von Wolfgang Ratzel
Es gibt Bücher, die rauben einem den Schlaf. Denn sie rühren an der Seele. Die „Frühschicht“ ist so ein Buch. Man liest und alte Bilder steigen hoch, man wendet verstaubte Tagebuchseiten. Ja, so war es! Man war schließlich dabei, damals, als abertausende Studierende „ins Proletariat“ gingen.
Ja, der Wecker, der um 4:30 Uhr zur „Frühschicht“ rief, war die ständige Bewährungsprobe für das höchsteigene Klassenbewusstsein. Sofort vergessen aber waren die Mühen des Aufstehens, wenn –tröööööt- das Band anruckte, wenn der Kampf um das „Vorderwasser“ begann und wehe, man trieb ab. Aber dann wirft einer den Schraubenschlüssel ins Band, das Band stockt, ruckt und steht, und dann steigt ein Schrei vielsprachig aus hunderten Jungmännerkehlen in den Hallenhimmel: Uuuuuuuuuaaaaaaaaaah!– Hass auf Fronarbeit und dennoch Stolz, ein Daimler-Bandarbeiter zu sein. Wie geht das zusammen? Arps beschreibt es – en detail.
Jan Ole Arps, geb. 1978, ist für die „eigentlichen 68er“ (die zwischen 1938 und 1948 Geborenen) fast ein Enkel; für die Post-68er (geb. 1949-1958) eher ein Sohn. Vielleicht muss man Enkel oder Sohn sein, um gleichzeitig abgeklärt-distanziert und wohlwollend-parteilich zu schreiben.
Arps Methode: Er liefert einen Überblick über alle Fraktionen der Fabrikintervention, fokussiert aber –stellvertretend für alle maoistischen Gruppen- auf die KPD/ML, und –stellvertretend für alle operaistischen Gruppen- auf den Revolutionären Kampf.
Zentrales Recherchemittel sind Interviews mit sieben FabrikinterventionistInnen, eingerahmt von Auswertungen der „kleinen Quellen“ -Zeitungen und Betriebszeitungen-, beides eingebettet in den Forschungsstand.
Jedenfalls gelingt ihm die Einfühlung in den Zeitgeist der frühen Siebziger: Die erste Welle des Ansturms gegen die Bastionen des kapitalistischen Systems war verebbt! – jetzt türmt sich die zweite Welle: Aufbruchstimmung! Die letzte Schlacht gewinnen wir! – bald! Und –wichtig!- Arps fragt nicht nach der „Wahrheit“ der abstrakten revolutionären Ziele, nimmt nicht Partei für oder gegen eine der vielzuzahlreichen revolutionären (und revisionistischen) Avantgarden. Sein Wohlwollen gilt den Motiven der ProtagonistInnen. Er glaubt ihnen, dass sie als „Prinzen“ (und Prinzessinnen!) das „Dornröschen“, die schlafende Arbeiterklasse, wachküssen (S. 75) oder „Starthilfekabel für die revolutionäre Selbstorganisation der Arbeiter“ sein wollten (S. 51). Er beschreibt das, was er quellenvermittelt sieht: Das alltägliche Dasein derer, die sich zur „Frühschicht“ erheben; die Mühen der Lohnarbeitszeit.
Als Phänomenologe des revolutionären So-Seins gelingt es Arps –und das ist für mich die Stärke des Buchs- vor allem die Paradoxa der revolutionären Betriebsexistenz herauszuarbeiten:
Man nimmt in Polit-Kommunen die kommunistische Zukunft vorweg und gründet Kleinfamilien, simuliert einen verblassten Arbeiterhabitus und bleibt als echte Maskerade doch anders als die Anderen. Man existiert als antiautoritärer Kulturrevolutionär und arbeitet diszipliniert, motiviert, erfüllt und übererfüllt die Akkordvorgaben. Man schneidet sich die Haare und die Jungarbeiter lassen sie wachsen. Man will die festgelegten revolutionären Ziele propagieren und wird als konsequenter Nur-Gewerkschafter in den Betriebsrat gewählt. Man will den Betrieb zur Festung im revolutionären Kampf machen, und die KollegInnen verlassen ihn jeden Feierabend im Laufschritt. Man gewinnt junge KollegInnen für seine Betriebszelle, die bei erster Gelegenheit dorthin gehen, woher man zu ihnen kam: ins Szene-Milieu und an die Uni.
