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Michalis Kritharidis von der Partei MeRA25 über die Aussichten der Linken nach einer vernichtenden Wahlniederlage in Griechenland

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Michalis Kritharidis
Michalis Kritharidis

Michalis Kritharidis stammt aus Griechenlands zweitgrößter Stadt Thessaloniki, wo er 1992 zur Welt kommt. Er hat an der Demokrit-Universität von Thrakien Jura studiert und danach noch einen Master in Wirtschaftsphilosophie an der Universität von Athen gemacht. Er ist zugelassener Rechtsanwalt bei der Athener Anwaltskammer. Von Juli 2019 bis März 2023 war er Sprecher der Partei MeRA25 und danach in Thessaloniki ihr Kandidat für das Parlament. Nach den beiden Niederlagen bei den Parlamentswahlen am 21. Mai und am 25. Juni, wo MeRA25 nach einer Legislatur erfolgreicher Oppositionsarbeit den Wiedereinzug verpasste, sprach Friedrich Burschel mit ihm über die verlorene Wahl und die Perspektiven der Partei MeRA25.

MeRA 25 («Metopo Evropaikis Realistikis Anipakois», zu Deutsch etwa: «Europäische Front Realistischen Ungehorsams») ist eine Partei des linken politischen Spektrums. Bei den Parlamentswahlen vom 7. Juli 2019 erreichte sie noch 3,44 Prozent, bzw. neun Sitze. Gegründet wurde MeRa25 am 27. März 2018 von ehemaligem Finanzminister der SYRIZA-Regierung Yanis Varoufakis.

MeRA25 ist ein Ableger der Bewegung DIEM25, die 2016 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. MeRA25 als Partei gibt derzeit in Griechenland und Deutschland.

Friedrich Burschel: Ist MeRA25 nach dieser schmerzhaften Niederlage und dem Ausscheiden aus dem Parlament jetzt Geschichte?

Michalis Kritharidis: Natürlich nicht, wir versuchen weiter, eine geschlossene radikale Linke in Griechenland aufzubauen, indem wir Gespräche mit allen linken politischen Gruppen starten, für die der Bruch von 2015 eine schwere Niederlage war, die aber immer noch glauben, dass es eine Alternative gibt. Außerdem kämpfen wir weiterhin gegen den Aufstieg der neoliberalen und rechtsextremen politischen Macht nicht nur in Griechenland, sondern auch in Europa. So gesehen sind natürlich die Europawahlen, die nächstes Jahr stattfinden werden, entscheidend für die Zukunft der gesamteuropäischen – und auch der griechischen – Linken.

Was war der Grund dafür, dass MeRA nicht mehr Menschen davon überzeugen konnte, sie zu wählen – selbst nachdem sie im Parlament eine wirklich harte und direkte Oppositionsarbeit geleistet hat?

Wir wissen es nicht wirklich. Es stimmt, dass wir es leider nicht geschafft haben, unser Programm zu kommunizieren und ernsthaft in die Gesellschaft hinein zu diskutieren. Aber wir sind uns nicht sicher, was der Grund dafür ist, dass MeRA (und eigentlich alle linken Parteien) die Menschen nicht überzeugt hat, insbesondere die Jugend und die «Arbeiterklasse», heutzutage «Prekarisierte» genannt.

Viele hätten erwartet, dass MeRA in der Situation vor den Wahlen im Mai, als die Umfragen zwar völlig falsch lagen und eben ein knappes Rennen zwischen ND und Syriza vorhersagten, eine willkommene Alternative zu Syriza sein würde, um eine linke Position im Parlament zu stärken: Warum ist diese Idee überhaupt nicht aufgegangen?

