Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Parteien / Wahlanalysen - Europa - Europa2024 Rechte Konfigurationen im Europäischen Parlament

Eine Bestandsaufnahme vor den Wahlen

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Jan Rettig,

Grafik mit Anteilen der Sitze der größten rechtsextremen Parteien in den nationalen Parlamenten ausgewählter EU-Länder.
Wie groß ist der Einfluss der Rechtsextremen?

Anteil der Sitze der größten rechtsextremen Parteien in den nationalen Parlamenten ausgewählter EU-Länder.
Stand: 26. September 2022, vorläufige Prognosen für Italien Quellen: Nationale Parlamente, YouTrend, Statista research, statista

Vor jeder Wahl zum Europäischen Parlament (EP) wird die politische Rechtsdrift in der Europäischen Union heiß diskutiert. Dazu drei schnelle Einschränkungen vorweg: Erstens ist die Macht des Parlaments sehr begrenzt; zweitens bedeuten ideologische und programmatische Nähe auch und gerade für die extreme Rechte noch keineswegs gute Zusammenarbeit; und drittens kommt ihnen in ihren europapolitischen Ansprüchen immer wieder die nationale Machtoption in die Quere. Aber wer sind die Rechten im EP und was wollen sie?

Die extreme Rechte im Europäischen Parlament

Zunächst eine kleine Sortierung des extrem rechten Spektrums im aktuellen EP, etwas quer zu den Fraktionen, aber entlang vergleichbarer Entwicklungen, die ganz wesentlich durch die nationalen Kontexte bestimmt sind.

Zu den jungen Erfolgreichen gehört allen voran die Alternative für Deutschland (AfD). Für deren Aufstieg innerhalb der letzten zehn Jahre brauchten manche ihrer europäischen Pendants drei bis vier Jahrzehnte. Mit ihren Vorstellungen zwischen EU-Skepsis und -Feindschaft war die AfD in praktisch-politischer Hinsicht im EP bisher eher planlos und daher noch nicht voll in die europäischen Netzwerke integriert. Das soll sich jetzt mit dem von ihr jüngst beschlossenen Aufnahmewunsch in die Euro-Partei Identity and Democracy (ID) ändern. Genauso jung und noch erfolgreicher sind die Erben der spanischen und italienischen Faschismen, Vox und Fratelli d’Italia. Trotz ihrer ideologischen Nähe zu den ID-Parteien orientieren sie aber auf Fraktion und Partei der European Conservatives and Reformists (ECR). Anders die estnische Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (EKRE), die seit ihrem EP-Einzug 2019 verlässlich zur ID steht.

Jan Rettig lebt und arbeitet als Aktivist, Dozent und Koordinator einer lokalen Partnerschaft für Demokratie in Bremen.

Mit ihrer nationalen Bedeutung sind die drei letztgenannten Parteien gleichsam Teil einer zweiten großen Kohorte der Regierenden, Regierungserfahrenen oder Regierungsnahen. Auch sie unterscheiden sich wesentlich in ihrer Fraktionsorientierung. Die italienische Lega und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) haben sich auch während ihrer nationalen Regierungsbeteiligungen positiv und tatkräftig auf die ID als Kern eines extrem rechten europäischen Bündnisses berufen. Die polnische Prawo i Sprawiedliwość (PiS) und der ungarische Fidesz hingegen halten Distanz zu den vermeintlich Radikaleren, und die finnischen Perussuomalaiset sind direkt nach ihrem nationalen Wahlerfolg im Frühjahr 2023 (und vor ihrer folgenden Regierungsbeteiligung) aus der ID-Fraktion aus- und wieder in die ECR-Fraktion eingetreten. Deren Gründungsmitglied Nacionālā apvienība (Nationale Allianz, NA) wiederum ist schon seit 2014 Teil lettischer Regierungen. Die Dansk Folkeparti (DF) dagegen war noch nie Teil einer dänischen Regierung, durch ihre Rolle als Stütze von Minderheitsregierungen aber sehr wohl bereit und in der Lage, immigrationsfeindliche «Realpolitik» durchsetzen. Ihre liberal-konservative Herkunft erlaubte es ihr in der Vergangenheit, in diversen euroskeptischen EP-Fraktionen mitzuschwimmen; 2019 war sie dann aber eine der Initiatorinnen der ID.

