Nachricht | Westeuropa - Sozialökologischer Umbau - COP28 Norwegen, ein «grüner» Petrostaat?

Norwegen präsentiert sich der Welt und der eigenen Bevölkerung als «grüne» Nation. Doch das ist ein Mythos

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Autorin

Tomine Sandal,

Norwegischen Erdölmuseum in Stavanger, Norwegen
Das Ölzeitalter geht zu Ende? Nicht in Norwegen: Bevor sich die Regierung 2023 in die Sommerpause verabschiedete, wurden 19 neue Öl- und Gasprojekte genehmigt. Norwegischen Erdölmuseum in Stavanger, Norwegen, Foto: IMAGO / imagebroker

Am Vorweihnachtstag 1969 wurde der Öffentlichkeit bekannt gemacht, dass im Ekofiskfeld, rund 280 Kilometer westlich der norwegischen Küste, beträchtliche Mengen Erdöl entdeckt worden waren. Damit begann, was landläufig als «norwegisches Öl-Abenteuer» bezeichnet wird. Die Ölfunde im norwegischen Teil der Nordsee galten lange als eine Art Sterntalergeschichte, in der das Öl als ein Geschenk des Himmels Norwegen Reichtum und Wohlfahrt beschert. Im Lichte der Klimakrise stehen die Chancen, dass das fossile Brennstoffmärchen einen glücklichen Ausgang nimmt, zunehmend schlecht. Dennoch scheint die Tatsache, dass das Ölzeitalter zu Ende geht, noch nicht wirklich im öffentlichen Diskurs Norwegens angekommen zu sein. Politiker*innen und Vertreter*innen der Ölindustrie verbreiten immer noch die Idee, Norwegen könne und solle erst als letzte Nation die Ölhähne zudrehen. Doch wie sind wir überhaupt an diesen Punkt gekommen? Der folgende Text ist ein Versuch, Antworten auf diese Frage zu finden.

Die Mythen der «grünen» Ölnation

Die staatliche norwegische Ölgesellschaft, Statoil (wörtlich «Staatsöl») wurde 1972 unter einer Regierung der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet gegründet. Als die Öl- und Gasreserven in der Nordsee entdeckt wurden, reagierte die norwegische Politik zunächst ziemlich vorsichtig. Im Gründungsjahr von Statoil erließ das norwegische Parlament die «zehn Ölgebote», die zur Grundlage der norwegischen Ölpolitik wurden. Ein Grundpfeiler dieses Texts war die zentrale Rolle des Staates. Das bedeutete unter anderem, die «nationale Verwaltung und Kontrolle» aller Aktivitäten auf dem norwegischen Kontinentalsockel, maximale Unabhängigkeit und Beteiligung des Staats «auf allen dafür angemessenen Ebenen». Eines der Gebote lautete sogar: «Grundlegend für die Entwicklung einer Ölindustrie ist die Rücksichtnahme auf bestehende Wirtschaftsaktivitäten sowie die Erfordernisse des Natur- und Umweltschutzes». Die anfänglich geltenden staatlichen Beschränkungen der Förderrate wurden rasch zurückgenommen, und seither kommt die Regierung in der Regel den Forderungen der Ölindustrie in Form staatlicher Lizenzvergabe nach.

Tomine Sandal ist Doktorandin an der Universität Oslo. Sie forscht im Rahmen der Forschungsgruppe Translatability of Oil (TOIL) über norwegische Petrofiktionen des 21. Jahrhunderts.

Obwohl Statoil 2001 teilprivatisiert und an der Börse gelistet wurde, hält der norwegische Staat weiterhin 67 Prozent der Unternehmensanteile. 2018 wurde Statoil in Equinor umbenannt, was weniger nach Staat und Öl klingt, aber durch das Suffix «nor» weiterhin den Bezug zu Norwegen anzeigt. Mit dem Rebranding sollte signalisiert werden, dass Equinor als Energieunternehmen breiter aufgestellt ist als nur im Ölsektor. Laut Greenpeace stammten 2022 aber nur 0,13 Prozent der von Equinor produzierten Energie aus erneuerbaren Ressourcen. Darüber hinaus verweist die Umweltorganisation auf beträchtliche Diskrepanzen zwischen der Marketingstrategie, die Equinor als um erneuerbare Energien bemühtes Unternehmen darstellt, und der Tatsache, dass Equinor sein Geld in Wirklichkeit fast ausschließlich mit fossilen Brennstoffen verdient.

