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So funktionieren rechtspopulistische Inhalte auf TikTok

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Autor

Jolan Geusen ,

Foto: Solen Feyissa/unsplash

«Die Bundesregierung hasst dich. Sie will dir das wegnehmen, was du dir erarbeitet hast». Das erzählt Maximilian Krah seiner Community  in einem Video auf TikTok. Er ist AfD-Politiker und Spitzenkandidat für die Europawahl 2024. Auf TikTok hat er knapp 37.000 Follower*innen. Seine Videos haben bis zu eine Million Aufrufe. Krahs Account steht exemplarisch für so viele auf der Plattform: wenige Follower*innen und trotzdem hohe Reichweite. Möglich machen das der Algorithmus von TikTok und die For-You-Page. Davon profitieren vor allem Accounts mit polarisierenden Inhalten.

21 Millionen User*innen in Deutschland

Die Idee hinter diesen technischen Funktionen stammt aus China. Das Unternehmen ByteDance kaufte das soziale Netzwerk musical.ly – ebenfalls aus China – auf und übernahm Funktionen und Ideen, wie beispielsweise mit Musik unterlegte Videos. Daraus entstand 2018 ein neuer Akteur der Social-Media-Landschaft: TikTok. Seit dem die App auf den Markt kam, ist die Nutzerzahl der App rasant gestiegen und besonders junge User*innen haben hier eine digitale Heimat gefunden. Weltweit gibt es fast zwei Milliarden Nutzer*innen.

In Deutschland sind es laut Angaben von TikTok monatlich etwa 21 Millionen. Auch der Reuters Institute Digital News Report 2023 zeigt das Wachstum und die steigende Relevanz von TikTok für die deutsche Bevölkerung. Während andere soziale Netzwerkplattformen an Reichweite verloren haben, gewann TikTok an Reichweite. Die Plattform «wird 2023 von zwölf Prozent der erwachsenen Online-Bevölkerung mindestens einmal pro Woche zu einem beliebigen Zweck genutzt», heißt es in dem Bericht weiter.

Ein unpolitisches Netzwerk, das politisch ist

Dabei war TikTok als Plattform zunächst explizit nicht daran interessiert, als politische Plattform wahrgenommen zu werden oder sich zu einer zu entwickeln. Das erklärte TikTok Alex Zhu in einem Interview mit dem Spiegel. Doch die neuen Möglichkeiten, die TikTok bietet, um politische Inhalte spielerisch oder unterhaltend zu vermitteln, haben das Gegenteil bewirkt.

Der Autor Jolan Geusen hat Medien- und Politikwissenschaft studiert und sich mit der AfD auf TikTok in seiner Abschlussarbeit beschäftigt.

Längst ist TikTok nicht mehr nur ein Ort für Tanz-Challenges und sogenannte Lip-Sync-Videos. Nutzer*innen konsumieren hier auch vermehrt Nachrichten oder reagieren auf politische Entscheidungen und aktuelle Ereignisse. Die Politisierung von TikTok begann unter anderem 2020 damit, dass TikTok-Nutzer*innen den Boykott einer Wahlkampfveranstaltung Donald Trumps initiierten.

Die Grenzen zwischen News und Entertainment auf TikTok verschwimmen dabei immer mehr. Das zeigten zuletzt  Videos aus dem Ukraine-Krieg, in denen der Konflikt eine «Memeifizierung» erlebte. Auch der Nahostkonflikt hat ähnliche Mechanismen erzeugt. Hier beziehen User*innen Stellung zum Konflikt, üben Medienkritik aus oder kritisieren politische Entscheidungen.

Die wichtigsten Funktionen von TikTok

Im Vergleich zu vielen anderen sozialen Medien verfügt TikTok über ein Alleinstellungsmerkmal: Die For-You-Page (FYP). Die User*innen bekommen ein Video nach dem anderen angezeigt. Das Einzige, was sie dafür tun müssen, ist scrollen. Die Auswahl des nächsten Videos übernimmt der TikTok-Algorithmus. So vergleichen Wissenschaftler*innen diese Mediennutzung bei TikTok beispielsweise mit einem «digitalen Schaukelstuhl» oder dem Zappen beim Fernseher.

Was die For-You-Page so besonders macht: Die Nutzer*innen sehen nicht vorrangig die Videos von abonnierten Accounts, sondern Inhalte, die der Algorithmus anhand ihrer gemessenen Interessen auswählt. So macht es der TikTok-Algorithmus Creator*innen möglich, mit ihren Videos viral zu gehen, obwohl ihnen eine große Followerschaft fehlt.

