«Das Dogma vom wachsenden Energiebedarf, das lediglich den im Kapitalismus herrschenden Zwang zur Kapitalverwertung und erweiterten Reproduktion widerspiegelt, muss resolut über Bord geworfen werden. Denn […] Kohlekraftwerke überlasten, wie alle Verbrennung fossiler Erdschätze, die Atmosphäre mit Schadstoffen, namentlich mit Kohlendioxid.» Nein, diese Aussage wurde nicht vor kurzer Zeit von Kohei Saito oder Andreas Malm getätigt. Sie stammt aus dem Jahr 1977. Gesagt hat das damals Wolfgang Harich. Dessen Biograf Siegfried Prokop bezeichnete ihn als «ersten Grünen in der DDR». Wer war dieser Mann, der schon vor fünf Jahrzehnten einen «Kommunismus ohne Wachstum» einforderte?
Geboren wurde Wolfgang Harich vor einhundert Jahren, am 9. Dezember 1923 im damaligen Königsberg. Er stammte aus gutbürgerlichem Hause. Die Familie zog bald nach Neuruppin um, später nach Berlin, wo Harich seine Jugendjahre verbrachte, bevor er in die Wehrmacht eingezogen wurde. Er schaffte es gleich zweimal, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Nach dem zweiten Versuch konnte er sich erfolgreich verstecken und betätigte sich in der kommunistisch orientierten «Widerstandsgruppe Ernst». Nach Kriegsende stand er auf der Liste jener unbelasteten Personen, die von der «Gruppe Ulbricht» für die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung im zerstörten Berlin auserkoren waren. Doch Harich zog es nicht in die Politik, sondern zu Kultur und Philosophie. Zunächst in der gesamten Stadt tätig, verlagerte er seine Aktivitäten bald in den Ostteil Berlins und schrieb hier für Zeitungen der Sowjetischen Besatzungszone.
Harich galt als intellektuelles Wunderkind. Er wurde SED-Mitglied, machte sich als Kultur- und Theaterkritiker einen Namen, arbeitete im neu gegründeten Aufbau-Verlag als Lektor und schloss sein Philosophiestudium ab. Er promovierte alsbald, wurde Dozent an der Humboldt-Universität und Chefredakteur der «Deutschen Zeitschrift für Philosophie». Gemeinsam mit Ernst Blochund Georg Lukács plädierte er hier für einen offenen Meinungsstreit, um den Marxismus weiterzuentwickeln. Dabei geriet er mehrfach mit der SED in Konflikt, die einen dogmatischen Marxismus-Leninismus durchsetzen wollte. Harich suchte die Debatte und machte sich damit nicht nur Freunde. 1956 beging er schließlich den größten Fehler seines Lebens, der ihn zugleich zu einem der wichtigsten «Dissidenten» der DDR machte: Im Februar und März fand der XX. Parteitag der KPdSU statt, an dessen Ende die berühmte «Geheimrede» Chruschtschows stand. Diese interne Benennung stalinistischer Verbrechen und Fehlentwicklungen kam bald an die Öffentlichkeit und erreichte über die offene Westgrenze auch die Intellektuellen in der DDR. Nachdem sie am 17. Juni 1953 mehrheitlich geschwiegen oder sich hinter den Kurs der SED gestellt hatten, forderten sie nun, fast drei Jahre später, Reformen sowie eine Entstalinisierung der DDR. Staats- und Parteichef Walter Ulbricht geriet in die Defensive, die neuen Machthaber in Moskau standen nicht mehr fest hinter ihm. Im Laufe des Jahres folgten jedoch die Aufstände in Ungarn und Polen, die einen Kurswechsel in der Sowjetunion einleiteten und Ulbrichts Position wieder stärkten, da dem «Großen Bruder» in Moskau die Lust auf weitere Reformversuche in seinen Blockstaaten vergangen war.
