhielt, konnte die MHP mit 1,06 Prozent (330.300 Stimmen) Verlust sich unerwartet behaupten. Die CHP konnte ihren Stimmenanteil um 2,98 Prozent (2.013.375 Stimmen) erhöhen. Dagegen erhielt die Bündnispartnerin der CHP, die IYI Parti exakt den gleichen Stimmenanteil von 9,96 Prozent, wobei sie diesmal 202.162 Stimmen mehr erhalten hat.

Die kurdische Bevölkerung hat Wort gehalten

Die Ergebnisse in den kurdischen Wahlbezirken zeigen deutlich, dass die kurdischen Wähler*innen mit großer Mehrheit Kemal Kılıçdaroğlu gewählt haben. Wenn man bedenkt, dass die CHP in den vergangenen Wahlen in diesen Wahlbezirken nur ein paar Prozent erhalten konnte, ist das jetzige Ergebnis als rekordverdächtig zu bezeichnen. Das liegt nur an der Wahlaussage der Grünen Linkspartei bzw. des Bündnisses für Arbeit und Freiheit. Mit diesem Wahlergebnis haben die Kurd*innen deutlich gemacht, dass sie als Bevölkerungsteil im höchsten Maße politisiert sind und für die politische Entwicklung in der Türkei weiterhin das Zünglein an der Waage bleiben werden. Wie in den vergangenen Jahren konnte die massive Repression des türkischen Staates in Kurdistan die kurdischen Wähler*innen nicht davon abhalten, dem Aufruf der YSP zu folgen und Kemal Kılıçdaroğlu zu wählen. Während Kılıçdaroğlu mit überwiegender Mehrheit gewählt wurde, wurde die YSP in den kurdischen Wahlbezirken mit Abstand die erste Partei.

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den kurdischen Wahlbezirken sah wie folgend aus:

Wahlbezirk

Erdoğan

(Stimmen in Prozent)

Kılıçdaroğlu

(Stimmen in Prozent)

Tunceli (Dersim)

16,20

80,26

Diyarbakir

26,48

71,96

Mardin

32,30

66,10

Batman

30,95

67,57

Mus

38,40

59,64

Bitlis

46,45

50,91

Siirt

41,17

56,65

Sirnak

21,58

75,61

Hakkari

23,48

73,53

Van

35,59

62,21

Agri

30,96

66,55

Igdir

25,53

62,28

Kars

39,39

54,57

Quelle: artigercek.com/secim-2023, abgerufen am 15.05.2023, 03:11 Uhr.

Die Partei des Bündnisses für Arbeit und Freiheit, die YSP errang in diesen kurdischen Wahlbezirken den ersten Platz. Doch es zeigte sich als Trugschluss, dass die andere Partei des Bündnisses, die TIP durch die Teilnahme mit eigenem Logo die Stimmenanteile erhöhen könne. Im Gegenteil, das Bündnis für Arbeit und Freiheit verlor gegenüber den Wahlen im Jahr 2018, wo die gleichen Bündnispartner unter dem Dach der HDP antraten, 1,35 Prozent oder 467.314 Stimmen. In einigen Wahlbezirken, wo die TIP und die YSP mit eigenen Logos antraten, haben beide Parteien verloren. Wären sie unter einem Dach angetreten, hätten sie einige Abgeordnete mehr in das Parlament schicken können. So konnten die TIP und die YSP im 3. Wahlbezirk von Ankara, wo die HDP 6 Prozent erhalten hatte, diesmal gemeinsam nur 4 Prozent der Stimmen bekommen. Ein Fehler, der sicherlich noch gründlich analysiert werden muss.

Entgegen den Erwartungen der türkischen Linken, die sich gegen das Bündnis für Arbeit und Freiheit im Bündnis der sozialistischen Einheit zusammengeschlossen haben, spielten sie bei diesen Wahlen nur eine marginale Rolle. Das Bündnis der sozialistischen Einheit konnte nur 144.603 Stimmen bzw. 0,28 Prozent auf sich vereinigen.

Exkurs: Das Wahlverhalten der sog. Auslandstürk*innen

Da die Ergebnisse aus den Auslandswahlbezirken nicht vorlagen, wurde das Wahlverhalten der sogenannten Auslandstürk*innen anhand der letzten Wahlen analysiert.

