1955 wurde das erste Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte zwischen Italien und der Bundesrepublik unterzeichnet. Eine der Hochburgen der Arbeitsmigration aus Italien war das erst 1938 von den Nazis gegründete Wolfsburg mit seinem VW-Werk. Aus Anlass der 60. Wiederkehr der ersten organisierten Ankunft von ItalienerInnen 1962 fand im Sommer 2022 eine größere Ausstellung des städtischen Institut für Zeitgeschichte und Stadtrepräsentation im Wolfsburger Rathaus statt, zu der nun nachträglich die Publikation erschienen ist (1).
Darin werden reich bebildert zwölf unterschiedliche Lebenswege erzählt, neun von Männern und drei von Frauen. Alle waren im Rahmen eines Oral History Projektes befragt worden. Fünf der neun Männer haben eine deutsche Ehefrau. Von den 1960er bis in die 1980er Jahre beträgt der Anteil der in Wolfsburg geschlossenen Ehen, in denen ein Partner nicht-deutsch ist, fünf Prozent, dann steigt diese Zahl sogar noch an.
Die Texte berichten von Arbeit, Familie und Freizeit, und auch von Politik. Ergänzt werden diese eher persönlichen Texte mit zwölf Essays, in denen zum Beispiel binationale Eheschließungen, Existenzgründungen von italienischen EinwanderInnen oder die Italianisierung der (bundes-)deutschen Esskultur dargestellt werden.
Die Zentralisierung von mehreren tausend ItalienerInnen an einem Ort erleichtert das Community-Building und auch die kulturell-politische Organisierung. Bereits 1964 wird das Centro Italiano gegründet. 1965 wird der 1937 geborene Lorenzo Annese in den Betriebsrat bei VW gewählt, er gilt als erster "ausländischer" Betriebsrat in Deutschland (2). Gleich Ende 1962 gibt es einen «wilden» Streik, die Namen der vermeintlichen Radelsführer werden an das italienische Generalkonsulat in Hamburg weitergegeben (S. 179).Viele der im Band vorgestellten Personen sind gewerkschaftlich aktiv, engagieren sich dann in der Stadt und auch in der Parteipolitik auf kommunaler Ebene. Rocco Artale, geboren 1940, wird zum Beispiel 1974 Gewerkschaftssekretär der IG Metall. Heute leben in Wolfsburg circa 8.000 Personen mit italienischen Wurzeln, das entspricht circa 8 Prozent der EinwohnerInnen. Die drei weiblichen Stimmen im Buch zeigen eine größere Vielfalt als die Männer: Giuseppa, 1960 geboren, kommt im Alter von 18 Jahren nach Wolfsburg; Virgina, geboren 1958, als Kind und Lidia wird 1970 schon dort geboren.
Der Band präsentiert die Einwanderung als Erfolgsgeschichte, als Integration durch Mitbestimmung und Partizipation und damit auch als einen Prozess der Ermächtigung. Das ist nicht nur deswegen legitim, weil die hier präsentierten EinwandererInnen diese auch als solche erlebten - und erzählen. Die Anlage des populärwissenschaftlichen Bandes zeigt aber auch die Problematik auf, die ein solcher Fokus auf Integration und Repräsentation («Wir gehören auch dazu») mit sich bringt. Zum einen wird auch hier meist die Geschichte von MigrantInnen als Geschichte von (und durch) GewinnerInnen geschrieben. Dass die große Mehrheit der Eingewanderten wieder zurückkehrte (S. 60) fällt mehr oder minder unter den Tisch. Für viele in den 1950er und 1960er Jahren war es auch das formulierte Ziel, mit harter Arbeit in absehbarer Zeit relativ viel Geld zu verdienen und zurück zu kehren. Tim Zumloh spricht davon, dass im Rahmen von „Anwerbeabkommen“ zwischen 1955 und 1973 circa 14 Millionen Menschen in die Bundesrepublik gekommen sind, und von diesen (nur) zwei bis drei Millionen dauerhaft geblieben seien. (3) Zum zweiten wird die Geschichte von Arbeitsmigration und Einwanderung in die Nationalgeschichte eingeschrieben, mit allen Implikationen von Homogenisierung und Exklusion.
Seine Qualität gewinnt der Band trotz dieser partiellen Kritik aus der gelungenen Mischung aus Texten, die gesellschaftliche Verhältnisse beschreiben, und jenen, die Biografien darstellen, in denen es um Loslassen und Ankommen, oder auch um Heimweh geht. In ihnen wird Geschichte durch Geschichten erzählt. Geschichten die zeigen, dass Lebenswege zurückgelegt wurden, und manchmal auch Dinge zurück- im Sinne von weggelegt werden (müssen).
Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski und Anita Placenti-Grau (Hrsg.): Percorsi di vita. Lebenswege nach Wolfsburg; Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 208 S., 212 z.T. farb. Abb., 35 Euro
(1) Andere Orte wählte Olga Sparschuh in ihrer vielbeachteten Dissertation, in der sie die Migration von ItalienerInnen nach Turin und München zwischen 1950–1975 untersucht: Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Migration in Turin und München (1950–1975), Göttingen 2021. Einen ersten und kurzen Eindruck ihrer Arbeit bietet die Broschüre Für eine europäische Geschichte der Arbeit, die als PDF Open Access ist.
(2) Lorenzo Annese: Vita da Gastarbeiter. Von Apulien zu VW in Wolfsburg; Bonn 2022.
(3) Tim Zumloh: Westfälische Migrationsgeschichte erschließen. Herausforderungen der Geschichte der (post)migrantischen Gesellschaft, 21.4. 2023 (Zugriff 12.8. 2023)