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Die Lage der Westbalkanstaaten im Vorfeld der EU-Parlamentswahlen

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Felix Jaitner,

Olaf Scholz, Ursula von der Leyen und Edi Rama geben eine gemeinsame Pressekonferenz in Berlin.
Olaf Scholz (SPD), Ursula von der Leyen (Präsidentin der Europäischen Kommission) und Edi Rama (Ministerpräsident von Albanien) geben eine gemeinsame Pressekonferenz im Rahmen der Westbalkankonferenz am 03.11.2022 im Bundeskanzleramt in Berlin.
 
 

 

 

Foto: IMAGO / Christian Spicker

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wächst in der EU die Sorge vor einem weitreichenden Einflussverlust auf dem Westbalkan[1] zu Gunsten Russlands und Chinas. Während Russland über das Potenzial verfüge, durch das Schüren ethnischer Spannungen die euro-atlantische Integration der Region zu schwächen, gilt China vor allem als ökonomischer Konkurrent.

Felix Jaitner leitet den Bereich Klima und Umwelt von Austausch e.V., einer Nichtregierungsorganisation in Berlin.

Als direkte Reaktion auf den russischen Angriff beschloss die EU, ihr Truppenkontingent in Bosnien und Herzegowina um 500 Soldaten aufzustocken. Begründet wurde dieser Schritt mit den befürchteten Spannungen im Zuge der Wahlen im Oktober 2022 und der Gefahr einer Destabilisierung des Landes durch Russland. Der russische Botschafter in Sarajevo, Igor Kalabuchow, drohte daraufhin der bosnischen Regierung im Falle eines NATO-Beitritts unverhohlen mit einem ukrainischen Szenario.

Die Ansicht, der Putin-Administration müsse in erster Linie durch militärische Abschreckung begegnet werden, ist mit Hinblick auf die Westbalkanstaaten ein gefährliches Zündeln mit dem Feuer, handelt es sich doch um eine hochgradig instabile Region. Der jugoslawische Zerfallsprozess ging einher mit einer Vielzahl militärischer Konflikte. Die nicht zuletzt durch westliche Interventionen erzwungene Nachkriegsordnung wird durch bedeutende Teile der herrschenden Eliten bis heute immer wieder in Frage gestellt. Krisenverschärfend wirkt seit den 1990er Jahren der ökonomische Niedergang. Infolge der kapitalistischen Transformation wurden die ehemals sozialistischen Staaten zu ökonomischen Peripherien im Weltwirtschaftssystem. Die hauptsächlichen sozioökonomischen Folgen waren eine weitreichende Deindustrialisierung und die Verarmung breiter Schichten.

Zur Wahrung ihres Einflusses in der Region verkündete die EU einen politischen Kurswechsel. Im Dezember vergangenen Jahres erhielt Bosnien und Herzegowina offiziell den Beitrittskandidatenstatus, obwohl das Land bis dahin bei der Umsetzung der EU-Normen und -Gesetze keine nennenswerten Fortschritte erzielt hatte. Wenige Monate zuvor waren bereits Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien eröffnet worden. Damit haben bis auf das Kosovo alle Länder der Region den Status von EU-Beitrittskandidaten – eine Erweiterung der Union ist jedoch auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Die Strategie der EU – Anbindung der Westbalkanstaaten ohne Beitrittsperspektive – ist zum Scheitern verurteilt, denn das Kernproblem, die fehlende politische und ökonomische Entwicklungsperspektive der Region, bleibt ungelöst, zumal ernsthafte diplomatische Anstrengungen zur Lösung der Konflikte ausbleiben.

Die Entwicklungen in Osteuropa und auf dem Balkan waren jahrelang nicht im Fokus der europäischen Linken. Spätestens mit dem EU-Beitritt Kroatiens im Jahr 2013 und der Verleihung des Kandidatenstatus an Bosnien und Herzegowina sowie der sich stetig verschlechternden Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo werden die Entwicklungen in der Region jedoch unmittelbar zu Angelegenheiten der EU. Dies erfordert eine linke Außenpolitik, die an den skizzierten Problemen ansetzt und eine Alternative zu der EU-Strategie und deren potenziellem Eskalationspotenzial bietet.

