Das geplante Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) ist kein neuer Skandal, sondern die Fortsetzung einer seit Jahrzehnten von rechten und sozialdemokratischen Parteien verfolgten Politik, die Grenzgewalt und Sterben an den EU-Außengrenzen billigend in Kauf nimmt. Auch deshalb funktioniert das Skandalisieren von Grenzauslagerung auf Grundlage humanitärer und legalistischer Rhetorik wie jüngst mit Tunesien nicht mehr, schließlich hat das schon bei der Aufrüstung libyscher und ägyptischer Polizeibehörden und Milizen im Sudan nicht funktioniert. Es braucht dringend neue Narrative, um der Grenzgewalt wirksamer etwas entgegenzusetzen.
Sofian Philip Naceur ist Projektmanager im Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet als freier Journalist.
Wird die weitreichende Neuregelung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in der derzeit auf dem Tisch liegenden Fassung ratifiziert, werden das Grundrecht auf Asyl und das 1967er Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention von 1951 EU-weit in bisher beispielloser Manier ausgehebelt und de facto und de jure demontiert. Linke und progressive Stimmen zeigten sich zuletzt entsetzt und teils überrascht über die widerstandslose Unterstützung der „Reform“ durch die Ampelkoalition in Berlin und andere liberale EU-Regierungen sowie die unmittelbar anschließende Anbahnung eines neuen Deals zur Flüchtlingsabwehr mit Tunesien – und das, obwohl bereits der Koalitionsvertrag von 2021 deutlich die substantielle Aushöhlung des Asylrechts und den Ausbau der EU-Grenzauslagerung als Ziele der laufenden Legislaturperiode artikuliert. Asylprozeduren in Drittstaaten durchzuführen soll „geprüft“ werden, heißt es beispielsweise in dem Papier.
Lange hat sich die Empörung gegen die Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf Figuren oder Parteien aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum konzentriert. Das geplante GEAS ist jedoch die konsequente Fortsetzung einer seit Jahrzehnten auch von sozialdemokratischen und liberalen Parteien verfolgten Politik. Konzepte wie „Migrationsmanagement“ – eine euphemistische Bezeichnung für die Illegalisierung von Flüchtlingen bei gleichzeitiger systematischer Filterung von Migrationsbewegungen zum Nutzen europäischer und anderer industrieller Volkswirtschaften – wurden nicht allein im konservativen und rechten Milieu entwickelt, sondern maßgeblich von sozialdemokratischen Parteien. Nicht zufällig wurde der Grenzregimedienstleister International Center for Migration Policy Development (ICMPD) mit Sitz in Wien zwischen 1993 und 2004 von einem schwedischen Sozialdemokraten geleitet, während die Organisation seit ihrer Gründung Anfang der 1990er entscheidend daran beteiligt war, die Konzepte des Migrationsmanagements im politischen Mainstream Europas zu etablieren.
Die Zeiten einer zumindest partiell erfolgreichen humanitär-legalistischen Skandalisierung sind vorbei, wir brauchen neue Gegenstrategien.
Derweil war es die damals oppositionelle SPD, die ebenso wie die FDP 1993 im Bundestag ihre Zustimmung zum sogenannten „Asylkompromiss“ gab, einer Grundgesetzänderung, die bis heute als schwerwiegendste Einschränkung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland gilt. Dass nun SPD und FDP abermals die Axt an das Asylrecht anlegen, ist folglich alles andere als überraschend. SPD-Politiker*innen hatten dabei bereits in den frühen 1980er Jahren von „Fluten unechter Asylsuchender“ schwadroniert und schamlos direkt dafür plädiert, „das Asylrecht drastisch einzuschränken“ und die „Beschränkung des Asylrechts auf Bürger*innen europäischer Länder“ in Betracht zu ziehen. 41 Jahre später drohen derlei „Vorschläge“ in Form des GEAS nun tatsächlich Realität zu werden – nur rhetorisch weniger offen rassistisch formuliert.
