Nachricht | Krieg / Frieden - Israel - Türkei - Krieg in Israel/Palästina Türkei: Aggressiv nach außen und innen

Erdoğans antiisraelische Feindbilder haben eine lange Geschichte

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Keine besten Freunde: Die offene antiisraelische Rhetorik Erdoğans kann Kanzler Scholz nicht akzeptieren. Aber die Bundesregierung glaubt weiterhin, auf die Türkei angewiesen zu sein. (Berlin, 17.11.23) Foto: IMAGO / Bernd Elmenthaler

Beim jüngsten Staatsbesuch des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, in Deutschland trat der tiefe Dissens offen zu Tage: Während der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, Solidarität mit dem von der Hamas angegriffenen Israel erklärte, ergriff Erdoğan einmal mehr Partei für die islamistische Terrorgruppe, die er zuvor bereits als «Freiheitskämpfer» bezeichnet hatte. Er nannte Israel einen «Terrorstaat» und stellte das Existenzrecht Israels in Frage, die westlichen Staaten verurteilte er als «Kreuzfahrer».

Das alles kann Erdoğan sich erlauben, weil er weiß, dass der Westen weiterhin in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in der Migrationspolitik, auf die Türkei angewiesen zu sein glaubt. Die Bundesregierung hält ihre Türkei-Politik offensichtlich weiterhin für «alternativlos».

Wurzeln des türkischen Antisemitismus

Um die Ursachen der antiisraelischen Äußerungen der türkischen Regierung zu entschlüsseln, muss man historisch auf die ideologischen Feindbilder des türkischen Nationalismus und deren innenpolitische Instrumentalisierung zurückgreifen.

Ismail Küpeli arbeitet als Politikwissenschaftler an der Universität zu Köln und kommentiert die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei und in Deutschland.

Denn die Feindbildkonstruktionen, die sich historisch zuerst gegen Armenier*innen und etwas später gegen Jüdinnen und Juden richteten, sind bis heute im gesamten rechten politischen Spektrum der Türkei wirkmächtig. Dies geht auch darauf zurück, dass mit der sogenannten Türkisch-Islamischen Synthese in der 1970er Jahren eine ideologische Verzahnung zwischen «dem Türkischen» und «dem Islamischen» vollzogen und auf diese Weise eine nationalistisch-religiöse Identität geschaffen wurde, auf die sich die verschiedenen Kräfte der türkischen Rechten gemeinsam beziehen können. Die türkisch-islamische Ideologie war und ist stark geprägt von antisemitischen Elementen und behauptet, dass die einzige Rettung für Islam und Türkentum in einem militanten Islamismus liege. Diese islamistische Ideologie wird von einem militanten türkischen Nationalismus begleitet.

Die Propagierung der eigenen, türkisch-islamischen Identität, die identitäre Ablehnung des Westens und eine antisemitische Grundhaltung, die heutzutage bevorzugt als islamistischer Antizionismus oder «Israel-Kritik» auftritt, sind wirksame Elemente dieser Ideologie. Erdoğan und andere Akteure aus den Spektren des islamischen Konservatismus und des Islamismus wurden durch diese Narrative geprägt, und sie bestimmen ihr politisches Handeln.

Dabei wirkt der Antisemitismus stets als Teil einer islamistischen und nationalistischen Ideologie. Insofern überraschen weder die israelfeindlichen Äußerungen der türkischen Regierung im Kontext der Protestwelle im Mai 2021, noch die gegenwärtigen Äußerungen im Kontext der israelischen Militäroffensive nach dem Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober 2023. Vielmehr stehen sie im Einklang mit der ideologischen Traditionslinie, die für Erdoğan und seine Verbündeten handlungsleitend ist. Diese ideologische Motivation wird noch dadurch gestärkt, dass die Regierungsallianz mit ihrer antiisraelischen Rhetorik innenpolitisch punkten kann und die Mainstream-Opposition auch in dieser Frage keine alternative Position entwickeln kann und will.