Sackgasse Westbindung. Die ökonomische Dominanz der EU

Die Westbalkanstaaten weisen klassische Merkmale peripherer kapitalistischer Ökonomien auf: der Verarmung breiter gesellschaftlicher Schichten steht die Herausbildung einer Gruppe staatsnaher Unternehmer gegenüber, die hauptsächlich in den Sektoren Handel, Immobilienwirtschaft und z.T. Tourismus aktiv ist. Die industrielle Wertschöpfung ist gering und wird vom Auslandskapital insbesondere aus der EU dominiert. Im Zeitraum zwischen 2010 und 2019 sind insgesamt 45 Mrd. Euro an ausländischen Direktinvestitionen in die Region geflossen. Unter den zehn größten Investoren sind nur Russland (vierter Platz) und die Türkei (achter Platz) nicht aus der EU.

Die ökonomische Abhängigkeit dieser Staaten von der EU verdeutlicht ein Blick auf den Außenhandel: Im Jahr 2021 entfiel rund 60 Prozent auf die EU, eine Ausnahme bilden lediglich Montenegro und das Kosovo. Aufgrund der Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, die die EU mit allen Staaten der Region geschlossen hat, sind die meisten Waren zollfrei. Der Anteil Russlands (3 Prozent) und Chinas (8 Prozent) am Außenhandel ist deutlich geringer. Auch der der regionale Handel ist schwach. Bei den Exporten ist die Abhängigkeit vom EU-Binnenmarkt sogar noch stärker. Einsamer Spitzenreiter ist Nordmazedonien, wo 77 Prozent der Ausfuhren in die Union gehen. Die Westbalkanstaaten exportieren hauptsächlich landwirtschaftliche Güter und industrielle Vorprodukte und importieren Hochtechnologie – Autos, Maschinen – sowie Konsumgüter. Die einseitige Handelsorientierung auf die EU und die Abhängigkeit vom Technologieimport festigt ihre periphere Position in der internationalen Ökonomie. Das gilt auch im Vergleich zu den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Anders als Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Slowenien sind die Länder des Westbalkan zumeist nicht als Zulieferer westeuropäischer Konzerne in transnationale Produktionsprozesse eingebunden, sondern dienen vor allem als Absatzmarkt für Industriegüter oder Dienstleistungen und als (billiges) Arbeitskräftereservoir.

Neoliberaler Ethnonationalismus als Konfliktreiber

Die einseitige Ausrichtung staatlicher Politik auf ausländische Direktinvestitionen führt zu einem aggressiven regionalen Unterbietungswettbewerb. Unabhängig von ihrer politischen Orientierung setzen alle Regierungen in der Region zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf die Deregulierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik, den Abbau von Arbeiter*innenrechten und eine restriktive Lohnpolitik. Trotzdem können nicht alle Länder gleichermaßen von den Investitionen profitieren. Im Jahr 2021 ging mehr als die Hälfte (23 Mrd. Euro) nach Serbien, es folgen Albanien (9 Mrd. Euro) und Montenegro (4,3 Mrd. Euro). Die Investitionen in Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien und das Kosovo sind deutlich geringer (zwischen 2,7 und 3,5 Mrd. Euro).

In wirtschaftlicher Hinsicht deutet sich eine Veränderung der Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkanstaaten an.

Infolge dieser neoliberalen Politik haben die technologischen, sozialen und ökonomischen Unterschiede sowohl innerhalb der Region als auch im Vergleich zu den Staaten der EU weiter zugenommen. Dies ist ein wichtiger Grund für die hohe Abwanderung aus den Westbalkanstaaten. Besonders dramatisch war der Rückgang in Bosnien und Herzegowina. 1990 betrug die Einwohnerzahl 4,4 Millionen, 2021 nur noch 3,3 Millionen. In Albanien ging die Bevölkerung im selben Zeitraum von 3,3 Millionen auf 2,8 Millionen Menschen zurück.