Für ihre Inhalte können Nutzer*innen beispielsweise die duet-Funktion nutzen. Eine Art Splitscreen, auf dem man Inhalte parallel eingeblendet und abgespielt sieht, erlaubt eine kreative Reaktion auf bereits bestehende Inhalte. Ein bekanntes Beispiel für sogenannte duet-Chains findet sich unter dem Hashtag #SeashantyTikTok, bei dem verschiedene User*innen gemeinsam ein Lied sangen, ohne im gleichen Raum zu sein.

Nutzen Creator*innen auf TikTok die stitch-Funktion, können sie Ausschnitte aus anderen Videos auf TikTok verwenden und dann eine eigene Fortsetzung kreieren. Man sieht die Inhalte nacheinander eingeblendet. Hinzu kommen visuelle und auditive Filter und Effekte, z.B. Greenscreen, AI und Voice-Filter. Die jeweilige Tonspur eines Videos kann – sofern nicht deaktiviert  – von anderen Nutzer*innen verwendet werden.

TikTok und die Community-Richtlinien

Neben all der kreativen Freiheit und den vielen Möglichkeiten auf TikTok finden sich aber auch ein paar Haken. Einer davon: TikToks Umgang mit den Community-Richtlinien. Hasserfüllte und rassistische Inhalte werden in der App zwar entfernt, es geschieht allerdings uneinheitlich. Hinzu kommt, dass die Videoplattform in Deutschland offenbar systematisch Wortfilter bei mindestens 20 Begriffen einsetzte. Kommentare erschienen dadurch nicht öffentlich, wie eine Recherche von NDR, WDR und Tagesschau offenlegte. Das Problem dabei: Die Nutzer*innen erfahren nicht davon, dass TikTok ihre Kommentare sperrt. An anderer Stelle zeigte sich TikTok hingegen weniger akribisch. Über den Angriff der Hamas auf Israel kursierten auf der Plattform unzählige Falschinformationen. Die EU-Kommission verwarnte den Onlinedienst und forderte Gegenmaßnahmen.

Rechtspopulismus auf der Plattform

Nicht nur Desinformation und Hatespeech sind eine Begleiterscheinung von TikTok, sondern auch rechtspopulistische Narrative und Stilmittel. Wie auf so vielen anderen sozialen Plattformen auch, sorgen polarisierende Inhalte auf TikTok dafür, dass Beiträge häufiger kommentiert werden. Ein Umstand, der dazu führt, dass der Algorithmus den Inhalten noch mehr Reichweite verleiht. Nutzer*innen kritisieren etwa die politische Elite – zum Beispiel die Bundesregierung oder die EU (Sündenbock-Rolle) – , streuen (rassistische) Vorurteile gegenüber Migrant*innen und sprechen von der deutschen Gesellschaft als Volk oder homogene Masse.

Der AfD-Politiker Maximilian Krah befindet sich aktuell im Wahlkampf für die Europawahl 2024. Sein Profil auf TikTok hat er schon länger – seit Juni 2023 nutzt er es deutlich aktiver. In seinen Videos gibt er «grüner Politik» die Schuld daran, dass Rentner*innen Flaschen sammeln müssen. Er sagt, dass die Grünen «alles, wofür Deutschland steht, abschaffen» und «unser Volk durch Masseneinwanderung ersetzen» wollen. In anderen Clips heißt es: «Echte Männer sind Patrioten, dann klappt’s auch mit der Freundin” oder «ARD und ZDF sind linke Propaganda». Nicht alle geben ihm Recht, das zeigen die Kommentare. Doch genau die spielen Krah durch ihre Menge in die Karten: Seine Videos werden vom Algorithmus noch häufiger ausgespielt.

Beispiel 1: Die Alternative für Deutschland

Krah ist kein Einzelfall in seiner Partei: Die AfD hat es verstanden, TikTok im Zusammenspiel mit rechtspopulistischen Stilmitteln für ihre Zwecke zu nutzen. Das zeigt allein der Vergleich mit den anderen Parteien im Deutschen Bundestag. Im Oktober 2023 hatte das Parteiprofil der Bundestagsfraktion mit Abstand die meisten Follower*innen. Bemerkenswert dabei ist vor allem das enorme Wachstum der AfD-Community. Zwischen März und Oktober 2023 wuchs der Partei-Account um knapp 142.000 Follower*innen (83 Prozent) an.