Die enorme Bedeutung der Öleinnahmen für die norwegische Volkswirtschaft dürften der wirkliche Grund dafür sein, dass das Land seinen Öl- und Gassektor weiter ausbaut – trotz des Wissens um die desaströsen Folgen, die das für das Klima hat. Die Ölwirtschaft ist der größte Industriezweig des Landes. Offiziellen norwegischen Statistiken zufolge kamen Öl und Gas 2022 für fast drei Viertel der nationalen Gesamtexporte auf, und die staatlichen Einkünfte aus dem Erdölhandel beliefen sich in diesem Jahr auf beinahe 1300 Milliarden NOK (111 Milliarden Euro). Das entspricht 42 Prozent der gesamten Staatseinnahmen und 26 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Geld ist offenbar wichtiger als die Umwelt, auch wenn dies im öffentlichen Diskurs natürlich selten zugegeben wird. Stattdessen gibt die Öl- und Gasindustrie – mit Equinor an der Spitze – riesige Summen für Lobbyismus und Werbekampagnen aus, um bequeme Mythen über die norwegische Ölindustrie fortzuschreiben. Diese Mythen untersucht und widerlegt Anne Karin Sæther in ihrem gut recherchierten und aufschlussreichen Buch De beste intensjoner (Die besten Absichten) über Öl und den Klimadiskurs in Norwegen. Sæther beschreibt die Bemühungen Norwegens, sich gleichzeitig als Ölstaat und klimabewusste Nation zu präsentieren, und argumentiert, dass die «Ölleute» – das heißt Branchenangehörige sowie ölbesessene Politiker*innen – im Land «beträchtliche Macht über die Realitätswahrnehmung» ausüben (Anne Karin Sæther, De beste intensjoner: Oljelandet i klimakampen, Oslo: Cappelen Damm, 2019 [2017], S. 388.).

Viel Geld fließt in die Herstellung und Aufrechterhaltung des Bildes, norwegisches Öl und Gas seien «grün» und «klimafreundlich» oder zumindest nicht ganz so schlimm wie die Ölindustrien anderer Nationen. Einer der hartnäckigsten Mythen über norwegisches Öl besagt, dass es sich um das «sauberste» der Welt handeln würde. Im Rahmen einer Vergleichsstudie der Universität Stanford 2018 über erdölproduzierende Länder landete Norwegen im Ranking jedoch nur auf dem sechsten Platz. Auf dem Papier sind einige andere Länder für eine deutlich größere Umweltverschmutzung verantwortlich, doch Norwegen hat in vielen von ihnen stark investiert, sei es über Equinor oder den Staatlichen Pensionsfonds (landläufig als Norwegischer Ölfonds bekannt). Der Fonds speist sich aus Erträgen der Öl- und Gasindustrie, sein Vermögen wird aktuell auf 15000 Milliarden NOK (circa 1200 Milliarden Euro) geschätzt. Norwegens Beteiligungen an umweltschädlichen Ölprojekten jenseits des norwegischen Kontinentalsockels beschränken sich also nicht auf Equinors Geschäftstätigkeit. Beispielsweise investiert der Norwegische Ölfonds über seine Aktienanteile am französischen Ölkonzern TotalEnergies in die kontroverse Ostafrikanische Rohöl-Pipeline von Uganda nach Tansania. Während des Afrikanischen Klimagipfels 2023 in Nairobi haben afrikanische Klimaaktivist*innen die norwegischen Investitionen in afrikanische Ölprojekte als «neokolonial» gebrandmarkt.

