Hintergrund | Partizipation / Bürgerrechte - Migration / Flucht - Europa - Europa2024 30 Jahre Kampf um ein menschenwürdiges Asyl in Europa

Die Europaabgeordnete Cornelia Ernst blickt auf ihre Zeit im Kampf für die Rechte von Geflüchteten zurück

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Cornelia Ernst,

Eine Gruppe Geflüchteten in Malaga.
Eine Gruppe algerischer Geflüchteten wird nach Malaga gebracht, nachdem eine große Anzahl von Booten an der Küste von Almeria angekommen ist.

 

 

 
 

 

 

Foto: IMAGO / ZUMA Wire

30 Jahre nach der Zurechtstutzung des Asylrechtes in der bundesdeutschen Verfassung, fiel Thorsten Frei von der CDU im Sommerloch nichts Besseres ein, als den Abschuss des Asylrechtes im Grundgesetz vorzuschlagen. Das Asylrecht müsse weg, eine Kontingentlösung her (die menschen- und verfassungsrechtlich keinen Halt hat). Mal abgesehen davon, dass die Streichung dieses Grundrechtes ein Aufruf zur Delegitimierung aller Fluchtgründe von Asylsuchenden führen und damit den Zusammenhalt unserer pluralen Gesellschaft weiter destabilisieren würde, gibt es dafür weder in der deutschen Gesellschaft noch im Bundestag eine entsprechende Mehrheit. Zur weiteren Kultivierung des Rechtsrucks der CDU hatte Herr Frei die Nebelkerze gezündet und ungewollt der Ampelkoalition die Möglichkeit geboten, sich als Gutmenschen zu präsentieren, die sie leider gar nicht sind. Denn so wichtig ein solches Grundrecht ist, so wenig wäre mit seiner Streichung im Grundgesetz das Asylrecht abgeschafft. Was alle Beteiligten unter den Tisch kehren ist der Fakt, dass die Asylpolitik europäische Gemeinschaftspolitik ist. Auch die Mitgliedstaaten, die das Asylrecht nicht verfassungsmäßig verankert haben, müssen Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta, die sich der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet hat, umsetzen. Sämtliche nationale Regularien basieren daher auf europäischen Regeln. Ein gutes Beispiel ist die Temporary Protection Directive (TPD), die heute als juristische Grundlage für die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge in der EU dient. Erst wenn auf europäischer Ebene das Asylrecht gekippt wird, ist es weg.

Dr. Cornelia Ernst ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Ihre Schwerpunkte dort sind unter anderem Migrations- und Flüchtlingspolitik.

Womit wir direkt beim EU-Asylkompromiss des Europäischen Rates sind. Viel wirkungsmächtiger ist dieser Kompromiss, der von SPD, FDP und den GRÜNEN mitunterstützt wurde, weil er tatsächlich das individuelle Recht auf Asyl kippen könnte. Der Kompromiss enthält Regelungen, die die Aussortierung von Flüchtlingen an den Grenzen und keine verbindlichen Verpflichtungen zur Aufnahme von Geflüchteten seitens der Mitgliedstaaten enthalten sollen. Die gleichen Sozial- und Freien Demokraten sowie Grünen, die wacker gegen Frei und Merz im Sommer wetterten, stimmten auf europäischer Ebene als Abgeordnete einem miserablen Parlamentsbeschluss zum Asylpaket zu und exakt ihre Parteien sorgten im Europäischen Rat dafür, dass der sogen. Asylkompromiss des Rates, der übrigens noch nicht einmal eine Kontingentlösung beinhaltet, zustande kam. So schnell holt einen die Wahrheit ein…weder CDU, SPD, FDP noch die Grünen verteidigen das individuelle Recht auf Asyl. Das ist die Tragik der Geschichte.