Dennoch setzen die regionalen Eliten die neoliberale Politik durch die Übernahme des EU-Regelwerks unverdrossen fort. Das in eine unbestimmte Zukunft verschobene Heilsversprechen des EU-Beitritts wird kombiniert mit einer aggressiven nationalistischen Politik, die seit den frühen 1990er Jahren in den meisten Ländern des Westbalkans dominiert. Anstelle des multiethnischen Jugoslawiens traten nach dessen gewaltsamen Zerfall ethnisch definierte Nationalstaaten. Diese sind jedoch aufgrund des anhaltenden ökonomischen Niedergangs, der sozialen Ungleichheit und der vielfältigen ethnischen Konflikte tief gespalten. Die ethnonationalistische Mobilisierung erweist sich vor diesem Hintergrund als wirkungsvolles Mittel, die innergesellschaftlichen Spannungen zu konservieren. Die NATO und die EU fungieren als Schutzmächte des Status Quo. Durch ihre Militärpräsenz verhindern sie zwar eine weitere Eskalation der eingefrorenen Konflikte, blockieren aber eine eigenständige Entwicklung der Region, was im Folgenden an den Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo illustriert wird.

Bosnien und Herzegowina: Die EU ist Teil des Problems

Das Abkommen von Dayton aus dem Jahr 1995 beendete zwar den Krieg in Bosnien und Herzegowina (1991-1995), schuf jedoch einen fragilen föderalistischen Staat bestehend aus zwei Teilrepubliken: einem bosnisch-kroatischen Teil (Föderation Bosnien und Herzegowina) und der serbischen Republika Srpska. Die Institutionalisierung des ethnischen Prinzips führt immer wieder zu innenpolitischen Blockaden und erschwert die demokratische Konsolidierung. Die politische Elite des serbischen Teils nutzt die fragile Lage des Staates aus, um die eigene Position durch eine mögliche Abspaltung vom Gesamtstaat zu stärken. Analog pocht die kroatische Seite immer wieder auf die Bildung einer eigenen Teilrepublik.

Das Daytoner-Abkommen verhindert nicht nur einen eigenständigen bosnisch-herzegowinischen Weg zu einer stabilen Nachkriegsordnung, sondern etablierte auch eine Form neokolonialer Fremdherrschaft. Der von den Garantiemächten USA, Deutschland, Frankreich und Russland ernannte «Hohe Repräsentant» besitzt weitreichende Vollmachten, darunter Gesetze zu erlassen bzw. zu annullieren sowie gewählte Amtsträger*innen abzusetzen. Die Notwendigkeit des Hohen Repräsentanten begründen die Garantiemächte mit den Spannungen unter den Volksgruppen und der daraus resultierenden Blockadehaltung. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass die durch das Dayton-Abkommen oktroyierte Verfassung ein wesentlicher Faktor für die anhaltenden Spannungen ist, indem sie das ethnische Prinzip institutionalisierte. Die Aufgabe des Hohen Repräsentanten besteht laut dem aktuellen Amtsinhaber Christian Schmidt, CSU-Politiker und ehemaliger Minister unter Angela Merkel, darin, die Umsetzung des Daytoner-Abkommens zu überwachen. Das Ziel sei die «euroatlantische Integration Bosnien und Herzegowinas».

Die in Bosnien und Herzegowina etablierte Nachkriegsordnung definiert die künftige Entwicklung des Landes (Beitritt zu EU und NATO), ohne dass dem eine innergesellschaftliche Debatte vorausgegangen wäre. Gemeinsam mit den ethnonationalen Eliten garantiert der Hohe Repräsentant diesen Status Quo. Als im Jahr 2014 eine landesweite Protestwelle des Land erfasste, die sich bewusst von den ethnischen Prinzipien distanzierte und stattdessen basisdemokratische Organisation und soziale Forderungen in den Mittelpunkt stellte, drohte Schmidts langjähriger Vorgänger, der Österreicher Valentin Inzko: «Wenn die Lage eskaliert, werden wir eventuell an EU-Truppen denken müssen».

