Jules Joanne Gleeson lebt in Wien, ist Historiker*in, Stand-Up-Comedian und Autor*in. Elle O’Rourke ist kritische Ökonom*in und arbeitet zu Fragen von Gender Theory und Finanzmarktkapitalismus. Sie ist Mitgründer*in des Magazins New Socialist. Zusammen haben beide den für eine neue trans*marxistische Diskussion wegweisenden Sammelband «Transgender Marxism» (Pluto Press 2021) herausgegeben.
Mit ihnen sprachen Lia Becker und Chris Neuffer über Kämpfe, Überzeugungen und Gewissheiten.
Ihr habt 2021 den Sammelband «Transgender Marxism» herausgegeben. Marxismus und trans*bezogene Themen wurden lange eher getrennt voneinander diskutiert. Was ist mit dem Begriff gemeint?
Elle: Ich sehe trans* Marxismus nicht als eine kohärente Theorie, sondern als eine Reihe von Antworten auf sich überlagernde Probleme: die Unterdrückung von trans* Personen, Marginalisierung oder die sozialen Prozesse von «Transitionen».[1] Alle Autor*innen des Sammelbands gehen da unterschiedlich heran. Was sie aber eint ist die Überzeugung, dass der Marxismus besser als jede andere Gesellschaftstheorie geeignet ist, diese Fragen zu verstehen.
Jules: Einfach ausgedrückt, sieht trans* Marxismus die Überwindung der Unterdrückung von trans* Personen untrennbar verbunden mit der Überwindung der Klassengesellschaft. Die eine kann ohne die andere nicht erkämpft werden.
Warum sind marxistische Theorie und Praxis für trans* Communitys wichtig?
Jules: Wir hatten absolut keine Schwierigkeiten, Autor*innen für unser Buch zu finden. Wir sind alle von verschiedenen Orten und Traditionen her zu kommunistischen Politiken gekommen, doch jede*r von uns stieß dabei auf die gleichen Probleme: den Staat, die Polizei, Klassenunterschiede, strukturellen Rassismus und nationale Grenzregime. Jedes dieser Probleme verlangt nach einer übergreifenden Antwort, ohne die diese politischen Kämpfe scheitern müssen. Marxismus ermöglicht eine systemische Sichtweise, mit der wir die schwer greifbaren Dimensionen der Klassengesellschaft erfassen, ohne die unmittelbare sinnliche Erfahrung aus dem Blick zu verlieren. Theorie darf nicht bedeuten, dass wir wählen müssen zwischen unserem Gehirn oder unseren Drüsen, unserem Intellekt oder unserem Nervensystem, unseren Leidenschaften oder unserem Verständnis von politischer Ökonomie. Das wäre eine falsche Gegenüberstellung.
Elle: Es wäre oberflächlich und falsch, aus Transitionen als solchen ein revolutionäres Potenzial konstruieren zu wollen. Aber eine Transition ist eine zutiefst persönliche und intime Praxis, die oft einen Bruch mit vielem erfordert, was vorher war, weil sie fast jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens berührt. Man muss sich mit sich selbst, der Familie, den Ärzt*innen, der Schule, den Arbeitgeber*innen und dem Staat neu arrangieren.
Selbst trans* Personen, die es aufgrund ihrer Klassenherkunft leichter haben als andere, können schnell aus der Bahn geworfen werden. Das bringt oft einen ausgeprägten Sinn für Ausbeutung mit sich, eine stärkere politische Wertschätzung für körperliche Autonomie und den Wunsch, sich mit denjenigen zusammenzutun, die all das ebenfalls ändern wollen.
In den letzten Jahren hat die marxistisch-feministische Theorie ein Revival erlebt und viele Aktivist*innen inspiriert. Wie seht ihr die Beziehung zwischen materialistischen Feminismen, trans* Feminismus und trans* Marxismus?
Elle: In gewissem Sinne entstehen trans* Marxismus oder trans* Theorie aus einem produktiven Antagonismus zur feministischen Theorie. Denn weite Teile feministischer Theorie bleiben gegenüber den Perspektiven von trans* Menschen gleichgültig – oder begegnen ihnen gelegentlich sogar mit offenem Hass. Dabei gibt es viele Berührungspunkte zwischen feministischen Diskussionen und trans* Marxismus: Debatten über Reproduktionsarbeit, psychoanalytische Zugänge zu Geschlecht und Familie, die soziale Figur der Mutter in herrschenden Geschlechterverhältnissen, aber auch die Arbeit der Reproduktion von "Geschlecht" als solchem. Feministische Theorie ist daher durchaus ein Feld, das viele trans* Menschen zutiefst berührt hat. Sie spricht uns an, auch wenn sie nicht von uns handelt, aus der stillen Erkenntnis heraus, dass die Unterschiede zwischen uns weniger wichtig sind als unsere Gemeinsamkeiten.
Es gibt eine große Verzweiflung angesichts die jüngsten Entwicklungen, was verständlich, aber auch unproduktiv ist.
Jules: Der für unsere Zwecke nützlichste feministische Essay der letzten Zeit ist meines Erachtens Jacqueline Roses «Who Do You Think You Are?» aus dem London Review of Books. Rose vertritt darin die These, dass trans* Politiken entweder eine «desintegrative» oder eine «restaurative Perspektive» gegenüber der herrschenden Geschlechterordnung einnehmen können.[2] Das Gleiche gilt für den materialistischen Feminismus: Autorinnen wie Monique Wittig betrachten lesbisches Leben als einen «Einspruch» gegen Frausein und stellen sich damit gegen konkurrierende Traditionen, die lesbische Liebe als die höchste, reinste Form des Frauseins betrachten.