1993

1992 erreichte meine Heimatstadt Dresden per Zug Kriegsflüchtlinge aus Bosnien, wo bis 1995 100.000 Menschen ihr Leben verloren. Als damalige Mitarbeiterin der PDS-Landtagsfraktion Sachsen stand ich mit dem Ausländerbeauftragten Heiner Sandig (CDU) am Hauptbahnhof, als sie ankamen. Schwer gezeichnet, nahezu wortlos stiegen sie aus den Zügen, ein Moment, der sich fest in mir eingebrannt hat. Wir brachten diese Menschen nach Großröhrsdorf in eine ehemalige Ferienanlage. «Das ist Krieg!» meinte damals Heiner Sandig. Mit ihm kämpfte ich später gegen die Abschiebung dieser Leute, teilweise ein Kampf gegen Windmühlen. Denn 1993 beschloss der Deutsche Bundestag unter dem Eindruck der wachsenden Zahl von Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD, das Grundrecht auf Asyl radikal einzuschränken und das sogenannte «sichere Dritt- und Herkunftsstaatenprinzip» einzuführen. Die skandalöse Begründung war, «Asylmissbrauch» müsse verhindert werden. War vor 1993 durch Artikel 16 gedeckt, dass das Asylrecht nicht durch einfaches Gesetz einschränkbar war, änderte sich das nun. Der ganze Wust an Gesetzen und ständigen Abänderungen begann und führte dazu, dass in Deutschland das Asylrecht immer mehr in einem Dickicht verschwand. Erst nach Beendigung des furchtbaren Jugoslawienkrieg wurden mit der EU-Temporary Protection Directive von 2001 richtige Lehren aus dem blutigen Jugoslawienkrieg gezogen. Dennoch: Keine einzige vergewaltigte Bosnierin kam je in den Genuss dieser Richtlinie. Denn es dauerte 21 Jahre bis zu ihrer erstmaligen Anwendung für ukrainische Geflüchtete.

Zur Gründungsakte der EU und ihrer DNA gehören die Menschenrechte.

Dazwischen lagen Jahre der Kämpfe. 2009 kam ich ins Europaparlament, noch vor Weihnachten fuhr ich nach Pristina in den Kosovo. Dahin erfolgten Abschiebungen von Roma-Familien aus Deutschland, weil angeblich der Kosovo sicher sei für sie. Ich traf dort Familien, deren Väter in Autowerkstätten und bei Bosch gearbeitet hatten, deren Kinder kein Wort Albanisch sprachen. Und sogenannte freiwillige Rückkehrer*innen, die für ein paar Euro Deutschland «freiwillig» verließen. Allesamt landeten sie im Nichts, ohne jede soziale Unterstützung, da, wo ich die meisten Roma-Gemeinschaften antraf, auf Müllhalden in Belgrad, wohin ihre Dörfer mit Bulldozern geschoben wurden, in Usti nad Labem hinter einer Mauer, in Neapel am Rande der Stadt und auf der Prager Straße in Dresden. Europa pfeift auf seine Kinder...

Der arabische Frühling

Der arabische Frühling startete mit dem Selbstmord von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Tunis. In fast allen arabischen Ländern erhoben sich Menschen gegen die Regime, begrüßt in ganz Europa. In Syrien, Libyen, im Jemen und im Irak eskalierten oppositionelle Proteste und gewaltsame staatliche Repression. Diese Konflikte wurden durch eine falsche Politik des Westens weiter angeheizt. In Syrien unterstützte der Westen islamistische Kämpfer, die lediglich Assads Macht durch die ihre austauschen wollten, in Libyen wurde der Bürgerkrieg forciert durch die Flugverbotszone und das militärische Eingreifen. Und der 2003 begonnene völkerrechtswidrige Krieg der USA im Irak führte zwar zum Sturz von Saddam Hussein, aber die desaströse US-Besetzung hatte 2014 auch DAESH zum Sieg verholfen, der islamistischen Kampftruppe, die zum Ausgangspunkt islamistischer Kämpfe in der gesamten arabischen Region und weltweiter Anschläge wurde. Viele Menschen wurden ermordet, gejagt und vertrieben. Der Traum vom arabischen Wandel war vorbei.

Im Januar 2015, wenige Monate nach der Eroberung von Mossul durch DAESH war ich mit meinem sozialdemokratischen Freund Joseph Weidenholzer in den umkämpften kurdischen Gebieten des Irak. Insbesondere Jesid*innen waren Zielgruppe des genozidalen Vernichtungsfeldzuges von DAESH, in welchem jesidische Männer nach faschistischem Vorbild ihr eigenes Grab ausheben mussten. Die Frauen wurden an Emire zu Tausenden verkauft und versklavt. Dass überhaupt noch Menschen dieser religiösen Minderheit aus dem Sinjargebirge überlebten, hatten sie der dort zurückgezogenen PKK zu verdanken. Tausende Jesid*innen verließen ihre Dörfer und die Lager in Dohuk waren so schlimm, dass viele den Weg nach Europa wagten. Wie auch Aufständische aus anderen arabischen Staaten, Frauen, Kinder, Männer, ganze Familien. Sie kamen auf Booten und wir trafen sie auf der sogenannten Balkanroute.

Nie wieder 2015?

Die Debatte über dieses Jahr ist geradezu kryptisch. Migrant*innen seien unkontrolliert nach Europa gekommen und hätten das Mitgefühl der Europäer*innen missbraucht. Dieser Unsinn wird munter in den Medien daher geplappert. Merkel sei an allem Schuld, weil sie ein Selfie mit einem Migranten zuließ. 2015 bin ich mit unserer Fraktion die gesamte Balkanroute entlang unterwegs gewesen. U.a. standen wir an der serbisch-kroatischen Grenze, wo jede einzelne Person registriert und Fingerabdrücke genommen wurden. Alle notwendigen Daten wurden erfasst, die Weiterreise nach Norden per Bus organisiert. Das geschah faktisch an jeder Grenze, ein Datenaustausch wäre eine Kleinigkeit gewesen.

Das Recht auf Asyl ist längst zum Spielball der Mitgliedstaaten geworden.

Die Balkanroute war die einzig sichere Route für viele Geflüchtete seit vielen Jahren, um Kriegsflüchtlingen schnellstmöglich Hilfe zu gewähren. Es lag nicht an den Flüchtlingen, sondern an einer egoistischen und skandalträchtigen Grenzschließungspolitik von Griechenland bis Ungarn und Österreich, so dass Tausende Geflüchtete festsaßen unter chaotischen Bedingungen. Versagt hatte die EU, die nicht bereit war, eine würdige Aufnahme zu gewähren.

Was ist los mit der EU?

Zur Gründungsakte der EU und ihrer DNA gehören die Menschenrechte. Die Lehre zweier Weltkriege ist es, Menschen in Not Asyl zu gewähren. Die EU ist samt Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet.

Vor knapp 10 Jahren, am 3.10.2013 sank ein Kutter aus der libyschen Hafenstadt Misrata kommend vor Lampedusa. 366 Menschen starben. Vor den Kindersärgen brach die damalige Migrationskommissarin Malmström in Tränen aus, während ihre heutige Amtsnachfolgerin Johansson beim Schiffsunglück vor Pylos, wo 500 Menschen starben, von einer nötigen Verstärkung des Grenzschutzes sprach. Symbolträchtiger geht es nicht. In den 10 Jahren ist eine besorgniserregende Verrohung des Umgangs mit Migration zustande gekommen, die nur noch von hartleibigen Rechtsradikalen getoppt wird, die sogar auf Migrant*innen schießen würden.