Anzahl der Follower*innen von Partei-Accounts in Deutschland auf TikTok 2023

Aus dem Deutschen Bundestag sind unten stehende Parteien auf der Plattform vertreten. Es fehlen die CDU und Bündnis 90/Die Grünen.

Die Daten wurden am 03.03.2023 bzw. am 30.10.2023 abgerufen.  Grafik: Jolan Geusen. Quelle: Eigene Darstellung - erstellt mit Datawrapper.

CDU und Bündnis 90/Die Grünen verfügen weder über einen Account für ihre Fraktionen im Bundestag noch ein Profil, das die gesamte Partei repräsentiert. Lediglich einzelne Politiker*innen oder Landesverbände sind auf der Plattform aktiv. Das Agieren von Parteien und Politiker*innen wird intensiver in einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung von 2021 beleuchtet und kann hier nur kursorisch behandelt werden. Die AfD war auf TikTok schon länger mit einem Partei-Account vertreten. Der wurde jedoch am 6. Mai 2022 von der chinesischen Plattform gesperrt. In einer Pressemitteilung behauptete die AfD, dass dies ohne Angaben von konkreten Gründen geschehen sei.

Im Januar 2023 gab es auf der chinesischen Plattform insgesamt 134 Accounts, die in direktem Zusammenhang zur AfD stehen. Weil sie entweder von Politiker*innen, einer Fraktion oder einem Verband der Partei genutzt werden. Die «Volksparteien» CDU/CSU und SPD können bei dieser Menge an Profilen nicht mithalten. Auch die AfD-Mitglieder des Deutschen Bundestags sind zahlreich auf TikTok aktiv. Von den 78 Abgeordneten der Partei verfügten 41 Politiker*innen Anfang des Jahres über einen eigenen TikTok-Auftritt. Mitglieder der einzelnen deutschen Landtage bzw. Länderparlamente der AfD sind ebenso zahlreich auf TikTok vertreten.

Die AfD nutzt dabei ganz unterschiedliche Ansätze, um ihre Inhalte zu verbreiten. Teilweise kommen ihr jedoch auch Dritte zur Hilfe. Es gibt einerseits parteiangehörige Profile, die bewusst politische Inhalte über TikTok kommunizieren. Einzelne Profile von AfD-Politker*innen lassen dabei nicht unbedingt auf den ersten oder zweiten Blick erkennen, zu welcher Partei sie gehören, sogenannte non-evidente Profile.

Die parteiangehörigen Accounts greifen dabei in einem überwiegenden Teil auf bereits bestehende Inhalte. Sie sind eher selten an die Logik von TikTok angepasst. Der Politikberater Martin Fuchs spricht im Interview mit dem funk-Format Die da oben von einer «Facebookisierung». Die AfD spielt auf der chinesischen Plattform also keinen ‘klassischen TikTok-Content’. Wenige Profile nutzen typische TikTok-Elemente, wie Musik, die stitch oder duet-Funktion, Effekte, Filter und kurze sowie knappe Inhalte.

Daneben finden sich auf TikTok parteinahe Profile oder Drittkonten, die eine Rolle als Multiplikator*innen einnehmen. Dazu zählen beispielsweise AfD-Fanpages, Influencer*innen oder Edit-Accounts, die kurze Videos von AfD-Politiker*innen, vornehmlich Alice Weidel, mit viraler Musik unterlegen. Diese Accounts verbreiten Inhalte und Aussagen der AfD, ohne im direkten Zusammenhang mit ihr zu stehen. Die Edit-Accounts sind dabei ein Beispiel für TikTok-gerechte Inhalte: Sie provozieren durch ihren Content, dass Alice Weidel in den Kommentarspalten verherrlicht und gefeiert wird. Die Profile stellen sie in einem entpolitisierten und vielmehr unterhaltenden Rahmen dar.

Beispiel 2: Das Nachrichtenportal Nius.de

Polarisierende Inhalte mit rechtspopulistischen Aussagen steigern nicht nur bei der AfD die Reichweite. Auch beim Nachrichtenportal Nius, das Juli 2023 an den Start gegangen ist. Mitverantwortlich dafür ist der ehemalige BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. Sein Team besteht aus einigen Journalist*innen, die vorher mit ihm beim Axel-Springer-Verlag arbeiteten oder beim RBB, Spiegel oder Focus ihr Geld verdienten.