Kosovo – ein eingefrorener Konflikt

Abgesehen von der innenpolitischen Lage in Bosnien und Herzegowina destabilisiert auch der ungelöste Konflikt zwischen Serbien und Kosovo die Region. Die vormals zu Serbien gehörende Provinz erklärte sich infolge des Angriffs auf Jugoslawien 1999 im Jahr 2008 für unabhängig. Zwar gilt der Konflikt – nicht zuletzt aufgrund der militärischen Präsenz der NATO – als eingefroren. Eine Friedenslösung ist jedoch nicht in Sicht, denn die serbische Regierung erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo bis heute nicht an. Wie schnell der Konflikt wieder aufflammen könnte, verdeutlichen die Ereignisse vom Mai und Juni 2023. Als die Ernennung albanischer Bürgermeister im mehrheitlich von Serb*innen bewohnten Nordkosovo schwere Unruhen auslöste, ließ der serbische Präsident Aleksandar Vučić die Armee seines Landes in Bereitschaft versetzen.

Genau wie in Bosnien und Herzegowina stärkt dieser ungelöste Konflikt nicht nur revanchistische Kräfte auf diesen beiden Seiten. Die jugoslawischen Zerfallskriege und die Entstehung ethnischer Nationalstaaten haben auf dem Balkan eine Sezessionsdynamik ausgelöst, die die bestehenden staatlichen Grenzen immer wieder in Frage stellen. Die gewaltsame und z.T. durch westliche Interventionen forcierte Neuaufteilung des Balkans entlang ethnischer Grenzen wirft die Frage auf, welche Sezessionsforderungen legitim sind oder wo es die staatliche Souveränität und territoriale Integrität zu wahren gilt. Als destabilisierend wird in erster Linie der serbische Nationalismus ausgemacht. Doch auch die kroatischen, bosniakischen und albanischen und nordmazedonischen Eliten verfolgen in ihrer großen Mehrheit und jenseits parteipolitischer Couleur eine nationalistische Politik und tragen damit aktiv zur Destabilisierung der Region bei. In Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo spitzen sich diese Konflikte besonders zu, da aus eigener ethnonationalistischer Sicht bzw. auf der Basis der jeweiligen Partikularinteressen diese Widersprüche beliebig interpretierbar und somit instrumentalisiert werden können.

Joker EU-Beitritt: Ein Mittel der Einflussnahme

Die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung verfolgten bislang die Strategie, die Westbalkanstaaten politisch und ökonomisch eng anzubinden, ohne eine konkrete Beitrittsperspektive zu bieten. Davon zeugen die weitgehende Handelsliberalisierung im Rahmen der Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen sowie ein Bekenntnis zur EU-Perspektive.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wächst in der EU die Sorge vor einem weitreichenden Einflussverlust in der Region zu Gunsten Russlands und Chinas. Insbesondere China weitet im Rahmen der Initiative neue Seidenstraße seine Investitionen aus. Ein Schwerpunkt der chinesischen Wirtschaftstätigkeit ist Serbien, eine Entwicklung, die in der EU äußerst kritisch gesehen wird. So warnte etwa der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, Manfred Weber: «China kauft sich in Serbien ein, auch mit der Perspektive, dass zukünftig eventuell Serbien ein Mitgliedsland der EU ist und damit Blockademöglichkeit bei der Außenpolitik hat, bei der Chinapolitik ganz Europas haben wird. Und das darf nicht passieren». Vor diesem Hintergrund unternimmt die EU verstärkte Schritte, ihren Einfluss in der Region zu sichern. Dies äußert sich in der Vergabe des Beitrittskandidatenstatus an Bosnien und Herzegowina sowie der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien.

Die Linke könnte durch Kooperationen mit den existierenden und an politischer Sichtbarkeit gewinnenden, anti-nationalistischen Kräften einen wichtigen Beitrag zu einem zukünftigen Friedensdialog leisten.

Die forcierte Anbindung der Westbalkanstaaten an die EU bedeutet jedoch keinen strategischen Kurswechsel, denn die fehlende Beitrittsperspektive der Länder bleibt unverändert. Die Bewertung der bosnischen Regierung durch die EU-Kommission bei der Umsetzung zentraler Gesetze in den Bereichen Korruption, organisierte Kriminalität und Justiz sei teilweise «verheerend» ausgefallen, schrieb die FAZ im Zuge der Entscheidung über die Vergabe des Beitrittskandidatenstatus. Auf dem EU-Westbalkan-Gipfel im Dezember 2022 in Tirana bekräftigten Vertreter*innen der EU, dass kein Land die Kopenhagener Kriterien auf absehbare Zeit erfüllen werde. Darüber hinaus ist der Staatenbund selber solange nicht aufnahmewillig, bis substanzielle Reformen im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik umgesetzt werden. Die Anbindung der Westbalkanstaaten erfolgt vor allem aus geopolitischen Interessen. Mit der russischen Invasion in die Ukraine, so der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, Josep Borrell, habe die EU-Erweiterung «eine neue geopolitische Bedeutung erlangt». Die Beitrittsperspektive ist dabei eines der wichtigsten und machtvollsten Mittel der EU-Außenpolitik. Mit der ebenfalls nach Kriegsbeginn erfolgten Vergabe des Kandidatenstatus an die Ukraine und Moldawien verfolgt die EU eine vergleichbare Strategie im postsowjetischen Raum.

In wirtschaftlicher Hinsicht deutet sich jedoch eine Veränderung der Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkanstaaten an. Die Störung der globalen Lieferketten seit der Corona-Pandemie hat in der EU eine Debatte um die Rückverlagerung von Produktionsstandorten aus Asien (insbesondere aus China) in Gang gesetzt. Die Westbalkanstaaten könnten aufgrund ihrer geographischen Nähe, dem geringen Lohnniveau und Reservoir an gut ausgebildeten Arbeitskräften dabei eine wichtige Rolle spielen. Laut Patrick Martens, Geschäftsführer der deutschen Auslandshandelskammer in Skopje, kommt der Region sogar eine Schlüsselrolle zu: «Der Westbalkan könnte für die Europäische Union das werden, was Mittelamerika für die Vereinigten Staaten ist: ein Investitions- und Zulieferstandort mit großer geo- und wirtschaftspolitischer Bedeutung. Und das direkt vor der Haustür».

Politischer Stillstand vorprogrammiert

Wie in der Vergangenheit auch lässt die EU-Strategie zentrale gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte zwischen den Ländern außer Acht. Die Ursachen für die innenpolitische Blockade und die vielfältigen Krisen werden ausschließlich bei den jeweiligen nationalen Akteuren gesucht. Ein Anfang 2023 veröffentlichtes Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion schlägt genau in diese Kerbe. Demnach sei durch die Beitrittsblockade ein Vakuum entstanden, das nationalistische Akteure innerhalb und außerhalb der Region für «Destabilisierung und Desinformation durch wirtschaftliche, ideologische und militärische Einflussnahme» nutzen würden. Als Hauptschuldigen macht das Positionspapier Russland aus, das die Region nicht nur destabilisiere, sondern absichtlich ethnisch-nationalistische Spannungen provoziere, «um demokratische Kräfte, die eine euro-atlantische Integration anstreben, nachhaltig zu schwächen».

Diese Perspektive klammert den eigenen Anteil an dem Erstarken nationalistischer Kräfte durch die Unterstützung ethnonationaler sezessionistischer Bewegungen bis hin zu militärischer Einflussnahme konsequent aus. Die Institutionalisierung der ethnonationalen Verfassung und des Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina behindern sogar eine demokratische Konsolidierung, ganz zu schweigen von der ökonomischen Abhängigkeit der Region von der EU.

Der potentielle EU-Beitritt der Westbalkanstaaten ist jedoch nicht nur ein Signal nach außen, sondern auch nach Innen. Versuche, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik zu Gunsten von Mehrheitsentscheidungen abzuschaffen, gibt es schon seit geraumer Zeit. Dies betonte auch Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede an der Prager Karlsuniversität am 29. August 2022, als er dafür warb, die EU müsse für Erweiterungsrunden fit gemacht werden. Vor Erweiterungsrunden, so Scholz, hätte es immer auch politische Reformen gegeben. Die potenzielle Erweiterung der EU soll damit auch den Druck für institutionelle Reformen im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik erhöhen und die Handlungsfähigkeit des Staatenbundes auf internationalem Terrain stärken.

