Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Cono Sur Krisenwahlen in Argentinien

Die einzige Hoffnung der Regierungskoalition ist die Zersplitterung der Opposition

Zwei Männer im Anzug sprechen.
Der derzeitige Wirtschaftsminister und Präsidentschaftskandidat Sergio Massa (links) und der derzeitige Präsident Alberto Fernández (rechts) sprechen auf dem Kongress der argentinischen Baukammer, 27. Juni 2023. Foto: IMAGO / Esteban Osorio

Argentinien steuert auf die diesjährigen Präsidentschaftswahlen zu und befindet sich in einer vielschichtigen Krise. Das politische System ist gespalten, die Situation erinnert an die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2003, zwei Jahre nach der großen Krise von 2001, in der die Wirtschaft und Währung Argentiniens zusammenbrach. Höhepunkt der Krise dieses entscheidenden Jahres waren die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember. An diesen Tagen führten die Demonstrationen um das Regierungsgebäude zum Sturz des damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa. Eine institutionelle Krise wurde ausgelöst, in der das Land innerhalb einer Woche fünf Mal den Präsidenten wechselte. 

Auch heute befindet sich das Land in einer Krise und zwar in einer merkwürdigen Kombination aus chronischer Wirtschaftskrise, deren offensichtlichstes Symptom die immer weiter steigende Inflation ist, einer tiefen sozialen Krise –  fast 40 Prozent der Bevölkerung leben in Armut – und einer politischen Krise, die durch das Scheitern des politischen Systems und der Parteienkoalitionen ausgelöst wurde.

Nachdem sich die wirtschaftlichen und internationalen Umstände, die zwischen 2003 und 2012 drei aufeinanderfolgende kirchneristische Regierungen ermöglicht hatten (die erste von Néstor Kirchner und zwei weitere von Cristina Kirchner), verändert hatten, haben wir in den letzten zehn Jahren das Scheitern von zwei großen Vorhaben erlebt.

Momente des Scheiterns

Das erste war das Versprechen von Ex-Präsident Mauricio Macri und seinem als Cambiemos bekannten Rechtsbündnis, mit der er im Jahr 2015 die Wahlen gewann. Angesichts der durch die stagnierende Wirtschaft ausgelösten Krise der letzten Phase der Vorgängerregierung von Cristina Kirchner, der steigenden Inflation und der Abwertung des argentinischen Peso im Jahr 2014 versprach Macri, auf den Weg des Wachstums zurückzukehren und das Land «wieder in die Welt zu integrieren». Macris damaliger Vorschlag war weit entfernt von seinem heutigen Diskurs: Er versprach einen besseren Lebensstandard, sein Motto war die «Revolution der Freude» und der Stil seiner Reden glich eher einem «Selbsthilfe-Handbuch». Ganz anders als die wütenden rechtspopulistischen Parolen, die er heute schwingt. Macris Amtszeit als Präsident (2015-2019) endete inmitten eines finanziellen Chaos, in dem alle wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren den Tiefstand erreicht hatten, mit einer Inflation von 55 Prozent und einer hohen Verschuldung beim Internationalen Währungsfonds, der Macri mit einem beispiellosen Kredit von 45 Milliarden Dollar unterstützt hatte. 

Fernando Rosso ist Journalist und arbeitet als Redakteur und Kolumnist für das Online-Zeitungsnetzwerk La Izquierda Diario. Er ist Autor des Buches «La hegemonía imposible. Veinte años de disputas políticas en el país del empate” (Die unmögliche Hegemonie. Zwanzig Jahre politischer Disput im Land der Pattsituation) über die Regierungen der letzten 20 Jahre in Argentinien, das im Jahr 2022 erschienen ist.

Übersetzung: Caroline Kim

Im Jahr 2019 kam die Frente de Todos, eine Koalition aus Kirchnerismus und einem «zentrumsnahen» Peronismus, mit dem Versprechen an die Macht, den Schaden zu beheben, den der Macrismus im sozialen Gefüge des Landes angerichtet hatte. Sie wollte die die Löhne wieder steigen lassen, die permanente Wirtschaftskrise überwinden und «die Wirtschaft ankurbeln», wie der Finanzminister der ersten Regierungsphase behauptet hatte. Nun, nach vier Jahren Regierung sind die Reallöhne weiter gesunken, die Arbeitsbedingungen noch prekärer geworden und die Inflation liegt bei 120 Prozent. Das Scheitern der Regierung ist so offensichtlich, dass der aktuelle Präsident Alberto Fernández keine neue Amtszeit mehr anstrebt.