Dort kam die DF mit den wirklich Unermüdlichen zusammen, die bisher ebenfalls von Regierungsbeteiligungen ausgeschlossen blieben. Die Wahlerfolge des Rassemblement National (RN) seit über 30 Jahren, sein ausgebautes Sozialprogramm und seine Entdämonisierungsstrategie haben noch immer nicht für einen nationalen Regierungsauftrag in Frankreich gereicht. Teilverantwortlich dafür ist das französische Mehrheitswahlsystem, im Fall der Präsidentschaftswahlen aber vor allem das im zweiten Wahlgang immer neu aktivierte links-liberal-konservative Verhinderungsbündnis. Wegen der verpflichtenden Verhältnisrepräsentation im EP ist der RN hier bereits seit langem stark vertreten und bündnisorientiert. Aufgrund von Geldveruntreuung, internen Streits und der Abspaltung einiger Europaabgeordneter spielte er in der letzten Legislaturperiode aber keine treibende Rolle mehr. Das dürfte sich 2024 wieder ändern, wenn der RN die mit Abstand größte extrem rechte Delegation im EP stellen dürfte. Ebenso ausdauernd und bisher nichtregierend ist der belgisch-flämische Vlaams Belang (VB). Nach dessen enormen Gewinnen bei den belgischen Parlamentswahlen 2019 war die gesellschaftliche Diskussion geprägt von Sorgen, dass sich auch dieser politische Cordon sanitaire bald auflösen könnte. Im EP steht er seit jeher unverbrüchlich an der Seite des RN.

Eine andere, geteilte Erfahrungswelt haben einige eher kleine Neulinge. Die slowakische Sme Rodina (Unsere Heimat) wurde schon 2019 im EP erwartet, verpasste den Einzug aber knapp. Sie trat dennoch der ID-Partei bei und hat gute Chancen, 2024 auch mit Abgeordneten vertreten zu sein. Die erst 2019 gegründete portugiesische Chega (Genug) war für die vergangene EP-Wahl noch irrelevant, wird aber diesmal sicher einziehen. Auch sie ist bereits Teil der ID-Partei. Die tschechische Svoboda a Přímá Demokracie (Freiheit und Direkte Demokratie) ist bislang zwar unter dem Radar geblieben, aber schon längst im EP und dort seit Beginn in der ID-Fraktion vertreten. Sie alle haben sich in ihren nationalen Kontexten auf unterem bis mittlerem Niveau als Opposition etabliert. Das trifft auch auf die in griechisch-völkischer Traditionslinie stehende Elliniki Lysi (Griechische Lösung) zu, die im Parlament allerdings eher auf Seriosität in der ECR-Fraktion aus ist.

Außer Konkurrenz und dauerhaft fraktionslos laufen die ungarischen und griechischen Neonazis von Jobbik und Chrysi Avgi. Zwei slowakische Abgeordnete sind ursprünglich für die Neonazipartei Kotlebovci ins EP gewählt worden, mittlerweile aber ausgetreten bzw. auf Abstand gegangen und im Auftrag der ebenfalls extrem rechten Parteien Republika und Slovenský Patriot unterwegs.