Die kritischen Intellektuellen sahen diese Entwicklung nicht und agierten ungebrochen gegen Ulbricht. Einer der Protagonisten war Harich. Über den Verlauf und die Motive der Akteure anno 1956 wird bis heute diskutiert. Die Ereignisse im Detail nachzuzeichnen, würde hier den Rahmen sprengen. Harich verfasste jedenfalls mehrere Texte mit Reformvorschlägen: Er forderte u.a. ein Ende des SED-Alleinvertretungsanspruchs, eine Ablösung Ulbrichts, mehr Demokratie und Selbstbestimmung in den Betrieben oder die Abschaffung der Staatssicherheit. Eine reformierte DDR sollte für Arbeiter*innen in Westdeutschland attraktiver werden, und wenn dann dort die SPD die Bundestagswahlen 1957 gewinnen würde, wäre der Weg zur Einheit unter demokratisch-sozialistischen Vorzeichen frei. Doch es war zu spät. Ulbricht saß wieder fest im Sattel und ließ die aufmüpfigen Intelligenz kaltstellen. Das Ringen um die politische Linie in philosophischen Fragen entschied die Parteiführung für sich. Die Folge war eine schleichende Erstarrung und weitere Ideologisierung des Marxismus. Die SED hatte kein Interesse an frischen Impulsen von außen. Für sie sollte die Philosophie eine parteiische Legitimationswissenschaft sein. Etliche Intellektuelle verloren ihre Posten und Privilegien, manche verließen das Land, einige wurden politisch kaltgestellt und in die Provinz versetzt. Mit am härtesten traf es Harich, der in einem Schauprozess zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Da er – nach eigener Aussage unter Androhung der Todesstrafe – gegen einige Mitangeklagte aus dem Aufbau-Verlag ausgesagt hatte, galt er späterhin stets als Kollaborateur. Insbesondere der ebenfalls inhaftierte Verlagsleiter Walter Jankasollte einen lebenslangen Groll gegen Harich entwickeln.
Als Harich Ende 1964 vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, war die Welt eine andere geworden. Deutschland wurde nun durch die Mauer geteilt, die DDR befand sich ein einem ökonomischen und sozialistischen Aufschwung, während im Westen die Studierendenbewegung begann die alten Institutionen zu hinterfragen. Harich lehnte das Angebot ab, in die Bundesrepublik zu gehen. Als Kommunist sah er seinen Platz in Ost-Berlin, auch wenn ihm die Partei hier das Leben schwermachte. Ihm wurde verwehrt, jemals wieder an einer Universität lehren zu dürfen. Stattdessen betraute man ihn mit klassischer deutscher Philosophie, mit Ludwig Feuerbach und Jean Paul. Hierzu durfte er auch ein wenig publizieren. Doch das genügte ihm nicht. Er wollte sich einmischen, den Marxismus mit der Zeit gehen lassen, aktuelle Fragen aufgreifen und diskutieren. Im Unterschied zu 1956 machte er nun jedoch alles öffentlich und transparent, schickte seine Konzepte, Eingaben und Ideen an SED-Funktionäre im Sinne unverlangter Politikberatung. Hier zeigte man jedoch kein Interesse daran. Harich wurde immerhin gestattet, viele seiner Überlegungen im Westen zu veröffentlichen.
Frühes Interesse für die ökologische Frage
Wichtig für ihn wurde bald die ökologische Frage. Harich rezipierte den ersten Club-of-Rome-Berichtvon 1972 und ähnliche Texte aus dem Westen. Das brachte ihn zum Umdenken. Er war damit einer der ersten deutschen Marxisten, die sich der Wachstumsfrage widmeten. Einen Kapitalismus ohne Wachstum hielt er für ausgeschlossen, ein Kommunismus ohne Wachstum hingegen sei möglich, erfordere aber eine radikale Revision des Marxismus. Nötig sei eine Abkehr vom alten Ideal des materiellen Wohlstandskommunismus’ und eine Hinwendung zu einer globalen kommunistischen Ökodiktatur. Nur diese werde in der Lage sein, die Menschheitsprobleme zu lösen, da nur zentralistische Institutionen so planen könnten, dass alles gerecht und auf kurzen Wegen verteilt würde und dass nur so viel hergestellt würde, wie benötigt werde. Harich wurde daraufhin als «Öko-Stalinist» verunglimpft, was Unsinn ist. Weder plädierte er für willkürlichen Terror, noch für Massenerschießungen, Gulag, oder eine nachholende Industrialisierung ohne Rücksicht auf Umwelt und Menschenleben, was zentrale Wesensmerkmale des Stalinismus waren. Vielmehr ging es ihm darum, ein Maximum an Ressourcen und Freiheiten zu retten, bevor die Menschheit ihre Lebensgrundlagen vollends zerstört hat. Er selbst reagierte auf den Vorwurf so: «Der Kapitalismus rationiert die Gebrauchsgüter auch, mittels der Preise, und das heißt: Er rationiert sie ungerecht, nämlich so, daß es den Reichen nach wie vor unbenommen bleibt, in allen Genüssen, Vergnügungen und Lastern zu schwelgen, während die Massen den Gürtel enger schnallen müssen.» Dem zog er eine egalitäre Ökodiktatur vor. Nach dem Ende des Realsozialismus revidierte er dieses Modell, wandte sich von diktatorischen Konzepten ab und rätedemokratischen Modellen zu.
