In Guatemala wird am 25. Juni 2023 ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Doch schon im Vorfeld der Wahlen hat das Oberste Wahlgericht den Wähler*innen die eine oder andere Entscheidung abgenommen: die Liste der möglichen Kandidat*innen schrumpft immer weiter. Und das ist nicht der einzige Grund, weshalb die Aussichten für Guatemalas Demokratie immer düsterer werden.
Carlos Pineda heißt der dritte Kandidat, dem Ende Mai vom Verfassungsgericht in letzter Instanz das Recht verweigert wurde bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Die Entscheidung der höchsten Rechtsinstanz Guatemalas kommt wenig überraschend, denn in dem mittelamerikanischen Land entscheiden nicht allein die Wähler*innen an den Urnen, sondern derzeit mischen gleich zwei Gerichte bei der Frage mit, wer die oder der kommende Präsident*in wird – und beeinflussen so den Wahlausgang.
Knut Henkel ist freier Journalist und Publizist und schreibt regelmäßig aus und über Lateinamerika.
Seit Monaten werden immer wieder Kandidat*innen aus durchsichtigen Gründen vom Obersten Wahlgericht (Tribunal Supremo Electoral, TSE) und dem Verfassungsgericht von der Wahl ausgeschlossen. Carlos Pineda, ein konservativer Unternehmer, der Anfang Mai alle Umfragen für die liberal-konservative Partei Prosperidad Ciudadana (zu Deutsch etwa: «Wohlstand für Bürger*innen») anführte, reagierte per Tweet auf die Verhinderung seiner Kandidatur: «Die Korruption hat gewonnen, Guatemala hat verloren». Pinedas Ausschluss wird mit Verstößen gegen das Wahlrecht begründet. Fehlende Unterschriften von Parteidelegierten und ein fehlender Finanzbericht werden vom Wahlgericht TSE moniert und die Entscheidung vom Verfassungsgericht bestätigt.
Spätestens jetzt steht der Vorwurf der Willkür in Guatemala im Raum, denn auch der konservative Kandidat Roberto Arzú musste auf Verfügung der Gerichte seinen Wahlkampf vorzeitig beenden. Gleiches gilt für die einzige indigene Kandidatin Thelma Cabrera. Sie galt als aussichtsreichste Kandidatin der uneinigen Linken und hatte 2019 bei den Präsidentschaftswahlen als Vierplatzierte, nur knappe 4 Prozent bzw. 1 Prozent hinter den Zweit- und Drittplatzierten, für Schlagzeilen gesorgt. «Wir sind aus politischen Gründen aus dem Wahlkampf ausgeschlossen worden», ist sich Jordán Rodas, Vizepräsidentschaftsanwärter an der Seite von Thelma Cabrera, sicher. Rodas, bis August 2022 Ombudsmann für Menschenrechte, wurde die Kandidatur verweigert, weil das von seiner ehemaligen Dienststelle ausgestellte Finiquito, ein Dokument, das Staatsangestellten den korrekten Umgang mit öffentlichen Mitteln bescheinigt, vom TSE als ungültig deklariert wurde. Das war der Grund, weshalb das Wahlgericht das Duo Cabrera-Rodas ausschloss. Und es steht noch ein weiteres Ausschlussverfahren im Raum: Edmond Mulet, Kandidat der konservativen Partei Cabal, könnte zum vierten Präsidentschaftskandidaten werden, der aus dem Wahlkampf ausscheidet. Der ehemalige UN-Diplomat und seine Partei warten derzeit auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts. Sollte diese gegen ihn fallen, würden die Wahlumfragen wieder neu gemischt. Die führte bis Ende Mai Carlos Pineda vor der ehemaligen First Lady Sandra Torres und Edmond Mulet an. Auf dem vierten Platz lag zu diesem Zeitpunkt Zury Ríos, Tochter des ehemaligen Diktators Efraín Ríos Montt.
Eine Frau für den «Pakt der Korrupten»?
Zury Ríos könnte die Kandidatin des Kreises sein, der in Guatemala den Ton angibt: der «Pakt der Korrupten». Hinter dem in Guatemala gängigen Begriff verbergen sich Ex-Militärs, korrupte Politiker*innen und Mitglieder der wirtschaftlich einflussreichen Familien des Landes sowie der organisierten Kriminalität. Letztere häuft nicht nur mit dem Schmuggeln von Drogen in Richtung USA Macht, Geld und Einfluss an. Dafür, dass auch Zury Ríos mit Verbindungen zu diesem Kreis unterhält, spricht die Tatsache, dass die vom «Pakt der Korrupten» kontrollierten Gerichte sie zur Wahl zugelassen haben. Angehörige von ehemaligen Gewaltherrscher*innen dürfen eigentlich laut Verfassung nicht für das höchste Staatsamt kandidieren. Bei Zury Ríos ist das anders und genau deshalb ist es wahrscheinlich, dass sich die Tochter des im April 2018 verstorbenen Ex-Diktators Efraín Ríos Montt mit dem «Pakt der Korrupten» arrangiert hat, meint der ausgeschlossene Vizekandidat Jordán Rodas aus dem spanischen Bilbao. Dort lebt der Jurist im unfreiwilligen Exil und überlegt, ob er um politisches Asyl bitten soll. «Sicher ist, dass ich, aber auch meine Familie in Guatemala gefährdet ist. Das zeigt das Beispiel von Staatsanwältin Virgina Laparra, aber auch das der Anwälte von José Rubén Zamora», sagt Rodas.
Guatemala ist zu einem autoritären Staat geworden, befindet sich auf dem Weg in eine Diktatur.
Laparra sitzt seit Februar 2022 in Untersuchungshaft, weil sie angeblich ihre Kompetenzen überschritten hatte. Sie hatte einen korrupten Richter angezeigt. Und die beiden Anwälte Justino Brito und Juan Francisco Foppa haben den Direktor der Tageszeitung elPeriódico, José Rubén Zamora, gegen den Vorwurf der Geldwäsche verteidigt. Schon das Abstreiten und Widerlegen der Anschuldigungen gegen den Gründer von elPeriódico, der am 14. Juni zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde und sich als politischen Gefangenen bezeichnet, reicht, um verhaftet zu werden. «Wie will man ein Land nennen, in dem Präsidentschaftskandidat*innen von den Wahlen ausgeschlossen werden, in dem die Presse kriminalisiert wird und die Justizangestellten im Dutzend gehen?» fragt Jordán Rodas mit einem bitteren Lächeln. Die Antwort liefert der Menschenrechtsexperte selbst: «Guatemala ist zu einem autoritären Staat geworden, befindet sich auf dem Weg in eine Diktatur». Während seines Amtes als Ombudsmann hatte er sich für die Menschenrechte und für eine unabhängige Justiz engagiert.
Von der ist kaum etwas übrig, so der renommierte Richter Miguel Ángel Gálvez. Für den 64-Jährigen sind es die alten Parallelstrukturen aus Militärs und erzkonservativen Unternehmerzirkeln, die das Land ähnlich wie im Bürgerkrieg (1960-1996) wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. «Hier hat es einen beispielslosen Rollback zwischen dem unfreiwilligen Rücktritt von Präsident und Ex-General Otto Pérez Molina im Jahr 2015, und dem Auftakt des Wahlkampfes im Dezember 2022 gegeben. Alle öffentlichen Institutionen werden kontrolliert und gesteuert – die letzte, die kippte, war die Ombudsstelle für Menschenrechte unter Jordán Rodas», erklärt Gálvez. Wie die Strukturen verlaufen ist Gálvez letztlich erst in ganzer Tragweite klar geworden, als er sich mit dem Diario Militar beschäftigen musste. Das Diario Militar ist ein Dokument, das Namen, persönliche Informationen zur Familie und den politischen Aktivitäten von 183, später 195 Personen enthält, die größtenteils in den 80er Jahren gewaltsam verschwunden gelassen wurden. Die Karteikarten gelten als «Artefakt der Techniken des staatlichen Terrors» und die höchste juristische Institution der Region, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, hat den guatemaltekischen Staat 2012 dazu verurteilt, die darin dokumentierten Verbrechen aufzuklären. Dafür war Miguel Ángel Gálvez mitverantwortlich. Er kümmerte sich um die Beweisaufnahme, grub sich immer tiefer in die Materie ein und wurde immer unbequemer für die dahinterliegenden militärisch-ökonomischen Netzwerke und die Liste der angeklagten ranghohen Militärs.
Letzter Ausweg: Exil
Das sorgte dafür, dass Gálvez über Monate bedroht und ausspioniert wurde und Mitte November 2022 schließlich das Handtuch warf. Er floh nach Deutschland, weil er in Guatemala nicht mehr sicher war und nicht wie Kollegin Laparra in einer kleinen, dunklen Zelle ohne Tageslicht landen wollte. Das eint ihn mit Jordán Rodas und etlichen anderen Jurist*innen und Aktivist*innen, die Guatemala gen Costa Rica, die USA oder auch Europa verlassen haben. «Es gibt so etwas wie einen Rachefeldzug gegen Richter*innen, Staatsanwält*innen, aber auch Journalist*innen, die nur ihre Arbeit gemacht haben. Wer nicht rechtzeitig das Land verlässt, geht ein hohes Risiko ein», so Rodas. Er ist im August 2022 ausgereist, allerdings heimlich auch wieder ein. Rodas hat sich auf der Versammlung der linken Partei Movimiento para la Liberación de los Pueblos («Bewegung für die Befreiung der Völker», MLP) im Dezember zum Vizepräsidentschaftskandidaten an der Seite der indigenen Kandidatin Thelma Cabrera wählen lassen. Das war mutig, aber auch gewitzt. Kaum jemand in Guatemala wäre auf die Idee gekommen, dass Rodas sich persönlich den Delegierten auf dem MLP-Parteitag zur Wahl stellen würde. Doch genau so kam es.
Eventuell ein Grund, weshalb das Duo Cabrera/Rodas letztlich nicht zugelassen wurde. Aus Perspektive des «Pakts der Korrupten» war das Duo zu gefährlich. Für Rodas war es trotzdem eine Überraschung, dass sich der «Pakt der Korrupten», dessen Interessen auch der amtierende Präsident Alejandro Giammattei vertritt, offen gegen einen fairen Wahlkampf entschieden hat. Das könnte laut Rodas wie ein Brandbeschleuniger wirken und massive soziale Proteste hervorrufen. «Die Menschen haben die Nase voll von den autoritären Strukturen in Guatemala. Die Mächtigen glauben, dass die Bevölkerung alles schlucken wird, aber dem ist nicht so. Das Risiko einer sozialen Explosion steigt», glaubt Rodas. Über Wochen hat er in Bilbao auf gepackten Koffern gesessen, wollte Wahlkampf machen, hoffte, dass das Verfassungsgericht Cabrera und ihn letztlich zulassen würde, dass es zumindest eine Chance geben würde den politischen Wandel einzuleiten. Geschichte. Der de facto herrschende «Pakt der Korrupten» reagiert kaum noch auf Kritik von außen: egal ob sie aus den USA, der Europäischen Union, der Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) oder von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kommt. Alle genannten haben sowohl die Angriffe auf kritische Medien wie elPeriódico und den Ausschluss der drei oder womöglich auch vier Präsidentschaftskandidat*innen deutlich kritisiert.
«Doch der Effekt ist gleich Null», erklärt Julia Corado, die bis Mitte Mai die Redaktionsleiterin von elPeriódico war. Da stellte die Tageszeitung, die zur gewohnten morgendlichen Lektüre derjenigen gehörte, die gegen Korruption und für ein demokratisches Guatemala stimmten, ihr Erscheinen ein. Ein Verlust für die demokratischen Strukturen, der für Jordán Rodas kaum aufzufangen ist. Für ihn sind die Perspektiven für das Land düster, denn bisher zeichnet sich nicht ab, dass die USA oder die EU aktiv werden. Daran werden die mehr oder minder offen manipulierten Wahlen nicht unbedingt etwas ändern.
Update 27.6.2023: Ein Sieg der «Voto Nulo»
Überraschung: Niemand hat damit gerechnet, dass es Bernardo Arévalo als Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partei Semilla (Movimiento Semilla) mit 11,8 Propzent der Stimmen in die Stichwahl gegen die ehemalige First Lady Sandra Torres (15,8 Prozent) von der UNE (Unidad Nacional de Esparanza) geschafft hat. Jüngste Umfragen hatten ihm zwar deutliche Zugewinne prognostiziert, aber dass er nur 4 Prozent hinter Torres liegen würde, war so nicht abzusehen. Ohne jeden Zweifel, ein deutlicher Ausdruck für den Protest gegen den «Pakt der Korrupten», für ein nicht weiter so.
Deutlicher Wahlsieger mit 17,4 Prozent ist jedoch der Voto Nulo, in Guatemala nicht Synonym für die ebenfalls existierende Kategorie der ungültigen Stimmabgabe (Voto Inválido, 4,1 Prozent). Zum Voto Nulo hatte für die Präsidentschaftswahl nur die Bewegung zur Befreiung der Völker MLP (Movimiento para la Liberación de los Pueblos) aufgerufen, nachdem ihre Präsidentschafts- bzw. Vizepräsidentschaftskandidatur, in Person des ehemaligen Menschenrechts-Ombudsmannes, Jordán Rodas, als erste, mit fadenscheinigen Argumenten, vom Obersten Wahlgericht nicht zugelassen wurde.
Und dann gibt es noch die Kategorie des Voto en Blanco (ein abgegebener Wahlzettel ohne jegliche Markierung), die 7 Prozent erlang. Voto Nulo und Voto en Blanco werden in Guatemala zu den gültigen Stimmabgaben gezählt. Zusammen erreichen sie jetzt 24,4 Prozent, in 2019 waren es 13,2 Prozent.
Dieter Müller, Mexiko Stadt