Vorschläge für eine linke Außenpolitik auf dem Westbalkan

Die Entwicklungen in Osteuropa und auf dem Balkan waren jahrelang nicht im Fokus der europäischen Linken. Spätestens mit dem EU-Beitritt Kroatiens, der Verleihung des Kandidatenstatus an Bosnien und Herzegowina und dem ungelösten Konflikt zwischen Serbien und Kosovo werden die Entwicklungen in der Region unmittelbar zu Angelegenheiten der EU. Darüber hinaus wird der Balkan neben dem postsowjetischen Raum zunehmend zum Schauplatz verschärfter imperialer Staatenkonkurrenz, auf dem sich die EU sowie Russland und China gegenüberstehen. Die Militarisierung der Region beschleunigt die Blockbildung und verleiht lokalen Konflikten wie im Kosovo oder Bosnien und Herzegowina eine neue Dynamik.

Dies erfordert eine linke Außenpolitik, die sich vom imperialen Gebaren von EU, USA und Russland abgrenzt und stattdessen an den Krisen- und Konfliktursachen in der Region ansetzt. Eine linke Außenpolitik muss sowohl Antworten auf konkrete politische Richtungsentscheidungen (z.B. EU-Beitritt) geben, als auch eine langfristige sozial-ökologische Entwicklungsperspektive für die Westbalkanstaaten entwickeln, die konkrete Alternativen zu Nationalismus, Militarismus und peripherer ökonomischer Entwicklung aufzeigt.

Ein EU-Beitritt würde es den Westbalkanstaaten ermöglichen, künftig an politischen und ökonomischen Entscheidungen unmittelbar teilzunehmen und auf sie einzuwirken.

Die europäische Linke sollte jeglicher Form des Ethnonationalismus scharf entgegentreten und dessen Bedeutung für die vielfältigen Konflikte in der Region betonen. Dazu gehört auch eine Kritik an der Kooperation der EU mit nationalistischen Regierungen in der Region, die sich als Bremsklotz für die demokratische Entwicklung ihrer Länder erweisen. Auch ein Teil der europäischen (und deutschen) Linken hegt nach wie vor Sympathie für regierungsnahe Kreise um den serbischen Präsidenten Vučić, da diese eine vermeintlich klare Position gegen die Hegemonialansprüche der USA und der EU in der Region beziehen würden. Dabei blenden sie aus, dass diese Kräfte eine revisionistische Politik vertreten, die das jugoslawische Erbe bewusst für nationalistische und großserbische Positionen instrumentalisiert.

Eine Abgrenzung von ethnonationalistischen Positionen ist jedoch eine Voraussetzung für vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den einzelnen Staaten, die dazu beitragen können, die Konflikte zu entschärfen und die Region langfristig zu stabilisieren. Die Linke könnte durch Kooperationen mit den existierenden und an politischer Sichtbarkeit gewinnenden, anti-nationalistischen Kräften einen wichtigen Beitrag zu einem zukünftigen Friedensdialog leisten.

Die Entschärfung der regionalen Konflikte erfordert darüber hinaus die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems für den Balkan, das einen konkreten Abzugsplan der ausländischen Soldaten beinhaltet und neben den USA und der EU von weiteren regionalen Akteuren wie der Türkei und Russland unterstützt wird. Vor dem Hintergrund der wachsenden geopolitischen Spannungen im Zuge des Ukraine-Krieges ist dieser Schritt umso bedeutsamer. Ein kollektives Sicherheitssystem kann nicht nur dazu beitragen, die Eskalation eingefrorener Konflikte zu verhindern, sondern auch verlorenes Vertrauen zwischen den Konfliktparteien und den Großmächten wiederherzustellen.

Gibt es eine Alternative zum EU-Beitritt?

Die entscheidende politische Auseinandersetzung in den Westbalkanstaaten verläuft entlang der Frage des EU-Beitritts. Die Linke muss dazu konkrete Antworten haben, wenn sie in der öffentlichen Debatte eine eigenständige und hörbare Rolle spielen möchte. Die Entscheidung über den möglichen EU-Beitritt eines Landes erfolgt auf Grundlage der Kopenhagener Kriterien. Da bisher keines der Westbalkanstaaten diese erfüllt, steht ein Beitritt nicht unmittelbar zur Debatte. Es wäre daher wichtig, die geopolitischen Motive hinter der EU-Strategie – Anbindung der Westbalkanstaaten ohne Beitrittsperspektive – klar zu benennen und deren destabilisierende Folgen aufzuzeigen.

Davon unberührt bleibt die Frage, ob ein EU-Beitritt generell zu befürworten wäre oder nicht. Die einzelnen Westbalkanstaaten verfügen aufgrund ihrer geographischen Lage sowie der extremen ökonomischen und politischen Abhängigkeit vom Staatenbund über einen sehr geringen Spielraum für eine alternative Politik.

Ein EU-Beitritt würde es den Westbalkanstaaten ermöglichen, künftig an politischen und ökonomischen Entscheidungen unmittelbar teilzunehmen und auf sie einzuwirken. Damit würden sie ihre Verhandlungsposition stärken, denn bisher sind sie von wirtschaftspolitischen Entscheidungen betroffen, ohne diese beeinflussen zu können. Davon abgesehen eröffnet eine EU-Mitgliedschaft Zugriff zu EU-Subventionen und Fördergeldern, die den Spielraum für wirtschaftspolitische Maßnahmen erweitern.  

Die gegenwärtige Struktur der EU lässt darüber hinaus jedoch nur wenig Spielraum für alternative Wirtschaftspolitik. Gerade kleinere Mitgliedstaaten stehen unter hohem Druck, austeritätspolitische Vorgaben der EU-Kommission umzusetzen. Dies erfordert ein politisches Programm, dass sozial-ökologische Zukunftsperspektiven für die Region und die EU entwickelt und eine Alternative zu den gegenwärtigen Bestrebungen bietet, die Westbalkanstaaten als verlängerte Billiglohn-Werkbank in die internationalen Lieferketten zu integrieren.

Eine linke Außenpolitik mit Blick auf die Westbalkanstaaten sollte sich deshalb dafür einsetzen, eine selbstbestimmte Entwicklung dieser Länder als reale politische Option wieder zu ermöglichen. Dies erfordert in einem ersten Schritt ein Ende der neokolonialen Fremdherrschaft in Bosnien und Herzegowina. Die europäische Linke muss klar darauf hinweisen, dass die EU wesentlich dazu beiträgt, bestehende Konflikte zu konservieren und einen dringend notwendigen Aussöhnungsprozess auf diese Weise behindert. Sei es in der Form des Hohen Repräsentanten, durch ihre Truppenpräsenz oder der Kooperation mit nationalistischen Eliten.

Eine wichtige Voraussetzung, um die Entwicklungsmöglichkeiten der Westbalkanstaaten zu stärken, liegt in der Neugestaltung der Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik zwischen der EU und den Ländern der Region entlang nachhaltiger und sozialer Kriterien. Dazu sollten regionale Integrationsprozesse gestärkt werden, die eine zwischenstaatliche und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit der Region fördern und die politische und ökonomische Abhängigkeit von den großen EU-Mitgliedsstaaten reduzieren. 

Eine Folge des geringen politischen Interesses der europäischen Linke an den Entwicklungen in Osteuropa und dem Balkan sind fehlende Kontakte und Kooperationspartner vor Ort. Eine Änderung des bisherigen EU-Kurses sowohl im Innern als auch im Hinblick auf die Westbalkan-Länder kann jedoch nur gemeinsam erreicht werden. Eine enge Zusammenarbeit würde allgemein dazu beitragen, anti-nationalistische und sozial-ökologische Positionen in der EU zu stärken, die im Zuge des allgemeinen Rechtsrucks im Staatenbund zunehmend unter Druck geraten.


[1] Die Westbalkanstaaten umfassen die jugoslawischen Nachfolgestaaten Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nord Mazedonien und Kosovo sowie Albanien.