Die Wahlen als destabilisierender Faktor

Die Wahlen werden in drei Momenten entschieden: Am 13. August finden die sogenannten «PASO» statt, eine verpflichtende Vorwahl, über die die Parteilisten der Kandidat*innen festgelegt werden, falls es mehr als eine*n Kandidat*in gibt. Zudem gelten sie als Stimmungsbild für die verbindlichen Wahlergebnisse am 22. Oktober. Um eine Stichwahl zu vermeiden, muss ein*e Kandidat*in mindestens 45 Prozent der gültigen Stimmen oder mehr als 40 Prozent der Stimmen mit einer Differenz von zehn Prozentpunkten gegenüber der*dem Zweitplatzierten erhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass eins der Bündnisse im ersten Wahlgang diese Ergebnisse erreicht, so dass die Wahl wahrscheinlich in einer Stichwahl am 19. November entschieden wird.

Das Wahlsystem und der zeitliche Ablauf sind nicht nachrangig, wenn es um die instabile wirtschaftliche und politische Lage Argentiniens geht. Die Unklarheit darüber, wo die tatsächliche politische Macht in den drei Monaten zwischen den Vorwahlen und der Stichwahl liegt, kann die Instabilität verschärfen oder eine weitere Krise auslösen. So auch, als Mauricio Macri die Vorwahlen im Jahr 2019 mit großem Abstand verlor. Am Tag nach der Wahl gab er aufgebrachte Anschuldigungen an diejenigen ab, die nicht für ihn gestimmt hatten und die Wirtschafts- und Finanzkrise, unter der seine Regierung seit 2018 gelitten hatte, verschärfte sich noch.

Regierungsbündnis setzt auf Kandidat aus dem Zentrum

Für diese Wahl hat das Regierungsbündnis ihren Namen von Frente de Todos in Unión por la Patria (UP) geändert. Die UP vereint die meisten Strömungen des Peronismus. Nach einer langwierigen Debatte nominierte die UP in letzter Minute den derzeitigen Wirtschaftsminister Sergio Massa als Präsidentschaftskandidaten. Agustín Rossi, der aktuelle Kabinettschef, tritt als Vizepräsident an. Sowohl Cristina Kirchner als auch Alberto Fernández hatten aufgrund geringer Aussichten auf Erfolg jegliche Kandidaturen abgelehnt. Cristina Kirchner ist zwar die beliebteste politische Figur des Peronismus, aber auch eine, die auf eine breite Ablehnung stößt. Alberto Fernández ist das bekannteste Gesicht einer Regierung, die gemessen an ihren eigenen Wahlversprechen eindeutig gescheitert ist. Zwar fiel die Covid-19-Pandemie erschwerend in seine Regierungszeit, aber wirklich versagt hat er darin, die von den IWF-Krediten abhängige Wirtschaft in den Griff zu bekommen. Die Auflagen des IWF wurden durch die Regierung ausnahmslos akzeptiert. 

Cristina Kirchner hat zwar nicht die Kraft einen Kandidaten aus ihrem eigenen Lager durchzusetzen, aber sie kann gegen jeden Kandidaten ein Veto einlegen. Sergio Massa konnte also nur mit ihrer Zustimmung als Präsidentschaftskandidat gewählt werden. Das kirchneristische Lager begründet die Nominierung Massas mit der Annahme, dass die Gesellschaft nach rechts gerückt sei. Die Idee war, einen Kandidaten mit einem ähnlichen Profil wie dem seiner Gegner aufzustellen, um es mit einer feindlich gesinnten Wähler*innenschaft aufnehmen zu können.