Der Geist von 1951
Während das GEAS die individuelle Asylprüfung vollständig abzuschaffen droht und gefährliche Notstandsregeln etablieren könnte, beobachten wir nun auch formell die Rückkehr zum Ursprung der heute gültigen Architektur der internationalen Flüchtlingsgesetzgebung. Der wenig universelle Umgang mit einerseits europäischen und andererseits nicht-europäischen Flüchtenden, der mit Russlands Invasion in der Ukraine deutlich geworden ist, sorgte zwar hier und da für Empörung, steht aber im Einklang mit dem ursprünglichen Geist der Genfer Konvention von 1951. Schließlich war diese ausschließlich auf europäische Kriegsflüchtlinge zugeschnitten und wurde erst mit dem Zusatzprotokoll von 1967 zu einer universellen, weltweit anwendbaren Rechtsgrundlage aufgewertet. Die EU-Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte, vor allem aber seit 2022, führt nun unmissverständlich vor Augen, dass der Geist der Genfer Konvention von 1951 – nicht jener des Zusatzprotokolls von 1967 – in Hauptstädten und Gesellschaften der EU immer noch tonangebend ist.
Grenzgewalt in Tunesien
Dass das humanitär-legalistische Skandalisieren von Grenzauslagerungsdeals wie jüngst mit Tunesien nicht funktioniert, hat schon die Aufrüstung libyscher und ägyptischer Polizeibehörden oder Milizen im Sudan gezeigt. Der schiere Umfang der jüngst initiierten Grenzauslagerungsdeals mit Tunesiens immer autoritärer regierendem Präsidenten Kais Saïed stellen allerdings sämtliche bisherigen polizeilichen Ausrüstungs- und Ausbildungsprogramme von EU und EU-Mitgliedsstaaten weit in den Schatten. Saïed hatte erst im Februar mit einer vor rassistischer Hetze und kruden Verschwörungstheorien triefenden Erklärung eine wochenlange Gewaltwelle gegen Flüchtlinge und Migrant*innen in Tunesien ausgelöst, die diese seither in einer bisher beispiellosen Intensität zur Flucht aus dem nordafrikanischen Land drängt.
Die EU bedankt sich für den harten und polemischen Kurs gegen Flüchtlinge und Migrant*innen mit einer Stabilisierung von Saïeds Präsidentschaft in Form von politischer Unterstützung, Krediten, Budgethilfen und Polizei- und Überwachungsausrüstung – und das in Zeiten, in denen das Innenministeriums in Tunis als mächtiger anti-demokratischer Akteur an Einfluss im Land gewinnt. Der regelrechte Exodus Geflüchteter, die sich weiterhin täglich auf wackeligen Booten in Richtung Italien in Sicherheit zu bringen versuchen, geht dabei unvermindert weiter.
Wirkungslose Skandalisierung
Das Muster ist bekannt: Trotz detailliert dokumentierter Menschenrechtsverbrechen der in die Migrationsabwehr eingebundenen libyschen Behörden haben EU und EU-Mitgliedstaaten schon vor Jahren damit begonnen, die sogenannte „libysche Küstenwache“ aufzurüsten. Gleiches gilt für den für seine systematischen Menschenrechtsverstöße berüchtigten ägyptischen Polizei- und Geheimdienstapparat oder die derzeit einen blutigen Krieg im Sudan führenden Rapid Support Forces (RSF), eine Miliz, die für schwerste Menschenrechtsverbrechen in Darfur verantwortlich ist und trotzdem in das EU-Grenzregime in Nord- und Ostafrika integriert worden ist.
Wenn die Anprangerung der Folterpraktiken des al-Sisi-Regimes in Kairo, der Gewalt gegen inhaftierte Geflüchtete durch libysche Milizen oder der Verbrechen der RSF schon nicht mehr für Aufmerksamkeit sorgen, und rund 600 Tote in griechischen Gewässern in einigen Tagen aus der Tagespresse verschwunden sein werden, kann auch das Skandalisieren des Grenzauslagerungsdeals mit Tunesien und der Grenzgewalt in dem kleinen Land nicht funktionieren. Die Zeiten einer zumindest partiell erfolgreichen humanitär-legalistischen Skandalisierung sind vorbei, wir brauchen neue Gegenstrategien – gegen Deals mit Autokrat*innen, das GEAS und ein exklusives Verständnis von Flüchtlingsschutz.