Während von den 3.044.837 Wahlberechtigten im Ausland nur 1.358.854 Personen (44,62 Prozent) an den Wahlen am 24. Juni 2018 teilnahmen, konnte Erdogan mit 60,24 Prozent die meisten Stimmen auf sich vereinigen. Muharem Ince bekam 24,53 Prozent und Selahattin Demirtas 11,71 Prozent. Nach diesen Wahlen wurde immer wieder eine Aussage wiederholt, nach der «Türken im Ausland links und in der Türkei rechts wählen» würden. Diese Aussage ist nichts anderes als eine Legende, da die türkeistämmigen Migrant*innen längst ihre parteipolitischen Präferenzen nach ihrem gesellschaftlichen Stand treffen. So sind die Türkeistämmigen nicht mehr die «Gastarbeiter» der Jahre 1960 und 1970, wo sie in Wohnheimen oder benachteiligten Stadtteilen lebten. Vielmehr ist es so, dass eine immer größer werdende Zahl von ihnen inzwischen als Teil der privilegierten Kreise der arbeitenden Klasse in der BRD, als Teil der Kernbelegschaften in verschiedenen Wirtschaftsbereichen sowie als Unternehmer*innen und Selbständige durchaus zu den Mittelschichten bzw. zu den «Besserverdienenden» gezählt werden können. Diese Türkeistämmige, die das Gefühl des «Klassenaufstiegs» haben, haben die «Ghettos» den Flüchtlingen und ärmeren Bevölkerungsschichten überlassen und wohnen entweder in «wohlhabenderen» Stadtteilen meist in Eigentumswohnungen oder in Eigenheimen, die sie in den kleineren Städten nahe den Metropolen gebaut haben. Natürlich gibt es Arme innerhalb der kurdisch- bzw. türkischstämmigen Migrant*innen, deren Anteil entspricht aber den allgemeinen Anteil der von der Armut betroffenen Bevölkerungsteil in der BRD. Insofern ziehen es konservative Türkeistämmige, welche die Mehrheit ausmachen, vor, in der BRD und in der Türkei konservative Parteien zu wählen.

Ein weiterer wichtiger Grund für die überdurchschnittliche AKP-Unterstützung der Türkeistämmigen liegt in deren Einkommens- und Eigentumssituation. Der aufgrund der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik des AKP-Palast-Regimes verursachte Wertverlust der türkischen Währung wird für jene türkeistämmigen Migrant*innen, die ihre mittel- und langfristigen Investitionen in der Türkei auf Euro-Grundlage machen, als ein großer Vorteil angesehen und begründet u. a. ihre Zuneigung für die AKP bzw. für Erdoğan. Zudem verfügt die AKP in Europa und insbesondere in der BRD über ein großes Unterstützungsnetzwerk. Sowohl die Lobbyisierungsmaßnahmen des türkischen Staates nach dem Militärputsch von 1980 als auch die DITIB-Moscheen, unterschiedliche Vereine und Föderationen halfen der AKP, ihren Einfluss innerhalb der türkeistämmigen Community zu vergrößern. Mit der «Direktion für Auslandstürken und verwandte Gruppe» hat das Regime staatliche Mittel, um dieses Netzwerk zu vergrößern. Die große Masse der konservativen Türkeistämmigen wird mit Hilfe der aus der Türkei entsandten Imamen, Lehrer*innen aber auch über 8.000 Geheimdienstangestellten, die nachweislich in der BRD tätig sind, vom Regime direkt beeinflusst. Insbesondere ein nicht zu unterschätzender Anteil der nachfolgenden Generationen ist in einem politischen und kulturellen Zangengriff der AKP gefangen.

Es ist zu konstatieren, dass ein großer Teil der Türkeistämmigen zu einem Bevölkerungsteil geworden ist, die dem türkischen Staat und dessen Machthabern als jederzeit verfügbare Manövriermasse zur Verfügung steht und konservative Türkeistämmige als willige Lobbyisten der Innen- und Außenpolitik des Regimes fungieren. In diesem Zusammenhang wäre es nicht völlig absurd zu behaupten, dass der antikurdische Rassismus unter den Türkeistämmigen in der BRD viel größer ist als in der Türkei selbst.

