Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Arbeit / Gewerkschaften - Migration / Flucht - Gesellschaft der Vielen Streik-Revue 73/93/23

Wilder Streik! Hungerstreik! Megastreik! Über getrenntes Erinnern und gemeinsame Erfahrungen

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Wenn wir etwas Revue passieren lassen, dann lassen wir es in Gedanken noch einmal an uns vorbeiziehen. Wir erinnern uns intensiv. Ein solches intensives Erinnern wollen wir mit dem Projekt «Streikrevue 73/93/23» initiieren. Zwei Streik-Jubiläen, aber zwei weitgehend getrennte Gedenken: Sowohl die migrantischen Streiks in der BRD im Jahre 1973 als auch die Kämpfe ostdeutscher Arbeiter*innen von 1993 jährten sich im Sommer 2023. Erinnert wurde auf ganz verschiedene Weise und ohne offensichtlich wechselseitigen Bezug. Genau das wollen wir mit diesem Projekt thematisieren: Haben diese Streiks etwas miteinander zu tun, außer, dass es sich um Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit handelt? Welche Gruppen haben hier gekämpft, was sind Unterschiede, was sind Ähnlichkeiten, was sind Kontinuitäten? Welche Bezüge lassen sich zwischen den Streikjahren 1973/1993/2023 herstellen und was bedeuten solche Bezüge politisch in der Gegenwart?

Lasst uns, so die Idee, diese beiden Jubiläen zusammenbringen und in Bezug zur Gegenwart setzen. Lasst uns nach möglichen Verbindungslinien fragen: Zwischen dem wilden Streik bei Ford, Pierburg und vielen weiteren Betrieben 1973, dem Hungerstreik in Bischofferode 1993 als Symbol für die Kämpfe ostdeutscher Arbeiter*innen nach der Wende, und dem Megastreik 2023 als Ausdruck neuer Arbeitskämpfe in Verkehr, öffentlichem Dienst, Pflege, Service, Gig-Economy, Logistik und Industrie in unserer durch multiple Krisen gekennzeichneten Gegenwart.

Die Ford- und Pierburg-Streiks von 1973 und der Hungerstreik der Kali-Bergkumpel in Bischofferode 1993 stehen symbolisch für Konjunkturen besonders intensiver Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit. 1973 endeten mit Ölkrise, Rezession und Anwerbestopp die Zeit des sozialdemokratisch geprägten Klassenkompromisses, das Regime des Fordismus und die klassische Gastarbeiterära. In diese Zeit fielen heftige Arbeitskämpfe in ganz Deutschland und Europa. 1993 schlugen in Ostdeutschland die ökonomischen und sozialen Folgen der deutschen Vereinigung voll durch. Die Privatisierung der ostdeutschen Industrie und Abwicklung zahlreicher Betriebe durch die Treuhand führte zu massiver Arbeitslosigkeit. Auch hier drückte sich Widerstand in einer Welle heftiger und ausdauernder Streiks und Proteste aus. 2023 befinden wir uns, nach der Corona-Krise, mutmaßlich in einer erneuten Phase der Stagflation und erleben eine Welle neu aufflammender Streikbewegungen: in der Pflege, den Krankenhäusern, der Gig-Economy, im Service, der Logistik, im öffentlichen Dienst, in der Industrie.

Getrennte Gedenken  

Welches Gedenken fand dieses Jahr angesichts der beiden Jahrestage statt? An die 73er-Streikwelle erinnerten zahlreiche linke, migrantische, aktivistische und gewerkschaftliche Gruppen in Westdeutschland, vor allem in NRW, wo das Zentrum der Streikbewegung gelegen hatte. Es gab Veranstaltungen, Konferenzen, Medienbeiträge. In der Geschichte der Migration in Deutschland haben die Streiks von 1973 mittlerweile einen festen Platz. Zwar sind sie und die Geschichte der migrantischen Kämpfe nach 1945 insgesamt noch weit entfernt davon, integraler Bestandteil der kollektiven Erinnerung der deutschen Gesamtgesellschaft zu sein. Außerhalb einer aktivistisch interessierten Szene und der privaten Kreise derjenigen, die persönliche Erinnerungen an diese Ereignisse haben, wird man wohl mit Verweis auf den Ford- oder Pierburgstreik eher ein Achselzucken ernten. Aber: Die beharrliche Archiv-, Forschungs- und Geschichtsarbeit der zweiten und dritten Generation der letzten 20 Jahre trägt Früchte. In der viel gelobten Dokumentation «Liebe, D-Mark und Tod» von Cem Kaya, sind, um nur ein Beispiel zu nennen, die Kämpfe in Ford und Pierburg ein tragendes Kapitel in einer Geschichte migrantischer Selbstbehauptung in der Bundesrepublik. In der kollektiven Erinnerung zumindest eines Teils der postmigrantischen Gesellschaft umgibt die Kämpfe von 1973 eine Aura von widerständiger Coolness.   