Kein «business as usual»

Bei den Wahlen zum EP 2019 erzielte die europäische extreme Rechte historische Ergebnisse, gut ein Fünftel aller Europaabgeordneten sind ihr seitdem zuzurechnen. Zu diesem Zeitpunkt war die Lega in Italien noch, die FPÖ gerade nicht mehr und die estnische EKRE ganz frisch in nationalen Regierungswürden. Entsprechend selbstbewusst trat man auf europäischer Ebene auf. Auch wenn aus dem Regieren, wie Matteo Salvinis Zielvorstellung damals lautete, nichts wurde, stellte die ID mit 73 Abgeordneten doch die größte dezidiert extrem rechte Fraktion seit Bestehen des EP. Sie war die – auch das ist nicht selbstverständlich in diesem Spektrum – bruchlose und um einige kleinere Parteien erweiterte Fortführung der vorherigen Fraktion Europe of Nations and Freedom. Die als vergleichsweise moderat geltende ECR-Fraktion konnte ebenfalls weiterbestehen. Sie startete geschwächt; Perussuomalaiset und DF waren zur ID-Fraktion gewechselt, später mussten auch die britischen Konservativen gehen. Doch dafür waren neben der PiS und den Sverigedemokraterna (SD) nun Vox und Fratelli an Bord.

Den ungarischen Fidesz ereilte während dieser Legislaturperiode die Fraktionslosigkeit. Nach den Unvereinbarkeiten zwischen dem autoritären Staatsumbau mit diversen Ausgrenzungspolitiken in Ungarn und der christlich-konservativen Parteienfamilie wurde er zunächst aus der Europäischen Volkspartei (EVP) suspendiert und trat dann selbst, kurz vor Ausschluss, Anfang 2021 aus Partei und Fraktion aus.

Der große Knall des Brexit

Die aktuelle Legislaturperiode war von teilweise unvorhersehbaren Brüchen geprägt, die die europäische Rechte inhaltlich und ideologisch herausforderten. Das Historische: Zum ersten Mal verlässt ein Mitgliedstaat die EU. Seine lange Vorgeschichte hat der Austritt Großbritanniens in diversen (und häufig verlängerten) Verhandlungen, die durch das britische Referendum bereits 2016 eingeleitet wurden. Als politisches Ziel war der EU-Austritt aber bereits Anfang der 1990er durch die Gründung der United Kingdom Independence Party (UKIP), später The Brexit Party, in die Welt gesetzt worden.

Seit Ende der 1990er Jahre sind UKIP und vor allem ihre charismatische Führungsfigur Nigel Farage auf der europäischen Bühne präsent und vernetzt. Nachdem ihr EU-feindliches Sammelbecken zwei Legislaturperioden lang unter dem Fraktionsnamen Europe of Freedom and (Direct) Democracy firmierte, wandten sie dem parlamentarischen Plenum zu dessen Auftaktsitzung 2019 schließlich demonstrativ den Rücken zu und zogen Anfang 2020 ganz unspektakulär aus dem EP aus. Ihr realpolitischer Erfolg hat sie zu diskurspolitischen Pionieren der extremen Rechten gemacht. Die jeweils spezifischen Exit-Diskussionen sind samt und sonders beseelt von den Projektionen auf die Möglichkeit nationalstaatlich-souveränen Handelns – was aber noch längst nicht heißt, dass man sich in der Sache und der Einschätzung vor allem ihrer ökonomischen Folgen einig wäre. In der AfD war eine weitreichende EU-Feindschaft seit ihrer Gründung 2013 identitätsstiftend, den deutschen EU-Austritt nahm sie dennoch explizit erst Anfang 2021 programmatisch auf, schwächte ihn gleichwohl für den Europawahlkampf 2024 schon wieder ab. Der RN ließ den französischen Austritt schon 2019 fallen, sein EU-Diskurs trat seither deutlich in den Hintergrund.

Übernimmt eine extrem rechte Partei Regierungsverantwortung, besitzt ein EU-Austritt ohnehin nur noch geringe Priorität. Trotz souveränistischer Ansprache und EU-feindlicher Rhetorik verfolgten in Italien beispielsweise weder die Lega in der Vergangenheit, noch die Fratelli in der Gegenwart das Ziel, das Land aus der EU zu lotsen. Während der letzten Regierungsbeteiligung der FPÖ gab es in Österreich keine derartigen Vorstöße mehr, und auch von EKRE, NA oder PiS kam nichts mehr in dieser Hinsicht. Gerade die PiS hat eine ideologisch gefestigte West- und damit, trotz aller Renitenz, auch EU-Orientierung. Ein wenig aus der Reihe tanzen die Perussuomalaiset, die einen finnischen Exit aufgrund der aktuellen russischen Bedrohung derzeit pragmatisch zurückstellen.

