Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Commons / Soziale Infrastruktur Der übergangene Souverän

Der neue Berliner Senat will gleich drei Volksentscheide missachten. Ein fatales Signal, meint Michael Efler

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Michael Efler,

Grüne Wiese auf dem Tempelhofer Feld mit einer alten Pistenmarkierung im Vordergrund.
Das Tempelhofer Feld, noch ohne «behutsame Randbebauung». Hier wird in dieser Legislaturperiode erneut versucht werden, das Ergebnis eines Volksentscheids zu revidieren. CC BY-NC 2.0, Foto: Michael / flickr

Seit dem 27. April regieren in Berlin wieder einmal CDU und SPD miteinander. Die nur knappe Zustimmung der SPD-Mitglieder in einer Urabstimmung und die chaotische Wahl Kai Wegners zum Regierenden Bürgermeister erst im dritten Wahlgang sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die beiden Partner in einer Frage überaus einig sind: nämlich dass sie direkte Demokratie nicht als Bereicherung, sondern primär als Störfaktor verstehen. So haben die Parteien in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie gleich drei Volksentscheide kippen bzw. nicht umsetzen wollen – ein demokratiepolitischer Skandal.

Der steinige Weg zum Volksentscheid

Schon die Positionierung der beiden Regierungsparteien zur Einführung bzw. zum Ausbau der direktdemokratischen Instrumente spricht Bände. Berlin führte 2005 als letztes Bundesland und erst nach langen Verhandlungen Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf Bezirksebene ein – die CDU stimmte, wie schon bei der Senkung des Wahlalters auf Bezirksebene auf 16 Jahre, dagegen. Die SPD votierte zwar letztlich dafür, musste aber durch den damaligen Koalitionspartner PDS sowie die Oppositionsparteien Grüne und FDP zum Jagen getragen werden.

Michael Efler, Klima- und Demokratieaktivist, demokratiepolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von 2016-2021, Vorstand und Mitarbeiter bei BürgerBegehren Klimaschutz.

Im Juni 2006 wurden dann die Regelungen für landesweite Volksbegehren und Volksentscheide deutlich verbessert durch eine Verfassungsänderung, die in einer anschließenden Volksabstimmung angenommen wurde. Diese Reform ist im Wesentlichen verantwortlich für die hohe Anzahl von Volksbegehren in Berlin und hat Initiativen wie beispielsweise «Deutsche Wohnen und Co. Enteignen» überhaupt erst möglich gemacht. Auch hier stimmte die SPD nach anfänglichen Blockaden zwar letztlich zu, verhinderte aber weitergehende Verbesserungen (etwa bei Verfassungsänderungen durch Volksentscheide) und knüpfte ihre Zustimmung an die Einführung der Richtlinienkompetenz des Regierenden Bürgermeisters.

CDU oder SPD in Regierungsverantwortung haben der direkten Demokratie immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen, sei es durch die Abkopplung der Volksentscheide von Wahlterminen (Energetisch 2013, Klimavolksentscheid 2023), durch übertrieben lange Prüfverfahren (Deutsche Wohnen und Co. Enteignen, Mietenvolksentscheid) oder durch rechtswidrige Unzulässigkeitsentscheidungen (Berlin Werbefrei). In der letzten Wahlperiode wurde dann die im Koalitionsvertrag verabredete Reform des Abstimmungsgesetzes jahrelang von der SPD blockiert, die auf diese Weise (letztlich erfolglos) mehr Rechte für die Polizei zu erwirken suchte.

Doch selbst wer das – diplomatisch ausgedrückt – ambivalente Verhältnis der beiden Parteien zur direkten Demokratie kennt, reibt sich jetzt, bei der Lektüre des Koalitionsvertrags, die Augen, denn CDU und SPD wollen gleich drei Volksentscheide aushebeln. Sehen wir uns diese drei Fälle genauer an.

Deutsche Wohnen und Co. Enteignen

Noch sehr präsent ist in der Stadt die Initiative Deutsche Wohnen und Co. Enteignen (DWE), die es schaffte, für einen Vorschlag zur Vergesellschaftung der großen privaten Wohnungsunternehmen eine Mehrheit von 59 Prozent der Abstimmenden zu erhalten. Dieses Ergebnis galt als kleine Sensation, weil damit – erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik – eine Entscheidung zur Vergesellschaftung getroffen wurde.

Probleme ergaben sich dann aber daraus, dass diesem Volksentscheid kein Gesetzentwurf zugrunde lag, der bei seiner Annahme automatisch in Kraft getreten wäre. Schon der rot-grün-rote Senat war sich in der Frage der Umsetzung nicht einig, setzt aber immerhin eine Expertenkommission ein, deren Abschlussbericht noch nicht vorliegt. Der neue CDU/SPD-Senat hat sich nun darauf verständigt, dass nur in dem Fall, dass die Kommission eine «verfassungskonforme Vergesellschaftungsempfehlung» abgibt, ein sogenanntes Vergesellschaftungsrahmengesetz verabschiedet werden soll, das allgemeine Kriterien für eine Vergesellschaftung regelt. Inkrafttreten soll es erst zwei Jahre nach seiner Verkündung.