Sergio Massa begann seine politische Laufbahn in einer historischen Gruppierung des argentinischen Liberalismus der 1980er Jahre (der Union des Demokratischen Zentrums). In den 1990er Jahren schloss er sich wie viele andere Liberale dem Menemismus an; war dann in den Anfangsjahren des Kirchnerismus Funktionär in der Verwaltung von Renten- und Pensionsfonds und dann im Jahr 2008 und 2009 Kabinettschef von Cristina Kirchners erster Regierung. 2013 rutschte er nach rechts ab, brach mit dem Kirchnerismus und gewann mit einer eigenen peronistischen Partei bei den Parlamentswahlen in der strategischen Provinz Buenos Aires. 2015 trat er zu den Präsidentschaftswahlen an und war als Drittplatzierter mit gut 20 Prozent der Stimmen letztlich der Schlüssel zu Macris Triumph. Massa war auch entscheidend für die Regierungsfähigkeit von Macris Koalition Cambiemos. Macri stellte ihn auf dem Wirtschaftsforum in Davos als «vernünftigen» Peronisten vor. Als die Cambiemos-Regierung in eine tiefe Krise geriet, wechselte Massa in die Opposition und schloss sich wieder dem Kirchnerismus in der Frente de Todos an. In der Zeit, in der er sich vom Kirchnerismus distanziert hatte, äußerte er sich sehr kritisch gegenüber dieser politischen Strömung und ging sogar so weit zu sagen, dass er, wenn er Präsident würde, alle «ñoquis» von der kirchneristischen Jugendorganisation La Cámpora «ins Gefängnis stecken» würde («ñoqui» ist eine argentinische Redewendung und bezeichnet eine Person, die eine Position in der öffentlichen Verwaltung innehat, aber nicht arbeitet). La Cámpora ist das Rückgrat des Kirchnerismus, ihr Vorsitzender ist Máximo Kirchner, der Sohn der Vizepräsidentin.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Daniel Scioli oder Alberto Fernández verfügt Sergio Massa über engere Verbindungen zu mächtigen Unternehmen, zu Kontakten in die Justiz, über gute internationale Beziehungen, insbesondere zur US-Botschaft. Er hat ein größeres Machtstreben als seine Vorgänger. Das Regierungsbündnis hat dennoch wenig Aussicht auf Erfolg. In einer «normalen» Situation könnte eine Regierung mit derartigen enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten unter keinen Umständen wiedergewählt werden. Die einzige Hoffnung der Regierungskoalition ist die Zersplitterung der Opposition.

Die rechte Opposition

In der rechten Opposition, früher Cambiemos, nun Juntos, treten der Bürgermeister der Stadt Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, und die Vorsitzende der PRO-Partei (Propuesta Republicana), Patricia Bullrich, gegeneinander an. Beide gehören der PRO an, die vom ehemaligen Präsidenten Macri gegründet wurde. Larreta präsentiert sich mit einem gemäßigten Mitte-Rechts-Profil: Er teilt die programmatischen Ziele mit seiner parteiinternen Rivalin, unterscheidet sich aber in den Methoden. Larreta ist der Ansicht, dass zur Umsetzung der neoliberalen Reformen (Arbeit, Steuern und soziale Sicherheit) ein breites Bündnis notwendig ist, die dem Projekt (und der möglichen Regierung) politisches Gewicht verleiht, damit die Reformen auf Dauer Bestand haben können. Bullrich, eine chamäleonartige Politikerin, die zu Beginn ihrer Karriere mit der linken peronistischen Guerillaorganisation Montoneros in den 1970er Jahren in Verbindung stand, hat etwa zwanzig Parteien durchlaufen. Heute führt sie als Teil der lokalen Ultra-Rechten einen bolsonaristischen Hardliner-Diskurs und schlägt schockartige Strukturanpassung vor.  

Das Ergebnis dieses internen Kampfes bei den Vorwahlen im August wird bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober wichtig sein: Wenn Larreta gewinnt und gegen Massa antritt, werden zwei sich sehr ähnliche Kandidaten um das Präsidentenamt konkurrieren. Es bleibt abzuwarten, ob Larreta dann die Stimmen von Bullrich bekommen kann. Wenn Bullrich die Vorwahlen gewinnt, werden die Präsidentschaftswahlen eher polarisiert sein.

Rechtsaußen: Milei und der Libertarismus

Jenseits von diesen Figuren befinden sich die beiden großen Bündnisse, die die «Kluft» (eine journalistische Beschreibung der Spaltung des politischen Systems im Land) repräsentierten, auf dem Rückzug. Am deutlichsten schlägt sich dies in den Rücktritten von Mauricio Macri und Cristina Kirchner, die beide für kein Amt mehr kandidieren, nieder.

Rechts des Szenarios ist ein in Argentinien neues politisches Phänomen aufgetaucht: der Libertarismus, vertreten durch Javier Milei. Milei ist ein exzentrischer Wirtschaftswissenschaftler, prominente Figur der Medien, der mit einem radikal rechten Diskurs den Sprung in die Politik geschafft hat. Bei den Parlamentswahlen 2021 erhielt er 17 Prozent der Stimmen in der Stadt Buenos Aires. Das sogenannte, viel diskutierte «Milei-Phänomen» hat mehrere Ursachen. Zunächst war es Ausdruck der Radikalisierung von Anhänger*innen von Cambiemos, die ihre Regierung scheitern sahen und härtere Methoden forderten. Dann gewann Milei auch die Unterstützung von Menschen, die von der endlosen Krise betroffen sind und jede Form der politischen Äußerung ablehnen.