Die politischen Folgen der Covid19-Pandemie

Ebenfalls Anfang 2020 breitete sich weltweit die Corona-Pandemie aus, ein wahrer Lackmustest für eine globalisierte Weltgesellschaft. Ihr folgten einschneidende soziale und politische Maßnahmen, von der Maskenpflicht bis zu den Lockdowns. Das Spektrum rechter Positionen dazu war extrem breit und reichte von Leugnung bis Anerkennung des Virus und, bezogen auf die ergriffenen Maßnahmen, von Ablehnung bis Unterstützung.

Die Diversität der Positionen innerhalb der ID war aber zu keinem Zeitpunkt Anlass für Streit oder Spaltung. Und das aus gutem Grund, denn zentrale Corona-Maßnahmen kamen rechten Politikvorstellungen sehr nahe – wie etwa die weitgehende Einschränkung der Personenfreizügigkeit und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen für Personen an fast allen europäischen Binnengrenzen, die Schließung nach außen (fälschlicherweise als Aussetzen von Schengen bezeichnet, obschon Waren und Kapital davon verschont blieben) und die national-souveräne Bestimmung von Infektionsschutzmaßnahmen und Konjunkturprogrammen. Damit offenbarten die Maßnahmen ein anachronistisch-reaktionäres Politikverständnis, dessen Möglichkeitshorizont aus sozialer Segregation, räumlicher Abschottung und nationaler Grenzziehung besteht. Hinzu kam ein erhöhtes Autoritätsbedürfnis, das sich auch in einem größeren Vertrauen in die Pandemiepolitiken amtierender Regierungen (unabhängig von ihrer Rechts-Links-Verortung) zeigte. In Krisen verstärkt sich, wie wir sehen konnten, der Wunsch nach Führung und Unterordnung – ein für die Rechte noch längst nicht erschlossenes Potenzial.

Dauerbrenner Migration

Das seit Jahrzehnten wichtigste Thema für die Rechte ist die globale Migration. Die aktuell diskutierte europäische Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement markiert eine Verschärfung der Asylprüfungs- und Ablehnungsprozesse und erfordert eine rigidere innereuropäische Aufgaben- und Kostenverteilung. Ersteres ist gemeinsames Grundanliegen der gesamten extremen Rechten, letzteres sorgt je nach Perspektive auch für Unmut.

Die Opposition von Fidesz und PiS richtet sich hauptsächlich gegen die Umverteilung von Geflüchteten und verpflichtende Ausgleichszahlungen. Aufgrund aktueller Fluchtroutenschwerpunkte will die Fratelli dagegen in erster Linie eine Umverteilung (weg aus Italien). Und so ergibt sich die Absurdität, dass eine postfaschistische italienische Ministerpräsidentin mit den rechten Amtskollegen aus Polen und Ungarn über ein inhaltlich rechtskonservatives europäisches Asylgesetz verhandeln muss.

Gleichzeitig findet Antiimmigrationspolitik praktisch auf vielen Ebenen statt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Unter Fidesz-Ägide werden in Ungarn, regierungsamtlich verordnet, Grenzzäune gebaut, an der deutsch-polnischen Grenze patrouillieren sich selbst ermächtigende Neonazis. Propagandistisch wirksam ruft die faschistische Identitäre Bewegung zum Kampf gegen die Seenothilfe auf, und der SD-Vorsitzende Jimmie Åkesson verteilt an der türkisch-griechischen Grenze Flugblätter mit der Botschaft, sich von Schweden fernzuhalten.