Weil die Führung von Syriza sich strikt weigerte, vor den Wahlen über ein gesamtlinkes Mindestprogramm zu diskutieren, wie es MeRA nach ihrem ersten Kongress im Mai 2022 vorgeschlagen hatte, und zwar nicht mit Bezug auf Syriza, sondern auch mit KKE und Pasok und natürlich den kleineren außerparlamentarischen linken Parteien. So war es dann leider auch nicht möglich, innerhalb der «drei Tage», die unsere Verfassung für eine Regierungsbildung vorsieht, ein kohärentes Programm und eine linke Haltung nach den Wahlen zu entwickeln, so sehr uns die Syriza-Führung auch drängte.

Es heißt, die meisten MeRA-Genoss*innen seien sich darin einig, dass die Botschaft der Partei zu kompliziert gewesen sei, zu vielfältig in den Themen und zu schwer zu überblicken und zu verstehen: Stimmt das?

Zugegeben, wir hatten ein komplettes Regierungsprogramm ausgearbeitet, obwohl wir nur eine «3-Prozent-Partei» waren. So war es halt nicht einfach, unsere politische Botschaft auf den Punkt zu bringen. Außerdem wirkte sich der Boykott von MeRA seitens der Mainstream-Medien negativ aus mit Blick auf die «Kompliziertheit der Botschaft». Kleonas Grigoriadis und ich wurden als MeRA-Sprecher während der Wahlkampfzeit z.B. vom Sender «Mega TV» komplett ignoriert.

Beim Wahlkampfauftakt im vollbesetzten Gloria-Theater im Zentrum von Athen war das Bild vielversprechend: es waren viele junge Menschen im Publikum es herrschte eine weitgehende Genderbalance… Wer war MeRAs Zielgruppe und warum hat das dann doch nicht so gut geklappt?

Unsere Zielgruppe waren natürlich die Jüngeren, und das war auch der Grund dafür, dass wir uns intensiv mit Jugendthemen und jugendgemäßer Kommunikation beschäftigt haben. Trotzdem haben viele junge Leute leider nicht gewählt, und viele, fast ein Drittel, haben sogar für die jetzt weiterregierende Mitsotakis-Partei «Neue Demokratie» (Nea Dimokratia) gestimmt…  vielleicht wegen der «Sozialleistungspolitik», die Herr Mitsotakis versprochen hat… oder wegen Mitsotakis‘ enorm erfolgreicher und kostspieliger Social-Media-Kampagne. 

Was ist mit MeRAs Superhero, Yanis Varoufakis: War er die falsche Frontfigur, so wie es Tsipras offensichtlich für Syriza war?

Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht hätten wir schon im ersten Wahlkampf im Mai einen «kollektiveren» Stil wählen sollen, wie wir es in der zweiten Runde getan haben, aber Yanis ist auf keinen Fall eine falsche Frontfigur. Er symbolisiert den «Frühling von Athen», den europäischen Frühling von 2015 und den Versuch, aus diesem Schulden- und Spargefängnis auszubrechen.

Könnte ein Hindernis für eine linke «Einheitsfront» sein, dass es in Griechenland fast traditionell kein Denken in Koalitionen gibt? Wäre eine Koalition mit Syriza oder sogar den Sozialdemokrat*innen von Pasok-Kinal (oder sogar der undenkbaren kommunistischen Partei KKE) überhaupt eine Zukunftsoption für MeRA?

Da gibt es einiges, aber das Haupthindernis ist natürlich die Zustimmung von Syriza und Pasok-Kinal zur Sparpolitik des Memorandums im Jahr 2015 bzw. schon 2010. Die KKE wiederum bevorzugt leider ihren «einsamen Weg». Auf unsere Gesprächsangebote reagierte die KKE mit dem Vorwurf, wir würden das kapitalistische System als ein Teil davon beschützen, seien ein Schutzwall… sie haben dabei nicht mit Propaganda gegen unsere politischen Überzeugungen gespart. Wir versuchen jedoch, die gesamte radikale Linke in Griechenland wieder aufzubauen, einschließlich natürlich der Menschen, die auch jetzt noch Syriza verhaftet sind und darauf bestehen, dass Syriza gegen das griechische Oligarchensystem aufstehe. Was sie nicht tut.  