2016 kam die Kommission mit einem Asylpaket um die Ecke, bestehend aus 5 Gesetzesvorhaben, eines schlechter als das andere. 2017 beschloss das Europaparlament dazu seine Stellungnahmen, die sich in vielem deutlich davon distanzierten. Zu Verhandlungen mit dem Rat im Trilog kam es nie, weil er sich selbst nicht einig wurde und das Europaparlament z.B. den DUBLIN-IV-Verordnungsvorschlag vollständig umkrempelte zu einem menschenwürdigen Aufnahmegesetz, dem sogar die Linke Fraktion im Plenum zustimmte. Es war der Mitte-Links-Kooperation zu verdanken, dass dieser Parlamentsbeschluss einen Kriterienkatalog sowie verbindliche Aufnahmeverpflichtungen für die Mitgliedstaaten enthielt. Schon 2015 hatte die Kommission eine dubiose Migrationsagenda beschlossen, die darauf abstellt, Flüchtlinge in Zentren, sprich Gefängnisse in Transit-und Drittstaaten festzusetzen, damit möglichst niemand nach Europa gelangt. Geradezu obsessiv wurde seitdem besonders der afrikanische Gürtel zugeriegelt und übelsten Regimen dafür Millionen Gelder zugeschanzt, wie Libyen 60 Millionen, wo Folter und Vergewaltigung die Tagesordnung in den Lagern bestimmt. Das Auswärtige Amt hatte 2017 die libyschen Lager als «KZ-ähnlich» eingestuft, der Papst als «die Hölle». Neben Libyen wurde Niger zum Schlüsselland der Migrationsabwehr, wo Migrant*innen systematisch in die Sahelzone getrieben werden und wir die gesamte Zahl der Toten gar nicht kennen, 13.000 sind es geschätzt. Was aus den im Niger festgehaltenen Menschen werden soll, ist völlig offen, angesichts der katastrophalen Situation seit dem Putsch des Militärs. Vor ein paar Wochen folgte nun das Migrationsabkommen mit Tunesien, damit für 900 Mio. Euro Flüchtlinge noch effizienter verfolgt werden.

Das «Traumabkommen» der Kommission ist jedoch der EU-Türkei-Deal vom 18. März 2016, der von keinem Parlament der Welt abgestimmt wurde. Bis Ende 2018 wurden sechs Milliarden Euro für konkrete Projekte in den Bereichen der Grundversorgung, Gesundheit und Bildung, wie es offiziell heißt, über den Tisch geschoben, ohne Kontrolle des Mittelabflusses und bis 2023 nochmal 3 Mrd. zusätzlich, insbesondere für den Grenzschutz. Und das obwohl seit März 2020 das Abkommen nur noch auf dem Papier steht. Im Mai 2016 waren wir in der Türkei und sahen die mit EU-Mitteln erbauten Gefängnisse von innen. In Edirne traf ich dort eine Afghanin mit 2 Kleinkindern, die zu ihrem Mann wollte, der als ehemaliger Dolmetscher für die Bundeswehr nach Mainz geflüchtet war. Die Familienzusammenführung verwehrte die deutsche Regierung, die Mutter der Kinder wurde Opfer eines Tötungsdeliktes und die Kinder allem Anschein nach verkauft. Die Auslagerung der Asylpolitik – Externalisierung – ist eines der wichtigsten Ziele von Kommission und Rat. Aber nicht überall klappt das, glücklicherweise. Einer der Tricks der Kommission besteht darin, Mauretanien und Senegal mit einem exklusiven Frontex-Status-Agreement zu beglücken, als erste afrikanische Staaten. Die Flüchtlingsabwehr soll mit Hilfe der Grenzschutzagentur Frontex vor Ort verstärkt werden. Dafür sollen Millionen Gelder dorthin fließen. Im Falle Mauretanien, einer islamischen Republik, in der die Sklaverei noch Realität ist und die Menschen in einem archaischen Kastensystem leben, ist die Erfolgsaussicht höher. Im Senegal, das dem Free Movement Agreement der Westafrikanischen Union (ECOWAS) beigetreten ist, allerdings nicht. So jedenfalls habe ich als Berichterstatterin zu diesem Thema die Gespräche in Dakar und St. Louis verstanden, wo es offene Ablehnung gab. Länder wie Senegal sind seit Jahrhunderten Teil zirkulärer Migration, die zum Selbstverständnis der Menschen gehört. Im dortigen Außenministerium gibt es große Abteilungen, die nichts anderes machen, als den Kontakt zu Senegalesen im Ausland zu halten und wenn nötig, Hilfe leisten. Mal abgesehen davon, dass die jungen afrikanischen Staaten neokoloniale Praktiken wittern, wenn eine EU-Grenzschutzagentur in ihrem Land Immunität genießt und an den Grenzen die Befehlsgewalt erhalten soll, treffen hier zwischen Europa und Afrika Welten aufeinander.