Der Krieg gegen die Ukraine

Eine ungleich komplexere Herausforderung markiert der Krieg gegen die Ukraine. Die Maidan-Proteste, die russische Krimannexion und die Separation zweier ostukrainischer «Volksrepubliken» legten schon seit 2013/14 eine zentrale Spaltungslinie innerhalb der europäischen Rechten offen. Damals beteiligten sich ausländische Faschist*innen auf ukrainischer wie auf prorussischer bzw. separatistischer Seite an den Kampfhandlungen. Diese Differenzen finden sich auch in aktuellen parlamentarischen Diskursen wieder. Formal haben sich fast alle Parteien der ID- und der ECR-Fraktion im EP und in ihren nationalen Kontexten gegen den russischen Angriff auf die Ukraine ausgesprochen. Alte Verbundenheit und Verbindlichkeiten wurden nur in Zwischentönen und Relativierungen deutlich. So zahlt der RN noch immer einen russischen Kredit von 2014 ab, durch Firmenübernahme mittlerweile an ein Rüstungsunternehmen. Matteo Salvinis Gebaren zeigt, dass die Lega ihre Freundschaftsabkommen mit der russischen Regierungspartei Jedinaja Rossija (Einiges Russland) ernst nimmt. Die Russlandverbindungen der FPÖ sind hinlänglich bekannt, die AfD hat mittlerweile die meisten ihrer sogenannten Transatlantiker*innen abgestoßen und bezieht mehrheitlich prorussische Positionen, diskursstrategisch nunmehr ummantelt von einer formalen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine. Die Bruchlinie zu einem Großteil der osteuropäischen Rechten, allen voran zur polnischen, aber auch zum antirussisch modernisierten Antikommunismus von Vox und Fratelli, tritt offen zutage.

Der von den Perussuomalaiset mitgetragene NATO-Beitritt Finnlands dürfte auch ein Grund für deren Austritt aus der ansonsten zumindest russlandtoleranten ID-Fraktion gewesen sein. Diese Bruchlinie wird, abhängig von der Entwicklung des russischen Macht- und Drohpotenzials, auf absehbare Zeit nicht zu kitten sein. Seit Beginn des Ukrainekriegs gehen allerdings die Zustimmungswerte für Russland bzw. Wladimir Putin unter rechten Wähler*innen europaweit drastisch zurück, was mit ebendiesem russischem Angriffskrieg zusammenhängen dürfte.

Ausblick

Fest steht erstens, dass die EP-Wahlen im Juni 2024 Rechten einen weiteren Zuwachs bringen werden. Insgesamt steigen die Anzahl und der Anteil extrem rechter Abgeordneter im Europäischen Parlament schon seit Jahrzehnten an. Die Zeit scheint günstig für die Rechten, sie sind Kinder der Verhältnisse, und die Verhältnisse verzeihen ihnen derzeit fast alles. Die Rechten mögen widersprüchliche und falsche Antworten auf die globalen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen formulieren – linke Alternativen jedoch, die ihnen Paroli bieten könnten, sind derzeit kaum zu erkennen.

Zweitens ist das rechte Lager selbst in Bewegung. Die ID-Fraktion hat während der laufenden Legislaturperiode bereits ein Sechstel ihrer Abgeordneten verloren. Vor und während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2022 sind allein vier RN-Europaabgeordnete in die Reconquete!, die Partei des ausgewiesen migrations- und islamfeindlichen Rassisten und geschichtsrevisionistischen Nationalisten Éric Zemmour, übergetreten und seitdem fraktionslos. Die Lega hat drei Mandate an Forza Italia und eins an die Fratelli verloren, was aus nationaler Regierungssicht lediglich eine innerfamiliäre Umverteilung markiert. Allerdings hat die Lega auch in Italien viel Unterstützung verloren und wird in einer ID-Nachfolgefraktion nicht mehr die größte Akteurin sein. Die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV) bzw. ihr zuvor noch zum Forum voor Democratie (FvD) gewechselter Abgeordneter Marcel de Graaff war der einzige Fraktionsaustritt aufgrund von Differenzen in der Ukrainefrage. Sie war, wie auch die Perussuomalaiset, nur ein personelles Leichtgewicht. Durch Austritte der beiden Abgeordneten erfüllt die ID aber nur noch knapp das Länderquorum für eine Fraktion.

