Die Regierungen werden die großen Herausforderungen für die Mehrheit unseres Volkes nicht lösen. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Forderung nach Indigenen Rechten die Machthabenden stört. Indigene Völker sind Feinde des Systems.
Dom Pedro Casaldáliga, Befreiungstheologe und bekannter Menschenrechtsverteidiger in Brasilien, im Jahr 2011
Der Kampf und der Widerstand der indigenen Völker Brasiliens, geführt aus ihren Territorien heraus, haben in den letzten Jahren angesichts der immensen Herausforderungen – der Ausbreitung der wirtschaftlichen Grenzen des Kapitals, der Schwächung der staatlichen Institutionen und des gesellschaftlichen Miteinanders im Land – große politische Handlungsfähigkeit bewiesen.
Zwischen 2019 und 2022 regierte ein rechtsextremes Machtprojekt mit Unterstützung des Militärs, Fundamentalist*innen und wirtschaftlichen Sektoren wie der Agrarindustrie. Diese Zeit markierte zweifellos die größte Offensive gegen die Rechte der indigenen Völker und die stärkste Bedrohung ihrer Territorien und Lebensweisen. Die Entschlossenheit der Bolsonaro-Regierung, alle Demarkierungsprozesse (zur Ausweisung indigener Territorien, Anm. d. Übersetzers) zu stoppen, Maßnahmen zum Schutz indigenen Landes aufzugeben und errungene Rechte zu beschneiden, zeigten schon bald Ergebnisse: Die Gewalt gegen indigene Völker nahm zu.
Luis Ventura Fernández ist Mitarbeiter des Indigenen-Missionsrates (CIMI).
Um diese desaströse Entwicklung zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die Ereignisse der letzten Jahre zu werfen. Nach dem Putsch gegen Ex-Präsidentin Dilma Rousseff der Arbeiter*innenpartei PT im Jahr 2016 ist etwas in Brasilien zerbrochen. Es wurde ein gezielter Abbau und Angriff auf die Institutionen der liberalen Demokratie eingeleitet. Worte wie «Putsch», «Genozid» oder «Faschismus» mussten plötzlich wieder aufgegriffen und neu definiert werden, um erklären zu können, was geschah. Von den Mainstream-Medien wurde die verkürzte und unscharfe Metapher einer Polarisierung zwischen zwei extremen politischen Projekten verbreitet. Tatsächlich hatten wir es jedoch mit einem Prozess des Zerfalls und der Nekropolitik zu tun, ein typischer Ausdruck des Faschismus, in Verbindung mit einer neuen Phase der Expansion des Kapitals über die indigenen Territorien.
In diesem für das ganze Land äußerst komplizierten Kontext starteten die indigenen Völker eine intensive Kampagne in ihren Gebieten, aber auch auf internationaler Ebene. Mit ihrem von politischer Kreativität und moralischer Stärke geprägten Protest entwickelte die indigene Bewegung sich zur aktivsten und am besten organisierten sozialen Bewegung für die Verteidigung von Grundrechten und im Kampf gegen den Autoritarismus.
Chancen und Scheidewege
Die Wahlen im Oktober 2022 waren wahrscheinlich die wichtigsten seit der Redemokratisierung des Landes (im Jahr 1988, Anm. d. Übersetzers). Der gewählte Nationalkongress hat immer noch ein konservatives und reaktionäres Profil, und die rechte und rechtsextreme Basis konnte sogar noch hinzugewinnen. Aber: Die Wahlen führten zum Sturz des Faschismus in der Regierung. Dadurch entstand ein neues Momentum und neue Räume, verbunden mit großen Erwartungen. Das «Neued muss in diesem Fall im Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Jahre verstanden werden, es steht für den ethischen Bruch mit dem unter Bolsonaro vorherrschenden Politik- und Staatsverständnis. Jedoch ist auch die neue Regierung von alten Widersprüchen durchdrungen.
Die Schaffung des Ministeriums für indigene Völker (MPI) ist ein Novum für Brasilien. Das Ministerium übernimmt die wichtigsten Aufgaben im Zusammenhang mit der Gewährleistung der territorialen Rechte der indigenen Völker. Und es ist der Ort, an dem die Rechte der Indigenen formuliert und gefördert werden. Die Nationale Stiftung für indigene Völker (FUNAI) hat zum ersten Mal in seiner Geschichte eine indigene Person als Vorsitzende. Sie hat zum Ziel, ihrem ursprünglichen institutionellen Auftrag zur Förderung der Rechte indigener Völker wieder nachzukommen, mit einem klaren Fokus auf den Territorialrechten. Die Herausforderungen sind immens, denn in den vier Jahren unter Ex-Präsident Bolsonaro wurde die FUNAI systematisch demontiert, und gleichzeitig sind die Erwartungen groß. Zusammen mit dem Ministerium für indigene Völker und der FUNAI hat auch das Sondersekretariat für indigene Gesundheit (SESAI) unter der Führung indigener Vertreter*innen seine Arbeit aufgenommen – nach mehreren Jahren der Militarisierung und Zerstörung des indigenen Gesundheitswesens sowie permanenter Budgetkürzungen.
All diese Entwicklungen haben die Beteiligung der indigenen Völker an Entscheidungsprozessen erweitert und die Beziehungen zwischen Indigenen und dem Staat verändert. Das bringt Chancen aber auch Herausforderungen mit sich, die es zu diskutieren gilt.