Die progressiven Kräfte in und außerhalb der Parlamente müssen sich trotz ihrer Gegensätze aufeinander besinnen, wenn dem rechtspopulistischen und offen faschistischen Narrativ, das sich durch unser Europa frisst, Einhalt geboten werden soll.

Wie bereits darauf verwiesen, zeigen Kommission und Rat ihr wahres Gesicht beim EU-Asylkompromiss des Rates vom 8. Juni 2023, der auf dem Kommissionsvorschlag von 2020 fußt. Geflüchtete sollen verkürzte Grenzverfahren erhalten, in denen u.a. gecheckt wird, ob sie eine Verbindung zu einem sicheren Drittstaat haben. Das kann das sofortige Aus ihres Asylantrages bedeuten, ohne Prüfung individueller Asylgründe. Inhaftierung soll während der Verfahren sogar für Kinder ab 12 gelten. Selbst wer nicht ins Grenzverfahren kommt, hat keine Garantie auf faire Behandlung, denn es gibt, wie schon erwähnt, keinerlei verbindliche Aufnahmequoten. Ein so genannter «Solidaritätsmechanismus» erlaubt es Mitgliedstaaten, statt Aufnahme Geflüchteter Mittel für Abschiebungen oder Externalisierung zur Verfügung zu stellen. Aber selbst das ist Ländern wie Polen und Ungarn noch zu teuer. Alles wird daraufgesetzt, Geflüchtete möglichst vor den Toren Europas loszuwerden, egal wie. Das geschieht während wir zeitgleich ukrainische Geflüchtete in Würde aufnehmen, 8 Millionen in Europa, wozu auch wir Linken persönlich beitragen. Weshalb aber Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder Eritrea keine Menschenwürde zukommen soll, erschließt sich uns nicht. Das Recht auf Asyl ist längst zum Spielball der Mitgliedstaaten geworden. Dabei geht am wenigsten um Geflüchtete, sehr viel mehr um Law-and-Order-Politik. Geflüchtete dienen weltweit als Prellböcke fehlgeschlagener Politik. Sie sind schuldig, einfach weil es sie gibt.

Was ist die Folge solcher Politik?

Legalisierung und Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen – Kriminalisierung von Migration – Aufgabe völkerrechtlicher Prinzipien wie Seenotrettung – Billigung von Gewalt gegen Migrant*innen. Was wäre eigentlich, wenn alle Mitgliedstaaten wie Litauen die Legalisierung von Pushbacks beschließen würden? Das hieße Militarisierung der EU-Außengrenzen, Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen, Zäune durch die gesamte EU, Pingpong-Spiel mit Migrant*innen, die nirgendwo sicher wären. Ein anderes Europa. 2023 starben im Mittelmeer jeden Tag 10 Menschen, alle 10 Tage gibt es ein Schiffsunglück mit Toten. Bei all dem sieht die Kommission zu, keine Konsequenzen für fehlende Seenotrettung, keine Vertragsverletzungsverfahren. Und die Grenzschutzagentur Frontex ist Beobachterin und Komplizin dieser Ereignisse, ohne einzugreifen und unter Verletzung der sie selbst betreffenden EU-Verordnung. Nichts geschieht.