Die Griechen in der Diaspora haben mit mehr als 12 Prozent für MeRA gestimmt - liegt das an ihrem europäischen Appeal?

In der Tat haben wir eine große Anziehungskraft über europäische Themen. Wir bekämpfen die Sparpolitiken in der gesamten Europäischen Union mit unserer paneuropäischen Bewegung für Demokratie in Europa (DiEM25) und wir haben auch eigene MeRA25-Ableger in Deutschland und Italien gegründet. Das EU-Projekt, wie es sich heute darstellt könnte nicht weiter von einer «linken Europa-Idee» entfernt sein. Aber die «linke Antwort» auf dieses EU-Projekt auf Abwegen kann nicht «weniger Europa» lauten, wie es die Rechten und die Oligarchen wollen, sondern «mehr Europa» für die Menschen in der EU, und eben nicht für Banken und Finanzmärkte. Dies erfordert natürlich eine grundlegende Umgestaltung der EU, nicht nur einige Reförmchen.

Wird MeRA25 an der EP-Wahlkampagne als solche oder als griechischer Zweig von DiEM25 teilnehmen?

MeRA hat 2019 am Wahlkampf zum Europäischen Parlament teilgenommen, und zwar nicht nur als Teil von DiEM25, sondern auch als Teil des «Europäischen Frühlings», unseres paneuropäischen Wahlkampfauftritts. Das werden wir wahrscheinlich wiederholen, denn das ist die einzige Möglichkeit, ein gemeinsames Programm für die gesamte EU aufzulegen. Es geht dabei gar nicht darum, ob es je nationale «Zweigstellen» braucht, sondern vielmehr um die Notwendigkeit dieser nationalen Parteien als wesentlicher Teil und Ausgangspunkt einer paneuropäischen politischen Bewegung.

Was ist der europäische Gedanke und Impuls von MeRA25 bzw. DiEM25, was ist das Europäische an diesem – wenn ich es so nennen darf – linksradikalen Projekt?

Es geht darum, dass die, nennen wir sie: Kapitalist*innen – obwohl wir es heute nicht mehr mit «einfachen» Kapitalist*innen zu tun haben –, die Banker*innen, die Oligarch*innen und natürlich die Faschist*innen in Wirklichkeit geeint und internationalistisch sind. Auf der anderen Seite sind die «guten Menschen», die Arbeiter*innen, die Jugend, die Armen, die Prekären, die Feminist*nnen, die Basisbewegungen, die «Grünen», die «Gewerkschaften», eben nicht vereint in ganz Europa und der Welt vereint, weder in Europa noch global. (Deshalb haben wir ja auch die «Progressive Internationale» gegründet). Wir müssen gemeinsam gegen diese welt- und europaweit ähnliche neoliberale und autoritär-nationalistische Politik kämpfen. Das ist unser linkes Projekt für Griechenland, für die EU und für die Welt von heute.

Die krisengeschüttelte europäische Linke soll eine neue, überzeugendere Erzählung präsentieren, sagen viele. Im Juni 2024 stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an: Wie könnte sich ein überzeugendes und spannendes «neues linkes Narrativ» anhören?

Ganz einfach: Wir als Linke müssen über die wirklichen Bedürfnisse unserer Klasse, der Arbeiterklasse, sprechen. Wir müssen das in «modernen» Begriffen tun, mit einer neuen Sprache und neuen Kampfmethoden. Wir müssen vereint kämpfen und die neuesten technologischen Werkzeuge – wie die sozialen Medien und ihre Reichweite – nutzen, um all jene anzusprechen, die in der heutigen prekären Arbeits- und Lebenswelt nicht viel Zeit für Analysen und endlose Diskussionen haben. Schließlich müssen wir natürlich auch eine neue Vision des demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts formulieren und unter die Leute kriegen.
 

Eine Kurzversion des Interviews ist bei nd-aktuell erschienen.