Nachricht | Siegfried: Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu 1965-1985, Göttingen 2023

Dänemark als Sehnsuchtsort der westdeutschen Alternativbewegung?

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Denkt man derzeit als linker Mensch an Dänemark, fallen einem vor allem die repressive Politik gegenüber nicht-dänischen Bürger*innen ein. Diese wurde von der dänischen Sozialdemokratie, die den Blick auf den Erhalt politischer Macht gerichtet hat und sich immer weiter nach rechts orientiert, vorangetrieben und umgesetzt. Angetrieben wurde sie dabei vom Aufstieg rechter Parteien. In politisch-gesellschaftlicher Hinsicht ist das Land kein Vorbild mehr für Linke, wenngleich es als Ort der Erholung noch immer taugt. Die ersehnte Entschleunigung beginnt in der Tat direkt mit dem Grenzübertritt und zeigt sich schon beim Autofahren. Der historische Blick macht deutlich, dass dies vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders war.

Der in Kopenhagen lehrende Historiker Detlef Siegfriedzeichnet für die Jahre 1965 bis 1985 die Alternative Dänemark als Beispiel des damaligen Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu nach. Nach einer Einleitung folgt zunächst eine rund vierzigseitige Skizze des Verhältnisses von Deutschen und Dän*innen nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier schon werden die dänischen Eigenarten des Nationalismus herausgearbeitet. Es schließen sich neun umfassende Kapital an, die ganz verschiedene, aber von Siegfried in ihrer Zusammengehörigkeit ganz hervorragend verknüpfte Themengebiete abdecken. Abschließend ein Fazit, sowie ein großes Quellen- und Literaturverzeichnis, ferner sehr hilfreiche Personen-, Orts- und Sachregister.

Das ganze Buch ist gut lesbar und anschaulich formuliert, und enthält jede Menge Informationen, die längst nicht jedem und jeder präsent sein dürften und die viel zur Geschichte der Linken beitragen. Siegfried greift auch auf umfangreiche, eigene Recherchen in zeitgenössischen Quellen zurück, Zeitzeugenspräche kommen hinzu.

Die ersten beiden Kapitel drehen sich um das Verhältnis von SDS und der neuen dänischen Linken und inwiefern deutsche Linke, allen voran Rudi Dutschke, ins dänische Exil gehen konnten. Es folgen die Darstellungen zur liberalen Pornografie-Politik Dänemarks und deren Anziehungskraft, die Geschichte des Roskilde-Festivals, die Entwicklung des Konzeptes des Abenteuerspielplatzes für Kinder, die in Dänemark begann. Es folgt ein Portrait der 1971 gegründeten «Freistadt» Christianiain Kopenhagen als Ziel des Alternativtourismus und schließlich zwei Kapitel zu den alternativem Schulen Tvindund den sogenannten Reisenden Hochschulen. Es sind vor allem Reisen und Konsum (gegen den Mainstream), etwa von Musik, über die ein Internationalismus hergestellt wird, wobei Anspruch und Wirklichkeit in einem permanenten Spannungsverhältnis stehen, das von so einigen Aktivistinnen auch reflektiert wird. Vor allem Fragen von Heimat und der Bedeutung von Region, Nation, Europa und der Welt wurden hier verhandelt.

Besonders spannend ist es zu beobachten, dass die auch derzeit (mal) wieder hochaktuellen Themen von freier Selbstentfaltung, der Bedeutung von Arbeit und Bildung für das eigene und kollektive Leben bereits damals zentrale Achsen der Erwartungen und Aktivitäten und damit verbundener Konflikte waren. Besonders stark vor Augen geführt wird dies durch Siegfrieds Vergleich von Christiania und Tvind. Erstere war stark individualistisch, freiheitlich im Sinne der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten und dem Nachgehen hedonistischer Neigungen, geprägt, letztere speiste sich aus maoistischen Vorstellungen und es stand die disziplinierte Arbeit für die Gemeinschaft im Fokus, die eigene Freiheit, das eigene Vergnügen, wurden in Christiania an den Rand gedrängt. Ebenso aufschlussreich die damaligen Debatten und Umsetzungsversuche zur Frage, was denn nun eine gute Kindheit und angemessene Spielumgebungen für Kinder sind bzw. sein könnten und sollten.

Dänemark erweist sich in der historischen Rückschau als linke Projektion und als imaginierter Gegenentwurf zur BRD. Das Land wurde als Experimentierfeld verstanden, die dazu nötige politisch-gesellschaftliche Toleranz beinahe schon maßlos übertrieben, denn ganz so konfliktfrei ging es dann doch nicht vonstatten. Der dänische Linksnationalismus wurde nur von wenigen kritisch gesehen, der Wohlfahrtstaat in seinen repressiven Dimensionen vielfach verkannt. Die Anzeichen dafür, dass die rechte Wende von 2001 dann nicht aus dem Nichts kommen sollte, wurden kaum oder meistens nicht wahrgenommen.

Alles in allem eine Leseempfehlung für ein Buch, dass tiefe Einrichten in die linke Geschichte des 20. Jahrhunderts im deutsch-dänischen Vergleich liefert und dabei Politik, Gesellschaft und Gemeinschaft sowie Kultur umfassend und eng miteinander verknüpft erforscht.

Detlef Siegfried: Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu 1965-1985, Wallstein-Verlag, Göttingen 2023, 640 Seiten, 48 Euro