Und dann verlöschte ab 1977 der rote Horizont im „Deutschen Herbst“. Die Spontis vom RK gaben als erste auf, die KPD/ML blieb bis zum bitteren Ende - in den Neunzigern machte der Letzte das Licht aus. Und – wieder ein Paradox - er ging mit einem Rentenanspruch, von dem Jetztgeborene nur träumen können.
Arps zeigt das Unvermögen der Fabrikinterventionisten, in den 80er-Jahren den neuen, globalisierten, postfordistischen Geist des Kapitalismus zu analysieren, zumal die Arbeitsplätze des revolutionären Subjekts, der multikulturellen Massenarbeiter, inzwischen in Fernost lagen. Und man übersah die Flucht aus der Arbeit, die Hinwendung zu Jobber- und Erwerbsloseninitiativen. Neue Bewegungen – neue Paradoxa: z.B.: Man hasst den Staat und lebt autonom von staatlicher Sozialhilfe. Wenig später sah sich auch die Neue Autonomie im Abseits. Weil beide Existenzweisen um die gleiche Achse, die Arbeit, rotierten: Hier maoistische Liebe zur künftigen befreiten Arbeit – dort autonomistischer Hass auf Arbeit überhaupt. Problem: Die „Zielgruppen“ verwirklichten sich schon längst in der vorfindlichen Arbeit - oder jenseits der Arbeit in Bürgerinitiativen und Anti-AKW-Bewegungen.
Aber Arps will nicht das ultimative Erinnerungsbuch für Revolutionäre im Rentenalter schreiben. Es geht ihm letztendlich darum, im Hier-und-heute aufs Neue „die Frage nach einer Verbindung von radikaler Kritik und Arbeitsalltag“ zu stellen. „Wie kann eine Politisierung von Arbeitskonflikten aussehen, ohne dass sie in abstraktem Verbalradikalismus oder aber in betriebsblindem Vor-sich-Hinwerkeln verliert?“ Er hält fest an der „Hoffnung auf grundlegenden gesellschaftlichen Wandel“ und schlussfolgert: „Eine Politik, die die Welt des Alltags und die Macht des Alltäglichen ignoriert, kann nicht gelingen!“ (S.9)
Was aber tun? Vielleicht „zu hören, worum es geht“; „Möglichkeiten für Gespräche organisieren und eine neue Sprache suchen“, zuerst über eigene Arbeitssituationen; Orte finden und schaffen „an denen sich eine Wut äussern kann“ – als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit, damit sich Mut entwickeln kann (S. 222).
Das törnt zwar ab, klingt aber genau besehen realitätsnah in unseren düsteren Zeiten, in denen schon das Aufrechterhalten eines Treffpunkts das Nonplusultra systemüberwindender Existenz zu sein scheint.
Jedenfalls untertreibt der Titel: Es geht weit mehr als um die Mühen der Frühschicht; man liest eine Zeitgeschichte der westeuropäischen Fabrikinterventionen, sagen wir mal, man liest den ersten Band. Der Kampf geht weiter – anders – vielleicht.
Jan Ole Arps: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren. Berlin/Hamburg 2011 – Verlag Assoziation A -Broschiert: 240 Seiten
Verlag: Assoziation A, (März 2011) – 16,00 Euro.
Wolfgang Ratzel ist verantwortlich für das Autonome Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin – Kontakt: wolfgang.ratzel(ätt)t-online.de. Diese Rezension erschien zuerst in der Juni-Ausgabe von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation; wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.