Nachricht | Sozialökologischer Umbau - Autoritarismus - COP28 Segen oder Fluch – führt Öl zu Autoritarismus?

Wie beeinflusst die Nutzung bestimmter Ressourcen die politische Struktur von Gesellschaften?

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Etihad Towers in Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate, 2019
Hemmen Reichtum und Klientelismus in rohstoffreichen Staaten demokratische Prozesse? Etihad Towers in Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate, 2019, Foto: picture alliance / Zoonar | monticello

Gibt es Energiesysteme, die demokratischer sind – und andere, die fast zwangsläufig zur Diktatur führen? Diese Frage wurde, auf ganz unterschiedliche Weise, von Wissenschaft und sozialen Bewegungen diskutiert. Die Anti-Atom-Bewegung der 1980er Jahre argumentierte, die zentralistische Energieversorgung durch Atomkraftwerke führe auch zu einem entsprechenden Aufbau des Staates, und Generationen von Befürworter*innen von erneuerbaren Energien plädierten auch deshalb für diese, weil sie hofften, diese würden basisdemokratische Ansätze erleichtern oder fördern. Besonders präsent war und ist diese Frage, wenn es um Öl geht – insbesondere um Öl in der arabischen Welt. So prägend war die Ressource für die Entwicklung der Region seit dem 20. Jahrhundert: Beschäftigung mit den Ländern der arabischen Welt bedeutete immer auch Beschäftigung mit Öl.

Juliane Schumacher ist Wissenschaftlerin, freie Journalistin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Dabei ließen sich lange zwei konträre Lesarten unterscheiden. Zunächst eine, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine lineare Verbindung von Öl zu Wohlstand zog: Öl als der Stoff, aus dem Märchen sind, Märchen, die Armut besiegen und aus einfachen Nomaden oder Fischern wohlsituierte Bürger und einflussreiche Player auf dem internationalen Parkett machen. Die negativen Effekte, die die Förderung und Nutzung von fossilen Brennstoffen auf Umwelten und Gesellschaften haben konnten, spielten dabei zunächst keine Rolle.

Die Angst vor dem Ressourcenfluch

Das Gegenteil war der Fall in der zweiten Erzählung, die ab den 1980er Jahren an Einfluss gewann und bis heute die Debatte um Rohstoffe und Politik prägt: die Idee des Ressourcenfluchs. Diese betont vor allem die Gefahren, die die Entdeckung von Öl mit sich bringe, nicht vorrangig im Hinblick auf Gesundheit, Umweltschäden oder den Klimawandel, sondern in Bezug auf die Demokratie. «Verhindert Öl Demokratie?» fragte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Michael L. Ross, der die Idee des Ressourcenfluchs maßgeblich prägte, 2001. Und antwortete: Ja, das tut es. Die These, die dahintersteht: Öl sei kein Wundermittel, sondern gefährlich. Wenn «nicht-entwickelte», sprich, nicht-industrialisierte, Staaten durch die Entdeckung von Öl zu schnellem Reichtum gelangten, habe das mehr negative als positive Folgen. Es verhindere die weitere «Entwicklung» bzw. Industrialisierung, da das schnelle Geld aus dem Ölverkauf attraktiver sei als der mühsame Weg, sich ein höheres Einkommen durch Produktion zu «erarbeiten». Die Möglichkeit, durch Öl unverdient, ohne «harte Arbeit», schnell reich zu werden, führe zu Korruption, Gewalt und Unsicherheit, letztlich zu «failed states», in denen Warlords um die wertvollen Ressourcen kämpfen. Die These des Ressourcenfluchs ist nicht nur in der Wissenschaft weiterhin verbreitet, sondern wird auch in der Politik immer wieder angeführt oder heraufbeschworen. Die Anthropologin Gisa Weszkalnys stellte bei ihrer Forschung im kleinen afrikanischen Staat São Tomé e Príncipe fest, dass dort schon die ersten Nachrichten über mögliche Ölfunde ausreichten, um quer durch das Land Furcht vor den Auswirkungen des Ressourcenfluchs und vorbeugende Maßnahmen internationaler Geberorganisationen auszulösen – noch bevor überhaupt bestätigt war, dass Öl gefördert werden würde.