Die nationalistische Mobilisierung wurde in den letzten Jahren von einer Vielzahl außenpolitischer und militärischer Maßnahmen begleitet, wobei die Feindbilder sich aus der türkisch-nationalistischen Ideologie ableiten. Die außenpolitische Eskalation wiederum erleichtert die innenpolitische Mobilisierung, weil die Regierungsallianz so Tempo und Richtung der politischen Entwicklung bestimmen kann – und die Mainstream-Opposition vor sich hertreibt.

Türkische Angriffe auf Rojava

In diesen Kontext gehören auch die anhaltenden Militäroffensiven gegen kurdische Kräfte in der Türkei, in Rojava/Nordsyrien und in Südkurdistan/Nordirak seit 2015. Die konkreten Anlässe und Rechtfertigungen der türkischen Regierung können dabei wenig überzeugen, so etwa wenn syrisch-kurdische Kräfte pauschal für ungeklärte Anschläge in der Türkei verantwortlich gemacht und diese dann als Legitimation für Bombardierungen und Bodenoffensiven genutzt werden.

Der jüngste Beleg hierfür ist ein Anschlag vom 1. Oktober 2023 in der türkischen Hauptstadt Ankara, bei dem zwei Polizisten verletzt wurden. Die PKK hat sich zu diesem Anschlag bekannt. Die türkische Regierung behauptet nun, dass die beiden PKK-Attentäter in Rojava ausgebildet worden seien – auf diese Weise kann sie die syrisch-kurdischen Kräfte für den Anschlag verantwortlich machen. Mit dieser Begründung begannen die bis heute andauernden türkischen Luftangriffe auf Rojava, bei denen zahlreiche Menschen getötet und die zivile Infrastruktur der Region weitgehend zerstört wurde. Ziele der türkischen Luftangriffe sind etwa Krankenhäuser, Elektrizitäts- und Gaswerke sowie Anlagen zur Versorgung mit Trinkwasser.

Allerdings hat die türkische Regierung bereits vor dem Anschlag vom 1. Oktober zahlreiche militärische Angriffe auf Rojava unternommen. Der erste Angriffskrieg der Türkei fand vom August 2016 bis März 2017 statt. Er wurde zwar als eine Maßnahme gegen den dschihadistischen «Islamischen Staat» (IS) deklariert, richtete sich aber faktisch gegen syrisch-kurdische Kräfte.

Im Januar 2018 folgte der Angriffskrieg gegen Afrin/Rojava, in dem hunderte Zivilist*innen getötet wurden. Afrin ist seit März 2018 durch Truppen der Türkei und ihrer islamistischen Verbündeten besetzt, die für zahlreiche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.

Der dritte große Angriffskrieg der Türkei begann im Oktober 2019 und richtete sich gegen jene Gebiete Rojavas, die noch nicht von türkischen Truppen besetzt waren. Die kurdischen Milizen mussten aufgrund der militärischen Übermacht der Türkei weiteres Territorium aufgeben. Aber auch nach dem Ende des dritten Angriffskriegs ging die türkische Regierung gegen Rojava weiter militärisch vor. Allein 2022 fanden 130 türkischen Drohnenangriffe statt, bei denen 87 Menschen getötet und 151 Menschen verletzt wurden. 

Innenpolitische Stabilisierung des Erdoğan-Regimes

Die Türkei kann außenpolitisch nur deshalb so aggressiv auftreten, weil Erdoğan sein autoritäres Regime zuletzt trotz zahlreicher Krisen stabilisieren konnte. Dazu allerdings haben seine «Israelkritik» und der Krieg gegen Rojava ebenso beigetragen wie die Schwäche der türkischen Opposition im Anschluss an ihre Niederlage bei der Wahl im Mai d.J.