Feminismus ist ebenso wenig wie Marxismus einheitlich und eine vollständige Reinigung unserer Politiken von problematischen Elementen ist nicht möglich: Daher denke ich, dass es besser ist, nach Überschneidungen mit existierenden Feminismen zu suchen, als sich streng gegen seine trans* feindlichen Strömungen zu stellen (so sehr diese in letzter Zeit auch an Bedeutung gewonnen haben). Die Überwindung der Klassengesellschaft wird uns mehr abverlangen als den Sieg über TERFs.
Verschiedene reaktionäre Kräfte sind sich darin einig, die Existenz von trans* Menschen zu leugnen, ihr Leben und Überleben unmöglich zu machen. Was schlagt ihr vor, wie mit diesem vermeintlichen «Kulturkampf» aus einer (trans-)marxistischen Perspektive effektiv umzugehen wäre?
Elle: Erstens dürfen wir nicht die Hoffnung verlieren. Es gibt eine große Verzweiflung angesichts die jüngsten Entwicklungen, was verständlich, aber auch unproduktiv ist. Nur weil es bestimmte Stimmen und Organisationen gibt, die derzeit lautstarke Kampagne gegen trans* Menschen führen, heißt das nicht, dass sie das politische Klima diktieren oder gar gewinnen werden. Zweitens sollten wir uns vergegenwärtigen, wie weit wir in kurzer Zeit gekommen sind. Jeder gesellschaftliche Umbruch provoziert Gegenreaktionen. Rechtsextreme Einsprüche gegen die Akzeptanz von Transitionen sind immer auch Einsprüche gegen das Versagen der Gesellschaft, geschlechtsspezifische Unterdrückung und damit bestimmte Arbeits- und Ausbeutungsmuster wirksam aufrecht zu erhalten. Drittens: Seht die enormen Fähigkeiten, die ihr selbst und Menschen um euch herum haben bei der gegenseitigen Fürsorge, bei der Beschaffung von Medikamenten, Hormonen, Wohnraum usw. als Akte des Widerstands. Unser Kampf um Gesundheitsversorgung und das Überleben hat viel gemeinsam etwa mit klandestinen Netzwerken von Frauen in Irland, die sich aufeinander verließen, um sichere Schwangerschaftsabbrüche durchführen zu können. Wir können viel aus diesen Erfahrungen lernen. Schließlich sollten wir erkennen, dass wir, auch wenn wir oft als isoliert dargestellt werden, viel mehr Unterstützung haben als je zuvor. Nutzt diese Unterstützung, nutzt sie.
Sie sehen uns zu Recht als eine Bedrohung an. Aber wir können es uns nicht erlauben, nur auf die Reaktionäre zu reagieren.
Jules: Wir argumentieren in unserer Einleitung zu «Transgender Marxism», dass die Intuition, mit der die globale Rechte trans* Menschen (zusammen mit Migrant*innen) zu Sündenböcken macht, bezeichnend ist. Das ist kein zufälliger Hass, sondern er verweist auf die Kontinuitäten, in denen die heutige extreme Rechte zu verorten ist: Die von der neoliberalen Rechten des späten 20. Jahrhunderts vollzogene Stärkung des «Privathaushalts» als gesellschaftliches Verhältnis, das im Kolonialismus verwurzelt ist. Sie sehen uns zu Recht als eine Bedrohung an. Aber wir können es uns nicht erlauben, nur auf die Reaktionäre zu reagieren. Das «Aufdecken» ihrer jüngsten Gräueltaten wird die nächste Runde der Gewalt niemals komplett verhindern. Wir müssen über die Gefahr, die von ihnen ausgeht hinausdenken. Warum hat die Zahl der offen lebenden trans* Menschen trotz ihrer Bemühungen weiter zugenommen? Was ist es, dass sie nicht über unser Leben wissen können?
Was hat euch in letzter Zeit politische Hoffnung gegeben?
Elle: Alles. Ich habe einen unerschütterlichen, unnachgiebigen Glauben daran, dass es uns langfristig gelingen wird, die Art und Weise zu ändern, wie die Gesellschaft mit trans* Personen umgeht. Bisher gibt es nichts, was mich daran zweifeln lässt.
Jules: Die Zusammenarbeit zwischen chinesischen queeren und trans* Kollektiven und europäischen oder US-amerikanischen Netzwerken ist im letzten Jahr aufgeblüht. Ich habe alles miterlebt, von DIY-Biohacking-Servern bis hin zu einem Sommer-Rave in Lissabon, das die kontinentale Kluft auf eine beeindruckende Art und Weise überbrückt hat. Diese übergreifende Verschränkung von Wissen und widerständigen Traditionen gibt mir die größte Hoffnung, dass der Internationalismus eine Chance hat, den Planeten vor unseren bekannten Feinden zu retten: vor Heteronormativität, Ausbeutung, Rassismus, Langeweile und endlos weiter verbranntem Erdöl.
Aus dem Englischen von Chris Neuffer.
[1] Transition bezeichnet den verkörperten, sozialen Prozess, in dem eine Person, das ihr bei der Geburt zugewiesene Geschlecht verweigert und ihre gender-Identität ändert. Körperliche Transition (etwa durch Hormon-Therapie) ist ein wichtiger Aspekt, aber Transitionen sollten nicht auf körperliche Veränderungen und medizinische Verfahren reduziert werden. Transitionen können eine Einteilung in zwei Geschlechter überschreiten und/oder de-stabilisieren.
[2] Das heißt, dass durch Transition entweder eine gender-Identität innerhalb der bestehenden Geschlechterordnung voll entfaltet wird, oder, dass Transition genau diese unterbricht oder subvertiert, Anm., CN.