Ich war im Laufe der Jahre in zig Hotspots dieser Welt. In Jordanien, wo viele syrische Flüchtlinge den Weg durch die Wüste nicht schafften und wenn, dann im Lager von Zataari jeden Tag dafür beteten, dass ihre Angehörigen noch leben. Wir waren im Sudan, wo mit italienischer und deutscher Hilfe Grenzkontrollen gefördert werden, mitten durch die libysche Wüste, in der die Jahreszeiten Migration seit Jahrhunderten bestimmen. Mit EU-Hilfe werden dort normale Wanderwege zerstört und der Korruption Flügel verliehen. Im spanischen Melilla an der marokkanischen Grenze erhielten wir keine Antwort von den Verantwortlichen, wie es zum Tod der 37 Menschen kam, die im Juni 2022 die Grenze nach Melilla passieren wollten. Wir waren in Kroatien und Bosnien, wo Pushbacks täglich stattfinden und kroatische Grenzbeamte Migrant*innen ausrauben, Geld, Kleidung stehlen, junge Mädchen begrapschen, wie im Falle eines iranischen Mädchens. Ich sah die von Hunden zerbissenen Beine von Migranten und afghanische Soldaten, die nicht verstanden, warum ausgerechnet sie, die gegen die Taliban gekämpft haben, nicht nach Europa dürfen. Wir sahen die Wälder in Ostpolen, wo Migrant*innen dehydriert und in der Kälte ums Überleben kämpften, wir waren immer wieder in Italien und Griechenland.

Griechenland ist das Symbol migrationsfeindlicher Politik in Europa. Ich selbst war Augenzeugin von Pushbackversuchen auf Samos und war in den Lagern von Moria und Kara Tepe auf Lesbos, in denen Menschen unter furchtbaren Bedingungen dahinvegetierten. Unerträglich waren die «Besuche» in Polizeistationen, wo Menschen wie Tiere gehalten werden bis sie seelisch zerbrechen. Ich erinnere mich besonders an Frauen, die uns gegenüber in Tränen ausbrachen, weil sie gar nicht wussten, wo sie mit Reden anfangen sollten. Die Höchststrafe für Migrant*innen in Griechenland ist die Anerkennung als Flüchtling, weil man nach ein paar Wochen aus allen sozialen Leistungen herausfällt. Die Straßen von Athen sind voll mit ihnen und Migrant*innen ohne Dokumente. Bei all dem schaut die Kommission tatenlos zu. Europa versagt dort, wo es am nötigsten gebracht wird.

Und doch gibt es immer Hoffnung

Weltweit engagieren sich NGO´s und unendlich viele Aktivist*innen. In manchen Ländern kämpfen sie allein gegen den Trend der rechten Meinungsmacher und sind ohne jede Unterstützung. In den polnischen Wäldern riskieren Ärzte ihre Approbation, wenn sie Hilfe leisten und es gibt Held*innen wie Grupa Granica, die trotz Drohungen ihr Engagement dort nicht aufgeben. Ärzte ohne Grenzen (MSF) sind in allen Brennpunkten und es gibt die Seenotretter*innen, die doch auf hohe See gehen, um Menschen zu retten. Es sind die Fischer, die dem Versinken im Meer nicht zuschauen können, einfache Leute, die Migrant*innen helfen und dafür keinen Cent bekommen. Es gibt sie. Auch in unserem Land finden viele Aktivist*innen keine Ruhe, überall agieren sie, Sea Watch, Mission Lifeline, und es gibt die «Sicheren Häfen» zu denen sich viele Kommunen bereiterklärt haben. Sie sind das Gewissen einer Welt, die Humanität und Solidarität ernst meint. Unsere Aufgabe als Parlamentarier*innen ist es, uns mit ihnen zu verbünden, sie zu verteidigen und niemals aufzuhören, für ein Leben in Menschenwürde zu streiten. Die progressiven Kräfte in und außerhalb der Parlamente müssen sich trotz ihrer Gegensätze aufeinander besinnen, wenn dem rechtspopulistischen und offen faschistischen Narrativ, das sich durch unser Europa frisst, Einhalt geboten werden soll.

Andernfalls kippt die EU. Es geht um alles.