Es bleibt zu hoffen, dass im Ergebnis die indigene Politik in den kommenden Jahren gestärkt wird und ihr auf Regierungsebene ein größerer Stellenwert zukommt. Wichtig wird sein, dass die genannten Behörden über die notwendige politische Unterstützung, erforderliche Autonomie und Haushaltsmittel verfügen, um auf die vielseitigen Forderungen reagieren zu können – insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Gewalt gegen indigene Völker und ihre Gebiete auch seit Antritt der neuen Regierung anhält. So hat es bereits in den ersten Januarwochen Drohungen, Mordversuche und Todesfälle in indigenen Gemeinden gegeben. Es ist also davon auszugehen, dass die indigenen Völker sich auch unter der aktuellen Regierung mit alten Herausforderungen und vorhersehbaren Widersprüchen konfrontiert sehen werden – einer Regierung, die sich selbst als frente ampla (breite Front) bezeichnet und die unterschiedlichste Interessen zusammengebracht hat, um den Faschismus abzuwählen.
Zahlreiche Projekte der Regierung stehen für die Kontinuität eines entwicklungspolitischen Modells, das bereits die ersten Amtszeiten Lulas prägten. So sind zum Beispiel geplante Infrastrukturprojekte für den Transport von Rohstoffen zu nennen, die indigene Gebiete durchqueren oder direkt betreffen, ebenso die Ausweitung der landwirtschaftlichen Grenzen, die Intensivierung des Bergbaus oder die Suche nach Öl an der Mündung des Amazonas. Das wird Konflikte mit den indigenen Völkern nach sich ziehen. Zur Kontinuität dieses Wirtschaftsmodells gesellt sich das Vorhaben der Regierung, Initiativen zur Kommerzialisierung der Gemeinschaftsgüter und zur Förderung von Emissionshandel voranzutreiben. Es handelt sich hierbei jedoch um falsche Lösungen für die Klimakrise, die mit der ursächlichen Logik des extraktivistischen Produktionsmodells nicht brechen.
Eine letzte Herausforderung, der sich die indigenen Völker und ihre Regierungsvertreter*innen stellen müssen, muss hier noch genannt werden. Die Regierung neigt aufgrund ihres Charakters der «breiten Front» dazu, politischen Konsens über einen «Interessenausgleich» zu suchen. So nimmt der Staat eher die Rolle eines angeblichen «Vermittlers» antagonistischer Interessen ein und weniger die eines Garanten von Rechten. Aber die territorialen Rechte der indigenen Völker dürfen nicht zur Disposition stehen. Nach Daten des Indigenen-Missionsrats (CIMI) gab es im Jahr 2021 noch 871 Gebiete, die die verfassungsrechtlich festgeschriebene Ausweisung und Anerkennung nicht abgeschlossen hatten. Für mindestens 598 dieser Gebiete ist noch kein Verwaltungsverfahren eingeleitet worden. 143 Gebiete warten auf den Abschluss der Identifizierungs- und Abgrenzungsarbeiten, 44 Gebiete sind bereits identifiziert, warten aber noch auf die Deklarationsverordnung und 73 indigene Gebiete sind bereits ausgewiesen, warten aber noch auf die Genehmigung durch die Regierung.
Buen vivir – das gute Leben – als Veränderungshorizont
Die politischen Veränderungen in Brasilien eröffnen reale Möglichkeiten, bei der Gewährleistung von indigenen Rechten voranzukommen. Aber es ist unbedingt notwendig, dass die indigenen Völker und ihre organisatorischen Instanzen genauso wie ihre Verbündeten ihre Autonomie bewahren, die ihnen ermöglicht, die beständigen und eigenen Räume – wie die der Bewegung – nicht mit den vorübergehenden Räumen der Beteiligung – wie denen der Regierung – zu verwechseln. Die Partizipation indigener Vertreter*innen in den Entscheidungsstrukturen der Regierung eröffnet neue Möglichkeiten und führt de facto zu mehr Bewusstsein in den Institutionen. Allerdings muss eine Vereinnahmung „des historischen Aufbegehrens" der indigenen Völker durch die instrumentelle Logik des Staates vermieden werden.
Um in diesem scheinbar günstigen Moment Fortschritte bei der Gewährleistung der territorialen Rechte zu erzielen, ist es für die indigenen Völker unabdingbar, ihren widerständischen Einsatz mit derselben Kreativität und politischen Kraft fortzusetzen, die sie immer bewiesen haben. Ihre Proteste werden erfolgreicher sein, wenn es ihnen gelingt, den Fokus und strategische Ziele klar im Auge zu behalten, zum Beispiel die Verhinderung des Marco Temporal-Gesetzes (Gesetzesinitiative, die gerade im Parlament diskutiert wird und die Rechte von Indigenen massiv einschränken könnte, Anm. d. Übersetzers).
Abschließend ist es wichtig zu verstehen, dass der Kampf der indigenen Völker von der Kolonialisierung bis in die Gegenwart die politischen Konjunkturen einzelner Regierungen und historischer Momente überdauert hat. Eine Regierung mag wichtig sein, um in bestimmten Punkten voranzukommen. Aber der Horizont des Kampfes der indigenen Völker ist und war immer ein alternativer und kontrahegemonialer Horizont: die Perspektive einer pluralen Gesellschaft, einer radikalen Demokratie und einer Logik des buen vivir, ausgehend von der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe. Diese Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren, vor allem im gegenwärtigen, scheinbar günstigen historischen Moment, wird weiterhin der Hauptmotor des Widerstands der indigenen Völker sein.