Die schon fast totgeglaubte ECR-Fraktion hingegen stabilisiert sich in doppelter Hinsicht, und das auf hohem Niveau: Mitgliedsparteien wie Vox und Fratelli sind mittlerweile in ihren nationalen Kontexten bedeutsam bzw. gar regierungsführend, und sie werden durch die zu erwartenden guten Wahlergebnisse 2024 den quantitativen Anteil der extremen Rechten in der ECR-Fraktion weiter ausbauen. Mit geringerer Repräsentanz gilt das auch für die Vertreter*innen der baltischen und skandinavischen Rechten, die strategisch auf die ECR-Fraktion orientieren.

Drittens: Diese Kräfteverschiebungen innerhalb des rechten Lagers sind weniger hinsichtlich ihrer Sortierung entlang ideologischer Spektren, sondern vielmehr wegen realpolitischer Machtbündelungen interessant. Auch wenn auf europäischer Ebene bisher nur bedingt eine eigenständige Politik gemacht wurde, kann eine starke Bündelung bestimmter Interessen bzw. gemeinsamer Feindschaften sehr wohl den politischen Prozess auf dieser Ebene stören. Je mehr starke Parteidelegationen sich im EP (als Fraktionen) koordinieren und gleichzeitig an anderen EU-Gremien wie den Ministerräten und dem Europäischen Rat (als nationale Regierungsvertreter*innen) beteiligt sind, umso effektvoller. Die zunehmende Fragmentierung vieler nationaler Parteiensysteme hat längst auch das EP erreicht; 2019 hatten die europäischen Christ- und Sozialdemokratien zum ersten Mal seit Bestehen des Parlaments zusammen keine absolute Mehrheit mehr.

Viertens schließlich gibt es, bei allen Unwägbarkeiten, aber auch einige relativ feste Determinanten der innerrechten Neusortierung – allen voran die nun schon langjährige Verbindung von RN, Lega, Vlaams Belang und FPÖ. Sie scheint kaum noch etwas auseinanderbringen zu können, kein Ibiza- oder Korruptionsskandal, keine unterschiedlichen Positionen zur Corona-Pandemie oder zur Ukraine. Bis auf die PVV, die durch die Post-Brexit-Neuverteilung einiger Mandate nachgerückt ist und ohnehin schon zum alten Freundeskreis gehörte, hatte die ID-Fraktion im Verlauf der letzten Legislaturperiode allerdings ausschließlich Abgänge zu verzeichnen. Die Abgeordneten der äußersten extremen Rechten scheinen im laufenden Geschäft offensichtlich wenig attraktiv und bieten kaum strategische Perspektiven. Die Wechsel diverser Abgeordneter in ihre nationalen Parlamente und das entsprechende Nachrücken hat der Fraktion die Ausstrahlung eines laufenden Personalkarussells verliehen. Entgegen ihrer Projektionen und Behauptungen relativieren sie damit beständig die Relevanz des EP.

An vielen Stellen eher auf nationale Politik fixiert ist auch die Visegrád-Verbindung von Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien. Sie hält zwar in wirtschafts- und migrationspolitischen Fragen zusammen und deckt sich gegenseitig in den Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU; in der Außen- und Sicherheitspolitik aber gehen sie auseinander. Der Fidesz sucht immer wieder positive Bezüge zu Russland, die PiS zur NATO. Dass diese beiden Schwergewichte in einer Fraktion zusammenkommen, scheint mehr als unwahrscheinlich.

Eine rechte «Superfraktion» bleibt also auch nach 2024 unrealistisch. Es wird eher eine weiter gewachsene und sich nach innen ausdifferenzierende rechten Fraktionslandschaft sein, in deren Rahmen eine große Zahl Abgeordneter finanziell und infrastrukturell ausgestattet werden, um ihre reaktionären und menschenfeindlichen Agenden voranzubringen
 

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