Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Im Osten was Neues Diesseits oder jenseits der Mauer?

Kontroversen um eine «neue» DDR-Geschichte

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Buchcover der englischen und deutschen Ausgabe Penguin Books / Hoffmann & Campe

Die Leipziger Buchmesse war gerade vorüber, da berichtete die Kolumnistin Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung (30. April) über eine Buchpräsentation in London, die sie besucht hatte. Eine 38-jährige Historikerin stellte im ehrwürdigen Kings College ihren Band «Beyond the Wall: East Germany 1949-1990» vor. Die Autorin Katja Hoyer, geboren im brandenburgischen Strausberg, begab sich nach ihrem Geschichtsstudium in Jena nach England, arbeitet derzeit am Kings College, ist Fellow der Royal Historical Society, schreibt regelmäßig für BBC, Telegraph, Spectator und Washington Post. Vor zwei Jahren publizierte sie den vielbeachteten Titel «Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire». Das neue Buch nun erreichte inzwischen die Top Ten der Sunday Times Bestsellerliste.

Gerd-Rüdiger Stephan ist Leiter des Historischen Zentrums der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die Journalistin Rennefanz lenkte die Aufmerksamkeit auf den Erfolg der jüngsten Publikation und versuchte sich an einigen Erklärungsansätzen. Resümierend bemerkte sie in Bezug auf das britische Publikum: «Der Brexit und das Ende der Ära Elisabeth II. beeinflussten viele Briten in der Hinsicht, dass das Leben, wie sie es kannten, zu Ende geht.» Die Analogie zur DDR 1989/90 dränge sich auf.

Penguin Books, ein großer Player im englischsprachigen Verlagssystem, sah offenbar Potential für den internationalen Markt. Parallel erschienen nunmehr Ausgaben, in Niederländisch, in Finnisch – und in Deutsch. Die deutsche Autorin übersetzte ihr englisches Werk nicht selbst, dazu wurden zwei Übersetzerinnen verpflichtet. Dies war wohl auch eine Zeitfrage (erklärt aber auch einige kleinere sachliche Fehler). Zur Buchmesse in Leipzig hat es trotzdem nicht mehr gereicht, der Band erschien schließlich in der ersten Maiwoche.

Für die deutsche Version zeichnet Hoffmann & Campe, ein renommiertes Haus. Es dürfte einige Mühe gemacht haben, Vorabexemplare an Zeitungen, Zeitschriften und elektronische Medien mit ihren jeweiligen Rezensenten rechtzeitig zu senden, dies geschah jedoch in einer Weise, die in wenigen Tagen überall entsprechende Texte erscheinen ließ. Umfangreiche Veröffentlichungen brachten u. a. Der Spiegel, Die Zeit, Freitag, FAZ, SZ, TAZ, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Neues Deutschland sowie das ARD-Kulturmagazin «Titel, Thesen, Temperamente». Diese Liste enthält mehrere Interviews, vor allem mit der Autorin selbst. In einigen Gazetten gab es nicht nur einen einzelnen Beitrag dazu. Ein ostdeutscher Historiker ergriff gleich in mehreren Zeitungen das Wort.

Zum einen spiegelten die Besprechungen und Interviews (insbesondere diejenigen mit der Autorin) das Anliegen wider: Eine solche Darstellung hat gefehlt; es gab in der Geschichtsschreibung offenbar Versäumnisse; das alltägliche Leben muss in einer Weise beschrieben werden, dass es verständlich und nachvollziehbar wird.

Zum anderen kamen zahlreiche Kritiken, teilweise sehr massiv bzw. frontal, zum Ausdruck. In dem Band wäre der aktuelle Forschungsstand nicht adäquat berücksichtigt worden; auf eigene Archivrecherchen sei verzichtet worden; die Opferperspektive spiele keine Rolle; die zahlreichen Zeitzeugen wären als überwiegend «SED-nah» anzusehen (beispielhaft Egon Krenz). Zugespitzt kann man sagen, die Einschätzungen gipfelten in dem Vorwurf, es handele sich um eine Geschichte des Mitläufertums. Einen vorläufigen Höhepunkt der totalen Ablehnung erreichte der Rezensent der Süddeutschen Zeitung, der es vorzog, Schmähungen statt Argumente aufzuschreiben.

Am Pfingstwochenende meldete sich erneut Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung zu Wort. In keinem anderen Land (das Buch war nun parallel in sieben Ländern erschienen) würde derart gespalten über den Text gestritten. Ihre Einschätzung lautet: «Was wir erleben, wirkt in der Tat weniger wie eine Debatte, also ein freier, offener Austausch, sondern eher wie Abwehr, ein Verbarrikadieren in den bekannten Schützengräben.»

Zum Hintergrund des Entstehens des Buches sollten einige Anmerkungen gemacht werden. Die in London lebende und arbeitende Historikern fühlte sich herausgefordert, eine verständliche DDR-Geschichtsdarstellung für ein britisches (englischsprachiges) Publikum zu schreiben. Sie registrierte Defizite, neue Anforderungen, Fehlentwicklungen; sie bemerkte familiäre Kontexte, die ihr persönlich wichtig sind; sie stellte sich ihrer ostdeutschen Sozialisation. Offenbar wurden ihr in London des Öfteren Fragen gestellt: Was war eigentlich diese DDR? Welche Menschen lebten dort? Wie lebten sie? Worin bestanden Anspruch und Wirklichkeit? Was also bleibt?

Das Buch war von Anfang an keine fachwissenschaftliche Monographie als Ergebnis eines Forschungsauftrages, es ging wohl um eine durchaus populär angelegte, so anschaulich wie möglich aufbereitete Publikation, die durchaus in Richtung politische Bildung geht und zudem Spielraum für Diskussionen lässt. Da die Autorin dies engagiert und versiert verwirklichte, wurde der Band zunächst in Großbritannien ein Verkaufserfolg (als Sachbuch).

Vor allem die verlegerischen Interessen führten offenbar dazu, eine Edition in mehreren europäischen Ländern zu starten. In der zweiten Maiwoche erreichte der Titel den Rang 10 der deutschen Sachbuch-Bestenliste. Die Vermarktung funktionierte bisher fast ausschließlich über die medialen Besprechungen und Interviews. Der Erfolg ist in betriebswirtschaftlicher Hinsicht schon bemerkenswert, die Wirkung auf die laufenden Ostdeutschland-Debatten (Oschmann) ebenfalls erstaunlich.

Nochmals ein Verweis auf die Berliner Zeitung (20./21. Mai). Rainer Eckert, ebenfalls ostdeutscher Historiker (mit oppositionellem Hintergrund), lange Zeit Direktor des Leipziger Zeitgeschichtlichen Forums, und Autor eines voluminösen (außerordentlich kritisch angelegten) Bandes über die SED- bzw. DDR-Aufarbeitungsszene seit der Wende («Umkämpfte Erinnerungen», Leipzig 2023), stellt ausdrücklich einen Bezug auf das Buch von Katja Hoyer her: Auch mit ihrem Buch «beginnt eine neue, kritische Auseinandersetzung mit der Stellung der Ostdeutschen in Gesamtdeutschland». Weil: «Die mehr als 30 Jahre lange westdeutsche Dominanz in allen gesellschaftlichen Bereichen schlägt jetzt zurück. (…) Da zeigt sich ein Frust, der jahrzehntelang angestaut wurde.» Behandelt werde bei Hoyer eben der «normale Alltag», ein wichtiges, vernachlässigtes Thema.

Die «neue» DDR-Geschichte (siehe Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe) von Hoyer stieß in eine sich derzeit auftuende Lücke. Fragen nach den Langzeitfolgen der deutschen Zweistaatlichkeit und des Transformationsprozesses danach (insbesondere im Osten) kann man nicht wegwischen. Warum gibt es mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall solche tiefgreifenden Differenzen zwischen Ost und West? Welches Verständnis ist für die im Osten sozialisierten Menschen und die Nachgeborenen notwendig?

Der deutsche Hauptbuchtitel lautet «Diesseits der Mauer», der englische Titel wäre mit «Jenseits der Mauer» zu übersetzen. Wer wird mit «diesseits» also angesprochen? Und die Angesprochenen wurden offenbar erreicht; freilich in unterschiedlicher Prägung. Und den Kritikern fällt auf, dass einige, über die letzten Jahrzehnte entwickelte Gewissheiten angetastet werden.

In den abschließenden Sätzen ihres deutschen Vorworts markiert die Autorin ihr Selbstverständnis: «Die Bürger der DDR lebten, liebten, arbeiteten und wurden alt. (…) Ihr Schicksal verdient einen Platz in der gesamtdeutschen Geschichte. Es ist an der Zeit, einen ernsthaften Blick auf das Deutschland diesseits der Mauer zu werfen.»

Bereits das einleitende Kapitel, darauf hat der Politikwissenschaftler Dieter Segert im Neuen Deutschland» (24. Mai) bereits verwiesen, stellt die Vorgeschichte der DDR lesens- und bedenkenswert dar. Dass die deutschen Kommunisten, seit 1933 verfolgt und von Vernichtung bedroht, seit dem Machtantritt der Faschisten 1933, vom Regen in die Traufe kamen, als viele führende Funktionäre ins Stalinsche Sowjetreich flüchteten, ist nicht unbekannt. Die Prägungen in den Zeiten der Schauprozesse, des GULAG und des gegenseitigen Verrats, um zu überleben, hinterließen tiefe Spuren. Diese Darstellung, für die an manchen Stellen die Erinnerungen Wolfgang Leonhards zitiert werden, erklärt nachvollziehbar, wie sich die KPD-Führer nach Kriegsende mit Moskau arrangieren mussten, und welche politische Mentalität sich herausbildete.

Im Band wird in zehn Kapiteln ein chronologischer Bogen von der «Vorgeschichte» (1918-1945) bis zur deutschen Einheit 1990 gespannt. Dabei wird wenig ausgespart, jedoch nicht alles ausführlich dargestellt. Am Ende ist der Untergangsprozess am Ende der achtziger Jahre recht kurz geraten. Aber diese Zeitphase ist durchaus anderweitig ausführlich und ergiebig abgehandelt worden.

Der Band lässt die vielen negativen Aspekte des realsozialistischen Experiments im Osten Deutschlands nicht aus, die Autoren sieht es selbst so: «Es steht für mich außer Frage, dass die DDR eine Diktatur war. Die man sich keinesfalls zurückwünschen sollte. Trotzdem finde ich es falsch, das Leben dort ausschließlich unter dem Blickwinkel des Unrechtsstaates zu betrachten. Es war vielschichtiger.» (Der Spiegel, H. 19, 6. Mai 2023, S. 45)

Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, übersetzt von Franka Reinhart und Henning Dedekind, Hamburg 2023, 576 S., 28 Euro.