Mindestens missverständlich war seine Rolle in der Nietzsche-Debatte Ende der 80er Jahre, wo er sich mit Vehemenz dagegen wehrte, dass dieser Philosoph in der DDR verlegt werden sollte. Das Ganze spielte sich vor dem Hintergrund einer generellen Änderung in der SED-Kulturpolitik ab. Man wollte sich das nationale Erbe von Luther bis Bismarck aneignen. Harich war nicht per se dagegen, sah bei Nietzsche aber eine klare Grenzüberschreitung. Seiner Meinung nach sollte man lieber Feuerbach, Jean Paul und vor allem Lukács würdigen, statt den Vordenker des Faschismus zu rehabilitieren. Harich geriet wieder zwischen die politischen Fronten. Durch sein vehementes Nein, das in der Debatte allerdings auch verkürzt dargestellt wurde, geriet er erneut ins Abseits. Sein aufbrausendes Agieren diskreditiere ihn zudem vollends. Wenig später, im Herbst 1989, plädierte Harich für eine schnelle deutsche Wiedervereinigung unter demokratisch-sozialistischer Ägide, entmilitarisiert und mit Blockneutralität. Seine Forderungen verhallten abermals.
Gespalten war nach 1990 sein Verhältnis zur PDS. In deren Ältestenrat saß Walter Janka, 1956 «Mitverschwörer» im Aufbau-Verlag. Er hatte Harich ab den sechziger Jahren als Verräter bezeichnet und ihn in seinem Erinnerungsbuch «Schwierigkeiten mit der Wahrheit» 1989 nochmal öffentlich in dieser Weise angeklagt. Harich wehrte sich mit seinem Buch «Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit», doch seinen schlechten Ruf wurde er nicht mehr los, auch wenn er in den wenigen Jahren bis zu seinem Tod 1995 mehrfach erfolgreich vor Gericht um seine Sicht der Dinge kämpfte. Daneben setzte er sich in der «Alternativen Enquete-Kommission» für eine versöhnende Aufarbeitung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte ein und trat dann kurz vor seinem Tod doch noch in die PDS ein. Als Kommunist wollte er nicht ohne Parteibuch aus dem Leben scheiden.
Harichs Nachlass wurde nach dessen Tod von seiner Witwe ins Archiv nach Amsterdam verbracht. Dort lagerten die Akten, bis der Politologe Andreas Heyer im Jahr 2012 damit begann, sie zu sichten, zu sortieren und schließlich herauszugeben. Zum 90. Geburtstag 2013 erschien der erste Band der Nachlassreihe. Zehn Jahre und zwanzig Bücher später liegt nun ganz frisch der letzte Band der Edition vor, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt wurde. Damit ist es möglich, den vielleicht interessantesten aller DDR-Philosophen neu zu lesen und zu entdecken. Nicht nur für Forschende zur DDR-Geschichte oder zur politischen Theorie ist dies eine Fundgrube. Auch im Rahmen der Wachstumsdebatten unserer Tage lohnt die Auseinandersetzung mit den Ideen des wohl ersten Öko-Leninisten der Welt.
Hinweise zum Weiterlesen
- Amberger, Alexander: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014.
- Harich, Wolfgang: Schriften aus dem Nachlass, herausgegeben von Andreas Heyer, 20 Bände, erschienen 2013-2023.
- Heyer, Andreas: Studien zu Wolfgang Harich, zweite, völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, 2016.
- Prokop, Siegfried: 1956 – DDR am Scheideweg: Opposition und neue Konzepte der Intelligenz, Berlin 2006.