Im arabischen Raum, wo tatsächlich bereits Öl gefördert wurde, folgte die gängige politische Analyse der Theorie des Rentier-Staates. Diese ging davon aus, dass es vor allem dem Öl geschuldet war, dass die Demokratie in Staaten wie Libyen oder Irak sich nicht wie in den westlichen «Vorbildern» entwickelte. Weil das Öl dem Staat oder den jeweiligen Herrschern so viel Geld in die Kasse spülte, konnten sie politische Akteure kooptieren, die Opposition kaufen oder ausspielen und freiheitliches politisches Leben unterdrücken. Diese Sichtweise dominierte den Blick auf die Ölstaaten des arabischen Raum lange Zeit. Öl diente als – verkürzte – Erklärung für alle Formen des Status Quo: Statt die komplexen und sehr unterschiedlichen Hintergründe und politischen Kämpfe in den verschiedenen Ländern genauer zu analysieren, wurde der Zustand des politischen Systems schlicht mit dem Vorhandensein von Öl erklärt. Das Öl sei schuld, dass die Länder der Region, aus westlicher Sicht, ein Defizit an Demokratie und freier Marktwirtschaft aufwiesen. Und der Nahe Osten sei vor allem deshalb ein Ort von Kriegen und Konflikten, weil er so reich an Ressourcen sei, so dass Regional- und Großmächte dort um Einfluss und Bezugsquellen rängen.

Eine Welle von Aufständen – und ein veränderter Blick auf die Region

In den letzten zwei Jahrzehnten ist diese Sichtweise jedoch zunehmend in die Kritik geraten. Der Ansatz, einen kausalen Zusammenhang zwischen Öl und Autoritarismus herzustellen, hat sich zumindest in Teilen aufgelöst zugunsten einer breiteren und diverseren Beschäftigung mit Umwelten, Ressourcen und Gesellschaften der Länder der Region, in Bezug auf Öl und darüber hinaus. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass sich sich die These vom Ressourcenfluch gar nicht so einfach beweisen ließ; empirische Studien kamen meist zu dem Schluss, dass sich kein direkter Zusammenhang zwischen Ölreichtum und Autoritarismus zeigen lässt – und dass die These darüberhinaus davon abhängt, wie die Begriffe definiert werden: Ab wann ist ein Staat ein Ölstaat? Und was verstehen die jeweiligen Autor*innen unter Demokratie?

Der veränderte Blick war aber auch der Welle von Aufständen und Revolutionen geschuldet, die sich, ausgehend von Tunesien, ab 2010 in der Region verbreiteten. Die Revolten, oft getragen von der jungen Generation, fanden auch Widerhall in vielen der Staaten, die vor allem in Bezug auf ihren Ölreichtum gesehen wurden – und sie zeigten, dass deren Bevölkerungen weder nur passive Empfänger*innen von Geldern waren, die ihre Freiheit für subventionierte Alltagsgüter verkauften, noch so homogen, wie es die These vom Rentier-Staat nahelegte. Die Revolutionen Anfang der 2010er Jahre haben, zumindest bei denen, die direkt zur Region arbeiten, zu einer sehr viel intensiveren Beschäftigung mit den vielfältigen Gruppen innerhalb der Gesellschaften geführt, mit jungen Menschen, Frauen, Arbeiter*innen, LGBTIQ+, Umweltschützer*innen, Migrant*innen, mit den Kämpfen, die sie führten und mit politischen Fragen, Taktiken und Koalitionen, bei denen Öl oft keine oder keine zentrale Rolle spielte. 

Die internationale Dimension

Gleichzeitig sorgte etwa zur selben Zeit eine Reihe von wissenschaftlichen Veröffentlichungen dafür, dass die Rolle von Öl neu diskutiert wurde. Dies bedeutete zum einen eine verstärkte Beschäftigung mit dem Öl selbst. Im Zuge des Aufkommens der «neuen Materialismen» in den Geisteswissenschaften, die sich nach Jahrzehnten der Beschäftigung vor allem mit der diskursiven Ebene wieder stärker den materiellen Grundlagen von Phänomenen zuwandten, gerieten so die physischen Eigenschaften des Rohstoffs Öl stärker in den Vordergrund. Der Wissenschaftler Timothy Mitchell führte in Carbon Democracy, das 2011 erschien, die ökonomische Weltordnung der Nachkriegszeit im Wesentlichen auf die Eigenschaften des Öls zurück: Die Fähigkeit des Öls, große Mengen an Energie zu speichern, leicht zu transportieren und zu kontrollieren zu sein, habe die Idee der Volkswirtschaft von ihren physischen Grenzen gelöst und die Annahme unbegrenzten Wachstums erst ermöglicht. Robert Vitalis America's Kingdom zeigte, dass die Erzählung, der saudi-arabische Konzern ARAMCO sei vor allem da, die Bürger des Landes durch großzügige Jobs und Zahlungen gefügig zu halten, in weiten Teilen ein Mythos ist. In US-Dollar bezahlte Jobs und luxuriöse Villen, so Vitalis, seien seit der Anfangszeit des Unternehmens vor allem US-amerikanischen Führungskräften vorbehalten gewesen, während die Mehrheit der einheimischen Arbeiter*innen sowie migrantische Arbeitskräfte aus anderen Ländern aufgrund rassistischer Praktiken oft ärmlich lebt und weitaus schlechter bezahlt wird.