Norwegens Sonderstellung und sein öffentliches Image

Die Vorstellung, norwegisches Öl wäre grüner als andere Arten von Öl, nährt die Idee, Norwegen genieße eine Sonderstellung. Obwohl die Weltgemeinschaft unmittelbar Maßnahmen ergreifen muss, um überhaupt noch eine Chance zu haben, die globale Klimaerwärmung unter der Schwelle von 1,5 Grad Celsius zu halten, sollte es Norwegen offenbar freistehen, sein Ölgeschäft wie gehabt weiterzubetreiben. Zur Untermauerung dieser Ansicht wird behauptet, norwegisches Gas sei nötig, um Europa beim Kohleausstieg zu unterstützen, ganz besonders in der gegenwärtigen geopolitischen Situation, in der Russland – einer der größten Erdgasexporteure – Krieg in der Ukraine führt. Wer erscheint dem europäischen Energiemarkt wohl vertrauenswürdiger: der Nahe Osten und Russland oder das friedliche Norwegen mit seinen blauen Fjorden und hohen Bergen?

Es stimmt, dass bei der Verbrennung von Kohle verhältnismäßig mehr Emissionen anfallen, als bei Gas, doch das heißt nicht, dass die Ersetzung von Kohle durch Gas «gut» für die Umwelt wäre – es ist nur nicht im selben Maße schlimm. Anne Karin Sæther hat schon darauf hingewiesen, dass Öl oft aus dem Fokus gerät, wenn sich die Diskussion auf die Alternative Kohle versus Gas konzentriert. Equinor profitiert davon, dass sich die Aufmerksamkeit von Öl auf Gas verschiebt, da das Unternehmen dann «grüner» erscheinen kann, als es in Wirklichkeit ist. Außerdem sollte norwegisches Gas nicht nur mit Kohle, sondern auch mit erneuerbaren Energien verglichen werden. Ein weiterer gängiger Mythos im norwegischen Öldiskurs besagt, alle Menschen, insbesondere die Bewohner*innen ärmerer Weltgegenden, benötigten mehr Energie. Dabei wird fast das gesamte norwegische Öl und Gas auf den europäischen Markt exportiert. Equinor fördert fossile Brennstoffe nicht aus Gutherzigkeit.

Die Vereinten Nationen veröffentlichten 1987 den Bericht Unsere gemeinsame Zukunft – nach der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland auch Brundtland-Bericht genannt –, der den Begriff nachhaltige Entwicklung geprägt hat. Nach Definition des Berichts handelt es sich dabei um eine «Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können». Norwegen konnte sein Image als umweltfreundliche Nation durch Brundtlands Beteiligung an dem Bericht stärken, aber auch dadurch, dass es sich 1989 als eines der ersten Länder Klimaziele setzte. Doch auch über 30 Jahre später steht deren Erfüllung noch aus.

Welche Strategie verfolgt Norwegen hinsichtlich des Klimawandels? Anne Karin Sæther drückt es so aus: «Wir haben uns für die Klimapolitik entschieden, die unserer Ölindustrie am besten entgegenkommt». Norwegen hat es geschafft, die Emissionen auf nationaler Ebene geringfügig zu senken, doch im Kern besteht die norwegische Klimapolitik darin, für Emissionssenkungen im Ausland zu zahlen. Das Land hat sich also dazu entschieden, sich das Problem des Klimawandels einfach mit dem Kauf von Emissionsrechten vom Hals zu halten. Doch selbst, wenn es die Emissionen zu Hause erfolgreich senken kann, ändert das nichts daran, dass die meisten Emissionen von Öl und Gas eben nicht bei der Extraktion oder Aufbereitung entstehen, sondern bei ihrer Verbrennung. Laut Greenpeace werden infolge norwegischer Öl- und Gasexporte jährlich über 500 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre entlassen. Dieser gewaltigen Verantwortung will sich die norwegische Regierung aber nicht stellen.

Wie weiter?

2016 reichten die Umweltorganisationen Young Friends of the Earth Norwegen und Greenpeace Klage gegen den norwegischen Staat ein, dem sie vorwarfen, mit der Vergabe von Förderlizenzen an Ölunternehmen in der Barentssee Artikel 112 der norwegischen Verfassung verletzt zu haben. Der entsprechende Paragraf lautet: «Jede Person hat das Recht auf eine der Gesundheit zuträgliche Umwelt und auf eine natürliche Umwelt, deren Produktivität und Diversität gewahrt bleiben. Natürliche Ressourcen sind auf Grundlage umfassender langfristiger Erwägungen zu verwalten, die dieses Recht gleichermaßen für zukünftige Generationen sicherstellen». Zudem heißt es dort: «Bürger*innen haben ein Anrecht auf Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt und die Auswirkungen jeglicher geplanter oder durchgeführter Eingriffe in die Natur». Darüber hinaus weist das Dokument der Regierung die Verantwortung für die Umsetzung dieser Prinzipien zu.