So zeigte sich das Wahlverhalten der sog. Auslandstürk*innen auch bei den Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 eine deutliche Neigung zur AKP. Von den im Ausland abgegebenen 1.505.809 Stimmen entfielen auf die AKP 51,73 Prozent; der CHP 17,75 Prozent; HDP 17,31 Prozent; MHP 8,01 Prozent und IYI Parti 4,05 Prozent. Von den in der BRD abgegebenen 660.091 Stimmen entfielen auf die AKP 55,0 Prozent; CHP 15,4 Prozent; HDP 14,6 Prozent; MHP 8,3 Prozent und auf die IYI Parti 3,3 Prozent.

Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass die HDP, die in der BRD nur 0,8 Prozent weniger Stimmen als die CHP erhielt, in anderen europäischen Ländern die CHP überholte. Hier die Länderbeispiele:

Land

CHP

HDP

BR Deutschland

15,4 %

14,6 %

Frankreich

8,8 %

24,2%

Niederlande

12,5 %

9,0 %

Belgien

10,4 %

9,4 %

Österreich

11,3 %

11,7 %

Schweiz

17,0 %

40,1 %

Vereinigtes Königreich

24,2 %

48,7 %

Während in der BRD 660.091 Wahlberechtigte an den Wahlen am 24. Juni 2018 teilnahmen, lag die gesamte Zahl der teilnehmenden Wahlberechtigten in den anderen europäischen Ländern bei 503.563. Auch wenn die gesamten im Ausland abgegebene gültigen Stimmen nur 3 Prozent der gesamten Stimmen ausmachen, spielen sie dennoch eine wichtige Rolle bei der Verteilung von Parlamentssitzen. Wie in den letzten Wahlen können einige Tausend Stimmen aus dem Ausland über Gewinn und Verlust eines Sitzes entscheiden, ob wohl die verlierende Partei mit den inländischen Stimmen die Gewinnerin gewesen ist. Da es um eine verfassunggebende Mehrheit im Parlament ankommt, könnte die AKP mit den Stimmen der sog. Auslandstürk*innen eine solche Mehrheit ihrer Gegner verhindern.

Fazit

Das Wahlergebnis, das sich möglicherweise in den nächsten zwei Tagen ändern könnte, macht deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Türkei sich keine grundsätzliche Veränderung wünscht. Wer bei diesen Wahlen einen Ausweg für die Demokratisierung des Landes, Einhaltung von Menschenrechten und friedliche Lösung der kurdischen Frage erhofft hatte, wurde bitter enttäuscht. Die gesellschaftliche Polarisierung scheint wie in Beton gegossen zu sein. Im Falle eines Wahlsieges des AKP-Palast-Regimes wird das Land noch autoritärer regiert als bisher. Mehr noch; die Gefahr einer offen faschistischen Diktatur ist angesichts der Unterstützerparteien der AKP akuter denn je. Die Tatsache, dass mit Sinan Oğan ein Neofaschist zum Königsmacher gekürt wurde, lässt schlimmes erahnen.

Auch wenn der Kandidat des Bündnisses der Nation, Kemal Kılıçdaroğlu die Präsidentschaftswahlen (im ersten oder zweiten Wahlgang) gewinnen sollte, ist aufgrund der Parlamentsmehrheiten und dem erklärten Ziel von Kılıçdaroğlu eine bürgerliche Restauration vorzunehmen sowie den rechten Parteien in seinem Bündnis kein Aufatmen zu erwarten. Das einzig Positive dieses Wahltages ist, dass mit dem Bündnis für Arbeit und Freiheit immerhin eine politische Kraft im Parlament ist, welcher die Rolle des Züngleins an der Waage übernehmen kann. Ohne die YSP und TIP wird die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie nicht möglich sein. Mag sein, dass das ein schwacher Trost ist, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass die Demokratisierung der Türkei kann nur mit der Einbeziehung der politischen Vertreter*innen des kurdischen Volkes in die politischen Entscheidungsmechanismen bewerkstelligt werden kann – was nach diesem Wahlergebnis wohl kaum zu erwarten ist.

Noch bis vor kurzem träumte der Autor dieser Zeilen von Frühlingsdüften über der anatolisch-mesopotamischen Ebene. Die Wirklichkeit scheint jedoch eher düstere Zeiten vorauszusagen. Schade. Nun bleibt es den demokratischen und linken Kräften Kurdistans und der Türkei die Maulwurfsarbeit vorbehalten. In ihrem Bemühen um mehr Demokratie, Freiheiten und sozialer Gerechtigkeit müssen wir sie unterstützen. Das werden sie bitter nötig haben.