Nachricht | Beer: Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten, Berlin 2023

Eine Vermessung der sozialistischen Welt der 1930er Jahre

Information

Archive sind tolle Ort, in denen man sich problemlos verlieren kann, und manchmal werden dort echte Schätze gehoben, die den Blick in vergessene Zeiten eröffnen. Das soeben erschienene Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten ist so ein Fall. Im israelischen Yad Tabenkin-Archivstieß der Historiker Günter Regneri 2013 auf ein umfangreiches Typoskript im Nachlass von Max Beer(1863-1943) und nahm sich dessen an. In einem knappen Vorwort stellt Regneri den heute kaum mehr bekannten Beer vor und skizziert den Entstehungskontext des von Beer ab Ende der 1920er Jahre im Auftrag des Instituts für Sozialforschungverfassten Lexikons vor. 1933 musste Beer vor den Nationalsozialisten ins Exil flüchten, was die Arbeit unterbrach und die Fertigstellung dauerhaft verhinderte.

Dessen Konzeption lässt sich demnach als zeitgenössisches «aktuelles Nachschlagewerk» verstehen. Laut Herausgeber hat Beer «[e]ine große Anzahl» der aufgeführten Menschen persönlich gekannt – gern würde man hier mehr erfahren, und sei es auch nur beispielhaft. Kamen diese Bekanntschaften im Rahmen seiner journalistischen Arbeit zustande? Bestand Briefkontakt? Spannend ist, wie der Herausgeber korrekt hervorhebt, die Bandbreite des von Beer zugrunde gelegten Sozialismusverständnisses und damit der aufgenommenen Personen. Das Lexikon umfasst Sozialdemokrat*inn, Kommunist*innen, Sozialreformer und Anarchisten. Auch Konvertiten sind ausgeführt – am bekanntesten und wichtigsten wohl Mussolini. Vollständig ist die Sammlung aber nicht – während Otto Rühle genannt wird, fehlt zum Beispiel Karl Korsch. Rätekommunisten waren also nicht systematisch inkludiert, die genauere Gründe hierfür müssen unklar bleiben. Etliche Intellektuelle und Akademiker, die nur am Rande von Parteien standen, aber sich dennoch als sozialistisch verstanden, bleiben ebenfalls außen vor. Auch die sozialistisch orientierte Genossenschaftsbewegung ist nicht rundum erfasst. Wie Regneri selbst feststellt, sind von den im Lexikon 565 aufgenommen Menschen nur 26 Frauen. Ebensowenig ist die jüdische Arbeiterbewegung repräsentiert. Auch der aus heutiger Sicht überdeutliche Europazentrismus wird klar in der Einleitung benannt.

Spannend ist der durch dieses Buch ermöglichte Blick zurück in die (deutschsprachige) sozialistische Welt der frühen 1930er Jahre – und dass mit ihm viele heute völlig unbekannte Personen wieder zugänglich gemacht werden. Die einzelnen Einträge sind sehr unterschiedlich in der Länge: von wenige Zeilen bis hin zu mehreren Seiten. In vielen Fällen handelt es sich um kurze biografische Skizzen, in anderen werden auch die theoretischen Errungenschaften geschildert und das Wirken wie die Persönlichkeit bisweilen kritisch bewertet, die jeweils verfolgten Ideale vorgestellt, die politische Entwicklung nachvollzogen.

Der Herausgeber vermutet, sei das Buch noch zu Lebzeiten erschienen, «stünde es in einer Reihe» mit anderen Werken «der Schriften des Instituts für Sozialforschung». Diese Annahme erschließt sich mit Blick auf das vorliegende Material nicht, erstreckt sich das Feld der Erkenntnis des Lexikons doch auf ganz anderer Ebene als die verschiedenen analytischen Bücher aus dem Institut. Es fragt sich stattdessen, ob man das Handlexikon als eine Art linke Antwort auf die bürgerlichen Publikationen der damaligen Zeit wie das zweibändige Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft(1931) bewerten könnte. Es sollte eindeutig auch zeitgenössischen Charakter haben, denn circa 40 Prozent der erwähnten Menschen lebten noch, als Beer das Lexikon verfasste. Es sind aber auch historische Persönlichkeiten wie François Noel Babeuf, der von 1760 bis 1797 lebte, oder John Bellers (1655-1725) enthalten. Als Leser:in würde man dann doch gern noch mehr zur Konzeption des Buches erfahren – findet sich dazu etwas in den Archiven des Instituts für Sozialforschung? Der Herausgeber sagt dazu nichts, vielleicht wäre hier noch mehr zu heben.

Das Buch ist optisch wie haptisch fein aufgemacht. Es ist alphabetisch unterteilt, bei jedem Buchstaben sind die Personen nochmals übersichtlich nummeriert aufgeführt, was die Navigation durch das Buch erleichtert. Leider nicht ganz fehlerlos: so fehlt Luxemburg als Nummer 335 in der kleinen Übersicht zum Buchstaben L, ist dann aber im eigentlichen Text vorhanden.

Das Vorhaben Beers nötigt Respekt ab, ebenso die Arbeit, die sich der Herausgeber gemacht hat, das Buch zu vervollständigen und druckfertig zu machen. Regneri füllte inhaltliche Lücken und recherchierte bspw. die Lebensdaten. Für Interessierte der sozialistischen Geschichte ist das Buch empfehlenswert.

Marx Beer: Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten, hrsg. von Günter Regneri, unter Mitarbeit von Katharina Regneri; Brumaire Verlag, Berlin 2023, 860 Seiten, 26 Euro