Milei ist auch Ergebnis der Passivität gewerkschaftlicher und sozialer Organisationen, die sich dem Regierungsbündnis angeschlossen haben und verhindern wollten, dass der Unmut über die triste sozioökonomische Situation durch Aufstände auf der Straße zum Ausdruck kommt. Da die Stimme der Organisationen der Arbeiter*innenklasse in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, verwandelte sich der Ärger in Ohnmacht, Erschöpfung, Müdigkeit und Aggression (die auch durch die Pandemie angeheizt wurde). Und statt in einem Aufstand hat ein Teil der Gesellschaft in Milei eine Option gefunden, dies auszudrücken.

Die starke mediale Präsenz von Milei wurde auch von Teilen des Establishments vorangetrieben, um eine Verschiebung der politischen Debatte nach rechts zu erzwingen. Wie in vielen Ländern ist die extreme Rechte hier eher ein Programm als eine Partei. Das Auftauchen messianischer Gestalten und prophetischer Führer ist ein klassisches Phänomen in solchen organischen Krisensituationen, auch wenn sich in den Wahlen erst das wahre Ausmaß des Phänomens zeigen wird.

Hoffnungsschimmer aus dem linken Lager?

Nicht zuletzt gibt es auch ein Bündnis, das von links antritt, die FIT-U (Einheitliche Front der Linken und Arbeiter). Bis kurz vor den Vorwahlen wurde die politische Szene in Argentinien durch Ereignisse in der nördlichen Provinz Jujuy erschüttert. Der scheidende Gouverneur dieser Provinz (Gerardo Morales, der auch Vizepräsidentschaftskandidat der Rechtsbündnisses Juntos ist) setzte eine Verfassungsreform durch, die im Wesentlichen zwei Ziele verfolgte: den sozialen Protest zu kriminalisieren und die Abgabe von Lithium an multinationale Unternehmen zu erleichtern – gegen die Interessen der indigenen Völker, die in den Gebieten leben, in denen das neue «weiße Gold» vorhanden ist. Die Antwort darauf war ein Aufstand in der Provinz mit Demonstrationen in mehreren Städten und Straßenblockaden in der ganzen Provinz.

Jujuy ist wichtig, weil es ein Gegenbeispiel zu dem ist, was die politisierte Szene über das Panorama im Land sagt: dass alles nach rechts rückt. Es ist kein Zufall, dass es in Jujuy gute Beziehungen zur Linken gibt: Der Kandidat der FIT-U – Alejandro Vilca, ein Arbeiter mit Coya-Hintergrund, einem der indigenen Völker der Andenregion – erhielt bei den Parlamentswahlen im Jahr 2021 25 Prozent der Stimmen in der Provinz und 2023 bei den Kommunalwahlen zum Gouverneur 13 Prozent (ein sehr bemerkenswerter Prozentsatz für dieses Amt). Die FIT-U hat drei Abgeordnete im Parlament und Abgeordnete in mehreren Provinzen, 2021 war sie die drittstärkste Kraft auf nationaler Ebene und im strategischen Ballungsraum der Provinz Buenos Aires erreichte sie einen Stimmenanteil von fast 10 Prozent. Die Befürchtung, dass durch die Kandidatur des konservativen Massa Stimmen aus dem Peronismus an die Linke gehen könnten, hat das Regierungsbündnis Unión por la Patria dazu gebracht, eine Liste für die Vorwahlen zuzulassen, die von Juan Grabois angeführt wird, einem sozialen Politiker mit linkem Diskurs aus dem peronistischen Spektrum.

Ein Land in einer Pattsituation

Die Ursachen für die Krise der beiden großen Bündnisse liegen tief. Es sind nicht nur fehlende Kompromisse oder Zusammenarbeit zwischen den Spitzenpolitikern. Der harte neoliberale Kurs des Macrismus stieß durch das Kräfteverhältnis an seine Grenzen; das etatistische Programm der Frente de Todos stieß auf die Schwäche des Staates. Die gesamte Regierungszeit von Cambiemos ging es entweder darum, politischen Einfluss zu gewinnen, um das Kräfteverhältnis zu verändern oder durch eine drastische Strukturanpassung das Kräfteverhältnis zu verändern, um politisches Einfluss zu gewinnen. Die gesamte Regierung der Frente de Todos war geprägt von der Kontroverse zwischen denjenigen, die mehr Staat forderten, und denjenigen, die am staatlichen Hebel saßen, der nicht geschmiert war. Der Ausweg aus diesem Labyrinth war die Überschreitung der vom IWF geforderten Haushaltsziele (der Ausgabenkürzungen verlangte) und die Kandidatur des Ministers, der diese Anpassung vorgenommen hatte: Sergio Massa.

Um die Worte des Schriftstellers Manuel Vázquez Montalbán zu nutzen, der die Kräftekonstellation des berühmten Pakts von Moncloa in Spanien definierte, ist das argentinische Szenario das Ergebnis eines Schwächen- und nicht eines Kräfteverhältnisses.