Vor allem aber wiesen beide Bücher, wie auch vermehrt andere Publikationen nach ihnen, auf die internationale Dimension der Frage um Öl und Demokratie hin. Denn eine zentrale Schwäche der These des Ressourcenfluchs ist, dass sie die Frage von Demokratie allein auf der Ebene des Nationalstaats verhandelt – und ignoriert, dass dieser eingebunden ist in ein System des globalisierten Kapitalismus und postkolonialer Machtverhältnisse. Es ist, das machen diese Studien deutlich, gar nicht unbedingt das Öl, das dazu führt, dass autoritäre Regime sich halten und demokratische Bestrebungen unterdrückt werden – sondern es sind oft mächtige Staaten, seien es Länder der EU, die USA, Russland oder China, die für den Fortbestand eben dieser autoritären Strukturen sorgen, aus wirtschaftlichen oder politischen Interessen. Während die Frage, wie (US-)Interessen zum Autoritarismus in der Region beigetragen haben, in den letzten Jahren vermehrt diskutiert wurde, spielt die Rolle von (Post)Kolonialismus, so offensichtlich sie scheint, in der Debatte um Öl im Nahen Osten bisher kaum eine Rolle – anders als etwa in Lateinamerika, wo ebendies seit Jahrzehnten ausführlich diskutiert wird. Dass viele Staaten nicht dieselbe technische und industrielle Entwicklung eingeschlagen haben wie der Westen und nicht dasselbe Niveau von Wohlstand erreichen, liegt sicher nicht am Öl oder dessen Eigenschaften, sondern viel eher an ihrer kolonialen Vergangenheit und deren Fortsetzung im derzeitigen globalen Wirtschaftssystem, das ihnen vor allem die schwer zu verlassende Rolle von Rohstoffexporteuren zuweist.

Öl, Arbeit und politische Macht

Schließlich bringt Mitchell in seinem Buch von 2011 ein Argument auf, das es weiterzudenken lohnt: die Frage nach der Verbindung zwischen Energie, der Rolle der Arbeiter*innen und Demokratie. Kohle, schreibt er, war das Energiemittel des 18. und 19. Jahrhunderts, es ermöglichte die industrielle Revolution und das Entstehen der modernen Stadt. Kohle war entscheidend für das Funktionieren kapitalistischer Gesellschaften. Aber Kohle war arbeitsintensiv, und dadurch empfindlich gegenüber Störungen: Sie brachte großen Mengen an Arbeiter*innen zusammen, die Seite an Seite arbeiteten, in den Minen, bei der Eisenbahn, in den Häfen. Sie hatten die Möglichkeit, sich zu organisieren – und zu streiken. Die Möglichkeit, den Fluss von Kohle effektiv zu unterbrechen, gab ihnen Macht und verlieh ihren Forderungen Nachdruck. Mitchell sieht hierin einen Ursprung der modernen Massendemokratie und dem späteren Entstehen des keynesianistischen Wohlfahrtsstaats. Und er interpretiert den Übergang hin zu Öl – das die USA überwiegend aus den von ihnen unterstützten autoritären Staaten importierten – auch als eine Antwort auf die starken Arbeiter*innenbewegungen, die in den USA noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts existierten. Der Übergang zum Öl als Energiequelle veränderte die Infrastruktur:  Ölförderanlagen benötigten, anders als Kohle, kaum Arbeiter*innen, in Pipelines floss das Öl von allein und musste nicht verladen werden, Öl wurde zunehmend importiert, energieintensive Industrien ins Ausland verlagert. Die Ansatzpunkte der Arbeiter*innen, in den industriellen Prozess relevant einzugreifen, schwanden, und damit ihre Macht. Die Fragen, die sich daraus ergeben, sind auch im Hinblick auf den anstehenden großflächigen Umbau von Energiesystemen in der Klimakrise relevant.

Die Eigenschaften von Ressourcen und ihre Infrastrukturen, das steht außer Frage, haben einen Einfluss auf politische Prozesse. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Nutzung eines bestimmten Rohstoffes eine bestimmte politische Organisation bestimmt – wie demokratisch oder undemokratisch ein Staat ist (und wie das verstanden wird und für wen es gilt), ist am Ende immer das Ergebnis von sozialen Kämpfen, auch unter den schwierigen Bedingungen einer krisengeschüttelten, postkolonial-kapitalistischen Realität.

Nicht naiv in Ressourcen-Determinismus zu verfallen, ist nicht nur wichtig, wenn es darum geht, die politischen Bedingungen der Staaten im arabischen Raum zu diskutieren – sondern auch, wenn es um die Zukunft von Energiesystemen und ihre globalen Auswirkungen geht.