Auf TikTok ist Nius seit März 2023 aktiv. Die Videos der Nius-Redaktion sind für viele User*innen auf ihrer For-You-Page zu sehen. Dabei bedienen sich die Nius-Vertreter*innen auch rechtspopulistischer Narrative, spitzen Aussagen zu und unterschlagen Informationen oder Kontexte, wie ein Artikel vom Medienmagazin Übermedien analysiert. Mal geht es in den Videos von @niusde ganz unverfänglich und weniger politisch um die Führerscheinpreise, den Shark-tober oder Streiche an Halloween. Daneben sprechen die Nius-Journalist*innen aber auch über die vermeintliche Selbstüberschätzung der Grünen, bemängeln eine fehlende Deutschlandflagge am Nationalfeiertag oder kritisieren die Arbeit der Tagesschau.

Immer wiederkehrende Botschaften sind dabei, dass die Bundesregierung und die regierenden Parteien SPD, Grüne und FDP nicht fähig seien und «unsere individuelle Freiheit einschränken» wollen. Die Videoeinstiege sind meist zugespitzt und reißerisch, erregen dadurch aber Aufmerksamkeit bei den Nutzer*innen auf TikTok. Die Machart der Videos ist vorwiegend an TikTok angepasst: Nius.de verwendet einen Greenscreen, schnelle Schnitte, zeigt Gesicht und regt die Nutzer*innen mit den eigenen Inhalten zur Interaktion an.

Besonders auffällig: Die Menge der Videos. Teilweise veröffentlicht der Account am Tag bis zu neun Videos. Das wirkt sich deutlich auf die Reichweite des Profils aus. Obwohl der Account nur über etwa 80.000 Follower*innen verfügt, sorgt der TikTok-Algorithmus dafür, dass die Videos von deutlich mehr Personen gesehen werden. So hat @niusde bereits 2,8 Millionen Likes erhalten – addiert man die Gefällt-Mir-Angaben aller Videos.

Anzahl der Follower*innen von Accounts, die mit Nius.de in Verbindung stehen

Datenstand: 04.11.2023 Grafik: Jolan Geusen. Quelle: Eigene Darstellung - erstellt mit Datawrapper.

Die Inhalte finden nicht nur über das Hauptprofil ihren Weg auf TikToks For-You-Page. Ein ganzes Netzwerk aus Nius-Creator*innen veröffentlicht Videos auf eigenen Profilen. Ähnlich handeln Profile von weiteren Nius-Formaten, wie beispielsweise «Stimmt! Der Nachrichten-Talk» oder «Achtung, Reichelt!». Diese Strategie zeigt Wirkung. Genauso wie der Nius-Account sammeln auch diese Profile viele Follower*innen innerhalb kürzester Zeit.

Warum ist Rechtspopulismus auf TikTok so erfolgreich?

Die Beispiele von Nius.de und der AfD machen deutlich, wie sehr der TikTok-Algorithmus polarisierende Inhalte belohnt. Mehr Kommentare bedeuten mehr Interaktion. Und mehr Interaktion bedeutet mehr Reichweite. Aber nicht nur der Algorithmus und die For-You-Page sind entscheidend für den Erfolg der beiden Akteure. Auch der Aufwand, den AfD-Politiker*innen und Nius-Journalist*innen betreiben, zahlt sich aus. Bei Nius.de ist es die hohe Anzahl an Videos, die der Account pro Tage veröffentlicht. Bei der AfD ist es die schiere Menge der Profile, die ihre Inhalte verbreiten.

Schon seit einigen Jahren investiert die AfD im medialen Bereich in zusätzliche Ressourcen, beispielsweise in einen «eigenen Newsroom». So möchte die Partei die Berichterstattung über sie beeinflussen. Das Auftreten auf TikTok passt da mit ins Konzept. Die anderen Parteien geraten digital ins Hintertreffen. Auch bei Nius.de steckt großer (finanzieller) Aufwand dahinter.

Während viele AfD-Profile Inhalte wiederverwenden und nicht selten Maßstäbe für viralen Content ignorieren, gibt es Ausnahmen, wie den Europawahlspitzenkandidaten der AfD. Maximilian Krah produziert knappe Inhalte mit provokativen Aussagen oder Fragen am Anfang – ähnlich wie Nius.de. Außerdem geht er aktiv auf die Kommentare unter seinen Videos ein. Wie erfolgreich er am Ende seines Wahlkampfes damit ist, wird die Europawahl im kommenden Jahr zeigen.