Die Klage hat nicht nur Diskussionen über die Divergenz zwischen rechtlicher und politischer Ebene ausgelöst, sondern auch Debatten über die Umweltverantwortung der norwegischen Ölindustrie sowie der Regierung, die sie kontrolliert. Das endgültige Urteil des obersten Gerichtshofs im Dezember 2020 fiel zugunsten der norwegischen Regierung aus. Die Förderlizenzen durften in Kraft bleiben, allerdings erkannte das Gericht an, dass die Regierung die Auswirkungen auf das globale Klima prüfen muss, bevor sie die Erschließung neuer Ölfelder genehmigt.

Einen Tag, bevor sich die Regierung 2023 in die Sommerpause verabschiedete, ließ sie die Bombe platzen und genehmigte 19 neue Öl- und Gasprojekte. Kurz danach verkündeten die Young Friends of the Earth Norwegen und Greenpeace, gemeinsam eine zweite Klimaklage gegen den Staat einreichen zu wollen. Jüngst hat die norwegische Regierung auch die Bewilligung eines Plans zur Elektrifizierung des Flüssigerdgas (LNG)-Werks Melkøya bekannt gegeben, laut Ministerpräsident Jonas Gahr Støre «für sich genommen die größte Klimamaßnahme, die je von einer norwegischen Regierung beschlossen wurde». In Wahrheit dient das Vorhaben dazu, die Laufzeiten für norwegische Exporte fossiler Brennstoffe zu verlängern, deren Emissionsbilanz durch den Einsatz erneuerbarer Energien in der Aufbereitung reduziert wird. Die Verschmutzung, die bei der tatsächlichen Verbrennung des Gases entsteht, wird dadurch jedoch nicht geringer. Hinzu kommt, dass das Werk im nördlichsten Landesteil Finnmark liegt und seine Elektrifizierung vom großflächigen Bau von Windkraftanlagen in Gebieten abhängt, die die indigene samische Bevölkerung zur Rentierhaltung nutzt. Die parlamentarische Vertretung der Sami wurde nicht in den Entscheidungsprozess einbezogen und hat den Beschluss scharf kritisiert. Mehrere Umweltorganisationen haben ebenfalls Kritik geäußert und argumentieren, dass infolge des Regierungsplans «sowohl die Natur als auch das Klima verlieren».

«Das norwegische Ölabenteuer» hat im öffentlichen Diskurs Norwegens immer noch einen ziemlich guten Klang. Doch wie erdölfreundlich das politische Klima auch sein mag, es führt nichts an der Tatsache vorbei, dass fossile Brennstoffe nicht erneuerbar sind. Eine Energiewende muss kommen, die Frage ist nur, wann und wie. Die Abhängigkeit Norwegens vom Öl ist nicht notwendig nur ein Problem des Klimawandels, sie könnte auch zu einer wirtschaftlichen Bürde werden. Was würde mit der Nachfrage nach norwegischem Gas geschehen, falls Europa erneuerbare Energien nachdrücklicher zur politischen Priorität erklärt? Wenn sich das globale politische Klima zugunsten eines stärkeren Einsatzes für die Umwelt verschieben sollte, wäre Norwegen möglicherweise mit einer Situation konfrontiert, in der es zu sehr auf Öl gesetzt und sich zu verzweifelt an ein ausgehendes (Öl-)Zeitalter geklammert hat.

Norwegen hat nicht nur ökonomisch in Öl investiert, auch die norwegische Öffentlichkeit hat sich in einer bestimmten Realität eingerichtet, die weitgehend von der Ölindustrie selbst hervorgebracht worden ist. Um vom Öl loszukommen, müssen hartnäckige Mythen thematisiert und widerlegt werden. Das widersprüchliche öffentliche Image Norwegens als «grüne Ölnation» muss demontiert werden. Es ist höchste Zeit, dass die Ölnation in den Spiegel sieht und sich einem nicht sonderlich sauberen Anblick stellt.

 
Übersetzung von Daniel Fastner & Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective.