Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Einbürgerung Das Chancen-Aufenthaltsrecht

Aufenthaltsverfestigung für Menschen in Duldung und kommunale Implementierung mit Hürden

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Erinnerungsfoto bei Einbürgerungszeremonie im Neuen Rathaus in Hannover, 2015
Foto: picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte

Die Aufenthaltssituation für Menschen in Duldung sollte verbessert und Kettenduldungen beendet werden - das hatte sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgenommen. Das wohl bekannteste Instrument dazu firmiert unter dem Schlagwort «Chancen-Aufenthaltsrecht». Einige weitere neue Regelungen werden zwar weniger prominent diskutiert, sind aber aufenthaltsrechtlich hochrelevant.[1]

Zunächst zum Chancen-Aufenthaltsrecht: Worum geht es und was wird geregelt?

Susanne Spindler ist Professorin für Soziale Arbeit und Migration am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf.

Dr. Sara Madjlessi-Roudi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt «Teilhabe trotz Duldung? Kommunale Gestaltungsräume für geduldete Jugendliche und junge Erwachsene».
 

Als Paragraf 104c AufenthG bietet das Chancen-Aufenthaltsrecht eine Brücke aus der Duldung in ein Aufenthaltsrecht. Menschen, die sich bis zum 31.01.2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten haben, nicht straffällig geworden sind[2] sowie sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, können auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis auf Zeit erhalten. Innerhalb einer Zeit von 18 Monaten – und dieser Zeitraum ist nicht verlängerbar! – sollen sie die fehlenden Voraussetzungen für ein Bleiberecht nach Paragraf 25a und 25b AufenthG erfüllen. Dazu gehören insbesondere die Lebensunterhaltssicherung, ein Identitätsnachweis sowie der Nachweis von deutschen Sprachkenntnissen. Familienangehörige, die selber nicht die Voraussetzung eines fünfjährigen Aufenthalts zum Stichtag erfüllen (Ehegatten, Lebenspartner*innen, minderjährige Kinder, die mit Begünstigten in häuslicher Gemeinschaft leben und volljährige Kinder, die vor der Einreise minderjährig waren), können ebenfalls eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis erhalten.[3] Befristet ist die Regelung bis zum 31.12.2025.

Was wird kritisiert? 

Die Kritik am Paragrafen 104c AufenthG ist umfangreich, denn die versprochene Chance ist an sehr viele spezifische Bedingungen geknüpft und birgt damit auch folgenreiche Fallstricke für viele der Menschen mit Duldung:

Ausschluss vieler von Duldung Betroffener

Vor allem die Stichtagsregelung schließt viele Menschen von vornherein aus. Denn wer sich bis zum 31.10.2022 noch nicht seit 5 Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat, ist per se von einer Möglichkeit der Beantragung ausgeschlossen, selbst wenn die Zeit nur unwesentlich unterschritten wird. Unterbrechungen von jeweils max. drei Monaten in Deutschland sind dabei unschädlich, sofern eine Grenzübertrittsbescheinigung vorliegt und der Lebensmittelpunkt unverändert bleibt (Berlin Hilft 2023). Aufgrund der Stichtagsregelung sowie der zeitlichen Befristung der Regelung hat das Gesetz weiterhin keine Relevanz für Menschen, die zukünftig in Deutschland eine Duldung erhalten.

Die Chancen-Aufenthaltserlaubnis soll versagt werden, wenn Personen wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht und dadurch die eigene Abschiebung verhindert haben. Die Sanktion soll zwar nur erfolgen, wenn das Handeln eigenverantwortlich und kausal für die Verhinderung der Abschiebung war. Die reine Nicht-Mitwirkung oder andere Verhinderungsgründe wie Krankheit dürfen nicht zum Versagensgrund werden (vgl. Pro Asyl 2022). Dennoch: Die komplexe und prekäre Lebenssituation mancher Menschen in Duldung, die teilweise über Generationen eine Duldung ‚vererbt‘ bekommen, sowie bürokratische Verfahren, die dazu führen, dass Angaben zur Identität den Ausländerbehörden unveränderlich falsch vorliegen, könnte auch hier für einen Personenkreis nachteilig werden.

Und eine weitere Gruppe bleibt wieder einmal ausgeschlossen: Menschen ohne Papiere haben keine Möglichkeit, selbst wenn sie seit 5 Jahren hier leben, unter die Regelung zu fallen.

Prekäre Realitäten im Konflikt mit Bedingungen für das Bleiberecht

Für diejenigen, die die Voraussetzungen zur Beantragung erfüllen, sind die Bedingungen, von dort aus in §25a und 25b AufenthG innerhalb von 18 Monaten zu wechseln, voraussetzungsreich. Die Bundesregierung schätzte schon im Gesetzentwurf den Zugang selbst als hochschwellig ein, denn sie ging davon aus, dass nur ca. 33.000 Erwachsene und noch viel weniger Jugendliche/junge Erwachsene durch das Chancen-Aufenthaltsrecht in ein Bleiberecht wechseln werden (vgl. Bundesministerium des Innern 2022a, S.23).

Geduldete Menschen befinden sich oft in einer Situation, die von hoher Prekarität gekennzeichnet ist. Eingeschränkte Teilhabe, zum Beispiel durch eine verweigerte Arbeitserlaubnis, durch Diskriminierungserfahrungen und Rassismus wirken in grundlegenden Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Bildung, Ausbildung und am Arbeitsmarkt. Psychische Belastungen durch Flucht, die Situation im Herkunftsland sowie die teils jahrzehntelange unsichere Situation in Deutschland, tragen weiterhin dazu bei, dass viele Menschen aus schlechten Voraussetzungen heraus starten. Unsere Interviews[4] zeigen, dass junge Menschen in Duldung Vorstellungen und Ambitionen an ihren Lebensweg haben oder hatten, die häufig durch rechtliche Regelungen wie Arbeitsverbote und die Nicht-Anerkennung bereits im Ausland erworbener Abschlüsse durchkreuzt werden.

Dennoch sollen sie quasi «aus dem Stand heraus» binnen 18 Monaten Deutschkenntnisse nachweisen, einen Identitätsnachweis erbringen (was viele seit Jahren schon erfolglos versuchen), einen erfolgreichen Schulabschluss nachweisen, den Zugang zu Ausbildung oder eine Arbeit zur Lebensunterhaltssicherung finden. Die Voraussetzungen sind aufgrund der Heterogenität der Gruppe der Geduldeten individuell sehr unterschiedlich, z.B. in Bezug auf Duldungsformen, auf soziodemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht und Herkunftsland, auf soziostrukturelle Merkmale wie Bildung, den Familienstand, auf den gesundheitlichen Zustand oder den Grad der Behinderung.  

Viele der zu erbringenden Voraussetzungen liegen nicht oder nicht vollständig in der Hand der Betroffenen: Neben der Identitätsklärung, die häufig an der Ausstellung von Dokumenten an ausländischen Botschaften scheitert, betrifft das z.B. auch den Verlust von Arbeitsplatz oder Ausbildung. Dadurch ist die Gefahr des Rückfalls in die Duldung sehr hoch. Sofern durch Bemühungen im Zuge des Chancenaufenthaltsrechts bis dahin die Identität geklärt werden konnte, kann für Betroffene schlussendlich sogar die Abschiebegefahr steigen.

Wie andere Gesetzesveränderungen auch, schließt das Chancen-Aufenthaltsrecht an die Logik an, dass ein Aufenthalt durch besondere Anstrengungen «verdient» werden soll. «Aufenthalt gegen Leistung» ist dabei die Erwartung an Geflüchtete, die allerdings wie beschrieben nicht vollständig in der Hand der Betroffenen liegt.

Mal wieder: Ermessensspielräume der Ausländerbehörden

Es droht ein «Flickenteppich in der bundesweiten Erteilungspraxis» (Eckert/ terre des hommes 2022). Die Ausländerbehörden haben etwa bei der Identitätsklärung und Passpflicht in Fragen von Zumutbarkeit und Möglichkeit der Dokumentbeschaffung Spielräume im Ermessen sowie auch in der Auslegung dessen, was die Erfüllung von Mitwirkungspflichten angeht. Wohlwollende Ausländerbehörden, Sachbearbeitungen und Bundesländer eröffnen möglicherweise Chancen, die andernorts verwehrt werden, mit der Konsequenz, dass das Bleiberecht am Ende verweigert wird - für Betroffene, Beratende und Betriebe ein kaum nachvollziehbarer und schwer aushaltbarer Zustand.

Von einer tatsächlichen Neuausrichtung im Aufenthaltsrecht lässt sich daher nicht sprechen. Denn da keine Erteilungsansprüche vorgesehen sind, sondern eine Soll-Regelung besteht, liegt keine Verbindlichkeit von Seiten des Staates vor. Diese wäre dann erkennbar gewesen, wenn Betroffene zunächst einen sicheren Aufenthalt erhalten würden und auf dieser Grundlage einen selbst gewählten Lebensweg einschlagen könnten.           

Die Rolle der Kommunen

Für Kommunen gibt es mehrere Vorteile, wenn Menschen einen sicheren Aufenthalt haben. Mit der Prekarität gehen Belastungen für Betroffene einher, die auch negative Effekte auf das Zusammenleben in Kommunen haben können. Auch in finanzieller Hinsicht müssten Kommunen ein Interesse daran haben, dass es Menschen möglich ist, ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern.

Damit möglichst viele Geduldete vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren können, muss die Implementierung des Gesetzes zeitnah umgesetzt sein. So sind Kommunen und ihre Behörden zunächst einmal gefordert (gewesen), gezielte umfassende Informationen unkompliziert und niedrigschwellig an antragsberechtigte Menschen zu geben, beispielsweise in Ämtern oder in den Unterkünften. Das Bundesministeriums des Innern (2022b, S.1) hebt hervor, dass die Ausländerbehörden angehalten sind, «die betroffenen Menschen in ihren Bemühungen zur Erlangung eines Bleiberechts zu unterstützen und auf weiterführende Hilfsangebote hinzuweisen sowie ggf. geeignete Ansprechpartner in anderen Behörden zu benennen.» Dieser Hinweis muss von Seite der Ausländerbehörden ernst genommen und umgesetzt werden.

Ebenso könnten spezialisierte kommunale Angebote und Anlaufstellen, Koordinations- und Clearingstellen zur Verbesserung des Informationsflusses zwischen Unterstützungseinrichtungen sowie zur umfassenden und vermutlich langfristig notwendigen Begleitung von geduldeten Personen beitragen. Zur Informationsvermittlung und Begleitung verlässt man sich bislang gerne auf die lokalen Beratungsstellen sowie migrantische Selbstorganisationen, die oft aufgrund mangelnden Vertrauens in die Behörden bessere Zugänge zu den Menschen haben. In der Ressourcenverteilung müssen sie also auch mehr bedacht werden. Eine weitere wichtige Unterstützungsgruppe stellen Engagierte dar, die durch die juristisch komplexe Duldungssituation sowie aufenthaltsrechtliche Änderungen vor großen Herausforderungen stehen. Hier braucht es Schulungen sowie zugängliches Informationsmaterial. Die Kommunen tragen insofern einerseits Verantwortung und haben andererseits einen Handlungsspielraum, Menschen darin zu unterstützen in einen sicheren Aufenthalt wechseln zu können.

Insgesamt bleibt die Frage offen, ob das Instrument des Chancen-Aufenthaltsrechts in seiner jetzigen Form eine geeignete Praxis werden wird. Sinnvolle Nachbesserungen wären z.B. eine Entfristung des Gesetzes, die Aufnahme von undokumentierten Personen, die Abschaffung des Stichtages und auch die Umsetzung der schon angekündigten Einführung der eidesstattlichen Versicherung zur Identitätsklärung. Dem Ziel, nachhaltig vielen Menschen den Weg in einen gesicherten Aufenthalt zu ermöglichen, könnte man damit näherkommen.

Quellenverzeichnis


[1] Dabei handelt es sich vorrangig um Veränderungen der §25a und §25b AufenthG, die ein Bleiberecht durch den Nachweis von Lebensunterhaltssicherung und Sprachkenntnissen ermöglichen («gute Integration»). Hier wurden die Voraufenthaltszeiten im §25b für die Erwachsenen von acht auf sechs Jahre gesenkt und bei Familien von sechs auf vier Jahre, bei Jugendlichen (§25a) von vier auf drei Jahre. Zusätzlich umfasst der §25a nun auch junge Erwachsene zwischen 14-27 Jahre, vorher war die Grenze bei 14-21 Jahren. Durch eine einjährige Vorduldungszeit für Jugendliche wurde zugleich wieder eine Einschränkung eingebaut. Für alle Details zu den Änderungen Vgl. Pro Asyl 2022.

[2] Bagatellgrenze: Es gilt, dass Geldstrafen von weniger als 50 Tagessätzen bzw. 90 Tagessätzen bei Straftaten nach dem Aufenthalts- oder Asylgesetz nicht zu Lasten der Betroffenen gewertet werden, ebenso wie Verurteilungen zu Jugendstrafen.

[3] Lesbar werden Gesetzesänderungen durch die Arbeitshilfe der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V 2022.

[4] Im Rahmen des Forschungsprojektes «Teilhabe trotz Duldung? Kommunale Gestaltungsräume für geduldete Jugendliche und junge Erwachsene» haben wir 90 Interviews, u.a. auch mit geduldeten Menschen geführt. Wir analysieren empirisch die Teilhabe junger Geduldeter in Ausbildung und Arbeitsmarkt sowie die Rahmenbedingungen der Verfestigung ihres Aufenthaltes in der Aufnahmegesellschaft. Dabei werden kommunale Studien in je zwei Kommunen in Bayern (KU Eichstätt-Ingolstadt, Prof.in Dr.in Karin Scherschel, Marina Mayer), Hessen (HS Fulda, Prof. Dr. Ilker Ataç, Gesa Langhoop) und NRW (HS Düsseldorf, Prof.in Dr.in Susanne Spindler, Dr.in Sara Madjlessi-Roudi) durchgeführt.