Hinzu kommt: Ein Rahmengesetz ist kein Umsetzungsgesetz. Es würde die Bedingungen und Kriterien der Vergesellschaftung in bestimmten Bereichen festlegen (was durchaus sinnvoll sein kann), aber es regelt eben keine konkrete Vergesellschaftung. Sollten CDU und SPD dies als Umsetzung des DWE-Volksentscheides zu verkaufen suchen, wäre dies ein ganz billiger Taschenspielertrick.

Tempelhofer Feld

Beim Volksentscheid über eine mögliche Bebauung des Tempelhofer Felds hat 2014 eine Mehrheit gegen eine Bebauung, einschließlich einer sogenannten Randbebauung, gestimmt. SPD und CDU haben schon länger durchblicken lassen, dass sie dieses Votum «korrigieren» wollen. Bisher wurde dafür immer eine Volksbefragung ins Spiel gebracht – ein unverbindlicher Volksentscheid, der in Berlin zudem keine rechtliche Grundlage hat. LINKE und Grünen lehnen dies ab, weil sie das Mehrheitsvotum der Bevölkerung respektieren wollen und befürchten, dass von oben und ohne Rechtgrundlage verfügte Volksbefragungen manipulativ eingesetzt werden können.

Im Koalitionsvertrag heißt es nun, dass «die Möglichkeiten einer behutsamen Randbebauung ausgelotet werden sollen». Angesichts dieser Haltung der beiden Parteien kann man sich unschwer ausmalen, zu welchem Ergebnis dieses «Ausloten» führen wird. Etwas kryptisch heißt es dann: «Zu dieser Frage gesamtstädtischer Bedeutung ist die Neubewertung durch die Berlinerinnen und Berliner maßgeblich». Ob dies die Vorbereitung auf die beschriebene, von oben angesetzte Volksbefragung ist oder eine andere Form der Meinungsabfrage der Berliner*innen gewählt wird, bleibt offen. Klar ist: Das Feld soll entgegen des Volksentscheids bebaut werden.

Religionsunterricht

Last but not least geht es um den Religionsunterricht in Berlin. Hier fand schon 2009 ein Volksentscheid statt, bei dem eine Mehrheit den Gesetzesvorschlag der Initiative «Pro Reli» ablehnte, den Religionsunterricht als ein dem Ethikunterricht gleichgestelltes Wahlpflichtfach aufzuwerten. Dies war im Übrigen der einzige Volksentscheid aufgrund eines Volksbegehrens in der bundesdeutschen Geschichte, bei dem es überhaupt eine Nein-Mehrheit der Stimmen gab.[1] Hierzu heißt es nun im Koalitionsvertrag: «Die Koalition strebt die Einführung eines Wahlpflichtfachs Weltanschauungen/Religionen als ordentliches Lehrfach an.» Dieses Fach soll von den Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften inhaltlich ausgestaltet werden.

Damit soll genau das, was damals im Volksentscheid abgelehnt wurde, nun auf parlamentarischem Wege eingeführt werden. Es wird noch nicht einmal der Versuch unternommen, zu begründen, was sich an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben könnte. Kein Wunder, denn die Behauptung, dass die Stadt in den letzten Jahren religiöser geworden sei und sich die Meinung der Berliner*innen zu einem staatlichen Pflichtfach Religion geändert habe, wäre geradezu abenteuerlich.

Elitäres und machtorientiertes Politikverständnis

Diese Vorhaben offenbaren ein bemerkenswert elitäres und machtorientiertes Politikverständnis. Wird dies nun tatsächlich so umgesetzt, würde die Koalition wie ein Elefant im Porzellanladen agieren. Das Ansehen der Berliner Landespolitik hat ohnehin schon schweren Schaden erlitten, nicht zuletzt durch die (von einem SPD-Innensenator) organisatorisch vergeigte Abgeordnetenhauswahl 2021, durch gescheiterte bzw. massiv verzögerte Großprojekte sowie durch die mangelnde Funktionsfähigkeit einiger Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge. Viele Berliner*innen haben bereits jetzt Zweifel, was die Wirksamkeit direkter Demokratie angeht; so denken manche fälschlicherweise, dass Volksentscheide in Berlin generell unverbindlich seien. Und in einer Meinungsumfrage war die Antwort «Volksentscheide bewirken nichts, weil die Politik sie nicht umsetzt» der am häufigsten, nach einer anderen Umfrage immer noch am zweithäufigsten genannte Grund für die Nichtteilnahme am Klimavolksentscheid.

Diese also ohnehin bereits vorhandene Skepsis würde durch das angekündigte Agieren der Koalition massiv verstärkt werden. Dadurch dürfte das Ansehen der Politik und der Demokratie insgesamt Schaden nehmen – im Extremfall könnten auch Menschen radikalisiert bzw. zur Protestwahl getrieben werden.

Im Fall DWE kommt hinzu, dass sich die Mietenexplosion in den letzten Jahren noch weiter zugespitzt hat – zu einer Zeit, in der die Berliner*innen ohnehin unter hoher Inflation leiden. Zudem steht das Instrument des Mietendeckels der Landespolitik leider nicht mehr zur Verfügung. (Zur Erinnerung: Die CDU hatte gegen das Gesetz geklagt.)

Was tun? Zunächst einmal gilt es, Einspruch zu erheben gegen die Senatspläne zum Demokratieabbau. Da es bei der direkten Demokratie immer auch um die unmittelbare Mitwirkung der Bürger*innen an der Gesetzgebung geht, wäre darüber hinaus zivilgesellschaftlicher Protest gegen den Abbau dieser Mitbestimmung angezeigt, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments. Die Volksbegehren zum Erhalt des Tempelhofer Feldes sowie DWE wurden von breiten Bewegungen bzw. Bündnissen getragen, im Falle des Volksentscheids Pro Reli hatte sich damals – was sehr selten ist bei Volksentscheiden in Deutschland – ein Gegenbündnis gebildet. Vielleicht ist auch ein über die einzelnen Volksbegehren hinausgehendes gemeinsames Vorgehen denkbar, denn schließlich geht es nicht zuletzt um die demokratische Kultur in dieser Stadt.

Bei DWE gibt es eine naheliegende Option, die bereits jetzt vorbereitet werden könnte: Da klar ist, dass es zu keiner ernsthaften Umsetzung des Volksentscheids kommen wird, sollte möglichst rasch ein neues Volksbegehren vorbereitet werden – diesmal aber mit einem Gesetzentwurf als Grundlage, der im Falle der Annahme verbindlich wäre. Es steht allerdings zu befürchten, dass ein solches Volksbegehren vom Senat nicht zugelassen und dem Verfassungsgericht vorgelegt werden würde. Eine derartige juristische Prüfung ist bei einem solch neuartigen Vorhaben mit so gravierenden Eingriffen in die Eigentumsverhältnisse aber ohnehin unvermeidbar. Außerdem scheint sich anzudeuten, dass die Expertenkommission zumindest keine eindeutig ablehnende verfassungsrechtliche Einschätzung der Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin abgeben wird.

Die Zukunft der Volksentscheide

Volksentscheide haben keinen Ewigkeitscharakter. Es ist sowohl legitim als auch verfassungsrechtlich möglich, sie wieder aufzuheben oder zu ändern. Aber eine solche Änderung sollte mit großer Zurückhaltung und lediglich dann erfolgen, wenn sich die Rahmenbedingungen tatsächlich stark verändert haben, sodass die Bevölkerung heute möglicherweise anders entscheiden würde. Bei Pro Reli und bei DWE kann davon keine Rede sein. Beim Tempelhofer Feld könnten die Dinge angesichts des tatsächlichen Mangels an bezahlbarem Wohnraum anders liegen; sicher ist dies aber keineswegs. Denn viele Menschen zweifeln daran, dass ausgerechnet in einer Premiumlage wie dem Tempelhofer Feld vorrangig bezahlbarer Wohnraum geschaffen würde. Außerdem ist der Aspekt der Kaltluftschneise, die kühlere Luft in eine sich absehbar aufgrund der Klimakrise erhitzende Innenstadt leitet, möglicherweise noch höher zu gewichten als bei der Abstimmung 2014.

Wenn die Politik nun – selbst nach einer ernsthaften Befassung mit den Pro- und Contra-Argumenten (die hier allerdings in Frage steht) – unbedingt das Tempelhofer Feld teilweise bebauen will, dann sollte sie dafür eine erneute verbindliche Abstimmung aller Berliner*innen anberaumen bzw. ermöglichen.

Wie das geht, zeigt das Beispiel Hamburg: Dort kam es nach ähnlichen Debatten über nicht umgesetzte Volksentscheide zu einer bemerkenswerten Verfassungsänderung. Wenn das Hamburger Parlament, die Bürgerschaft, ein Volksgesetz ändern oder aufheben will, tritt dies erst drei Monate nach dem Gesetzesbeschluss in Kraft. Innerhalb dieser Frist können 2,5 Prozent der Wahlberechtigten durch ihre Unterschrift einen Volksentscheid über das Änderungsgesetz verlangen. Wird dieses Quorum erfüllt, entscheidet die Hamburger Bevölkerung, ob ein Volksgesetz geändert wird oder nicht. Dies ist eine faire und ausgewogene Regelung, die eine Änderung von Volksentscheiden ermöglicht, dafür aber eine Einspruchsmöglichkeit für die Bevölkerung vorsieht.

In Berlin gibt es eine solche Regelung bislang nicht. Daher steht zu befürchten, dass CDU und SPD auf ihre parlamentarische Mehrheit setzen, um die direktdemokratischen Beschlüsse zu kippen. Keine rosigen Aussichten für die Stadt – und für die Demokratie.


[1] Es gab noch ein paar Fälle in Bayern Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1990er-Jahr, aber hier gab es Gegenvorschläge des Landtages, die zu einem Teilerfolg in der Sache führten.