Mit Erfolg nutzen Erdoğan und seine «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung» (AKP) extrem rechte, rassistische und antisemitische Diskurse, die sie durch außenpolitische Zuspitzungen immer weiter anheizen. Die Strategie, über den türkischen Nationalismus – und den damit verbundenen antikurdischen Rassismus – Wahlkampf zu machen, hatte sich für Erdoğan bereits bei früheren Gelegenheiten als Erfolgsrezept erwiesen. Als die AKP unter seiner Führung bei der Parlamentswahl im Juni 2015 deutliche Stimmenverluste erlitt und ihre Regierungsmehrheit im Parlament verlor, reagierte Erdoğan mit einer Wiederaufnahme des Krieges in den kurdischen Gebiete der Türkei. Begleitet von einer nationalistischen und antikurdischen Mobilisierung eroberte die AKP dann bei der folgenden Neuwahl im November 2015 mit 49,5 Prozent der abgegebenen Stimmen die Regierungsmehrheit zurück. Darüber hinaus führte diese Mobilisierung zu einer Annäherung zwischen der AKP und der extrem rechten «Partei der Nationalistischen Bewegung» (MHP), die dann zwei Jahre später die Einführung des autokratischen Präsidialsystems ermöglichte.

Die türkische Mainstream-Opposition – bestehend aus der kemalistischen «Republikanischen Volkspartei» (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), der weit rechts stehenden «Guten Partei» (İyi Parti, IYI) und weiteren kleineren Rechtsparteien, die sich alle 2018 zum Wahlbündnis «Bündnis der Nation» (Millet İttifakı) zusammengeschlossen hatten – konnte und wollte dieser türkisch-nationalistischen Mobilisierung nichts entgegensetzen. Den politischen Entscheidungen der Regierung auf Kosten der Kurd*innen stellte dieses Bündnis sich ebenso wenig entgegen wie der antikurdischen Stimmung in der Öffentlichkeit. Versuche der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), eine gemeinsame Oppositionsfront gegen die Regierungsallianz zu bilden, wurden von der Mainstream-Opposition brüsk abgewiesen. Dies ist schon deshalb wenig überraschend, weil die antikurdische İyi Parti das Oppositionsbündnis stark prägt.

Diese Spaltung zwischen Mainstream- und Links-Opposition hat indes nicht nur die Wiederwahl Erdoğans ermöglicht, sondern auch darüber hinaus den Widerstand gegen das autoritäre Regime substanziell geschwächt. In jedem Fall bestätigen die Entwicklungen der letzten Monate, dass die Regierungsallianz weiter erfolgreich auf die türkisch-nationalistische Mobilisierung setzen und die Mainstream-Opposition, die der türkisch-nationalistischen Ideologie letztlich nichts entgegensetzen kann und will, im politischen Diskurs marginalisieren kann.

Erdoğan wieder fest im Sattel

Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre ist davon auszugehen, dass die Regierungsallianz in Ankara weiter auf eine türkisch-nationalistische Mobilisierung setzen und dabei regelmäßig auf antikurdische und antisemitische Äußerungen zurückgreifen wird. Dass die Türkei zugleich unter sozialen und ökonomischen Krisen leidet, hat bislang auch deshalb nicht zu einem Hegemonieverlust der autokratischen Regierung geführt, weil die Mainstream-Opposition, wie gesehen, keine eigenständige und glaubwürdige Alternative zur Regierungspolitik entwickelt hat. Die linke Opposition, die sich nach den Stimmenverlusten bei den letzten Wahlen neu orientieren muss und gerade eine organisatorische Umgestaltung von der HDP zur neu gegründeten «Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker» (HEDEP) durchmacht, bleibt außerhalb der kurdischen Region marginalisiert und verfügt über keine Bündnisoptionen für ihre progressive und nicht-nationalistische Politik. Im Ergebnis sitzt die türkische Regierungsallianz innenpolitisch wieder fest im Sattel.

Offen bleibt indes, wie die westlichen Staaten auf die verstärkt antiisraelische Rhetorik Ankaras reagieren werden. Erdoğans auch beim Staatsbesuch in Berlin demonstrativ zur Schau gestellte Positionen zu Nahost dürften, anders als die türkischen Angriffe auf Rojava, vom Westen kaum ignoriert und geduldet werden. Ein offener Konflikt zwischen türkischer und israelischer Regierung könnte zu außenpolitischen Reaktionen der westlichen Staaten führen – allerdings nur dann, wenn sich letztere von ihrer allseits gepflegten Überzeugung verabschieden, dass sie sicherheits- und migrationspolitisch weiterhin auf die Türkei angewiesen sind.