An den Hungerstreik von Bischofferode, der ebenfalls im Sommer, genau 20 Jahre nach den Streiks von Ford, Pierburg, Hella stattfand, erinnerte man sich dieses Jahr, wenn überhaupt, fast ausschließlich im Osten. Eine MDR-Dokumentation, einige Artikel über die Wanderausstellung «Schicksal Treuhand – Treuhand Schicksale», die in Thüringen gezeigt wurde, Medienbeiträge. Unser Eindruck: Trotz des runden Jubiläums fand wenig statt – fast so, als wäre der Zeitpunkt irgendwie falsch oder als sei man gerade müde, schon wieder über die alten Geschichten zu reden.

Stehen beim Gedenken an Pierburg und Ford der Mut, die Solidarität und der Kampfeswille der Beteiligten im Zentrum, so haftet dem Streik von Bischofferode heute wohl eher eine Aura der Vergeblichkeit und der Niederlage an. Das hat vermutlich weniger mit den Ereignissen selbst zu tun als mit den Konjunkturen kollektiven Erinnerns. Auch der Ford-Streik endete schließlich in einer Niederlage. Das ernüchternde Ergebnis steht aber weniger im Zentrum des Gedenkens: Denken wir an den Ford-Streik, spulen sich vor dem inneren Auge eher Bilder von mutigen Streikenden, von Werksbesetzungen und Tänzen, von der Euphorie der Solidarität ab. Bilder, die nun für Menschen der zweiten und dritten Generation — und heute neu nach Deutschland eingewanderten — einen Vorbildcharakter haben. Oder wie es im Hörspiel «Wenn der Damm bricht» von Mesut Bayraktar zum Ford-Streik heißt:

Was übrig bleibt, ist doch klar: Unser Selbstbewusstsein, ihre Angst.

Dieses heutige Bild ist nicht zufällig entstanden, sondern das Ergebnis kollektiver und kontinuierlicher Erinnerungsarbeit. Ein solches Bild muss politisch und kulturell produziert werden, und das braucht Zeit. Die ersten Arbeiten zur Streik-Konjunktur 1973 stammen aus den späten 1990er und frühen 2000er Jahren. Seitdem ist erinnerungspolitisch viel passiert. Kinder und Enkelkinder der ersten Gastarbeiter:innen-Generation erzählten die Geschichte der Migration in der Bundesrepublik immer wieder neu und eigneten sie sich an.

Eine solche nachhaltige Erinnerungsarbeit hat im Fall der Proteste gegen die Treuhand und die Privatisierung und Abwicklung der ostdeutschen Wirtschaft in den 1990er Jahren erst begonnen, sich zu formieren. Zum 30-jährigen Jubiläum von 1989/90 haben kritische Stimmen verstärkt auf die sozialen Verwerfungen und deren Folgen in Familien und Communities sowie auf die (rassistische) Gewalt der 1990er Jahre hingewiesen. Initiativen und Projekte wie Aufbruch Ost oder Treuhand Techno erzählen auch Geschichten von Kämpfen gegen den Kahlschlag der DDR-Industrie. Dieses kritische Erinnern könnte ein erster Schritt auf dem Weg sein, noch stärker an die widerständigen, mutigen und kämpferischen Aspekte der ostdeutschen Geschichte der 1990er Jahre zu erinnern. Wenn das diesjährige, 30-jährige Jubiläum nicht der richtige Augenblick ist, braucht es vielleicht schlicht mehr Zeit?           

Dieses Projekt soll dazu einen weiteren Anstoß geben und eine Einladung formulieren, die Streiks von 1973 und von 1993 als Teil einer kollektiven Geschichte des Widerstands zu erzählen. Dass zwei zentrale Ereignisse der deutschen und europäischen Geschichte der Arbeit bisher ohne Bezug zueinander erinnert und diskutiert wurden, erschien uns als verpasste Chance. Es liegen schließlich auch Gemeinsamkeiten auf der Hand: Etwa, dass jeweils besonders marginalisierte Teile der Arbeiterklasse zu unorthodoxen Aktionsformen wie wilden oder spontanen Streiks griffen, weil der gewerkschaftlich organisierte Kampf als Mittel ausfiel oder nicht die gewünschte Wirkung erzielte.

Gemeinsames Erinnern

Gibt es weitere Gemeinsamkeiten? Und könnte gemeinsames Gedenken neue politische Solidaritäten in der Gegenwart entstehen lassen? Mit solchen Fragen im Kopf haben wir Menschen aufgesucht, die an den Streiks von 73/93/23 teilgenommen haben. Ergebnis dieser Suche sind auch drei Videos, die Daniel Poštrak gedreht hat. Er ist nach Lippstadt gefahren, um mit Irina Vavitsa zu sprechen, die 1973 bei Hella gestreikt hat. Er war in Bischofferode, wo er Gerhard Jüttemann interviewt hat, den ehemaligen Betriebsrat und Teilnehmer am Streik im Kalibergwerk. Er hat in Berlin Zeynep Karlıdağ getroffen, die bei Gorillas in Berlin den wilden Streik der Rider mitorganisiert hat.

Die Unterschiede zwischen den Geschichten und den Personen, die sie erzählen, werden in den Gesprächen schnell offensichtlich. Drei historische Phasen, drei Menschen mit unterschiedlichen Biographien. Und doch gibt es Ähnlichkeiten. Irina, Bernd und Zeynep sprechen von einer initialen Erfahrungen der Machtlosigkeit. Von einem zunächst vagen, dann immer stärkeren Gefühl der Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung. Man kannte die Sprache, die Spielregeln nicht, befand sich in einem fremden Land, einem plötzlich neuen System, fühlte sich enttäuscht, isoliert. Man spricht miteinander. Man stellt fest: Hier stimmt etwas nicht. Wir werden ungerecht behandelt. Aus dieser Situation entwickelt sich ein kollektiver Widerstandsgeist. Man tut sich zusammen, beschließt, sich zu wehren. Beflügelt vom Mut der Verzweiflung und aus dem Bewusstsein, nichts zu verlieren zu haben, entsteht eine Bewegung mit ungeahnter Dynamik.

Irina Vavitsa, Gerhard Jüttemann und Zeynep Karlidag sprechen auf je unterschiedliche, aber ähnlich berührende Weise von der Erfahrung der Solidarität. Von der plötzlichen oder allmählichen Selbstwirksamkeit, die sich einstellt, wenn man sich gemeinsam wehrt und erkennt, dass man nicht machtlos ist. Diese Selbstwirksamkeit ersetzt das vorherige Gefühl der Machtlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Fremdbestimmung. Man stellt fest, dass man Dinge verändern kann, dass man selbst dann etwas verändert, wenn man den großen Kampf am Ende verliert: «Wir haben gejubelt, wir haben gesagt: Nein, wir arbeiten nicht mehr. … Diese Entschlossenheit, … dieser Zusammenhalt, diese Wut – das kann man nicht beschreiben», sagt Irina Vavitsa.

Wenigstens dieses Gefühl der Solidarität scheint den hier vorgestellten Arbeitskämpfen bei allen offensichtlichen Unterschieden gemeinsam. Wie es entsteht – und was ihm entgegensteht – auch darum soll es in diesem Projekt gehen.

Es hat sich gelohnt zu kämpfen

Irina Vavitsa (Streik bei Hella 1973), Gerhard Jüttemann (Hungerstreik 1993 im Kalibergwerk Bischofferode) und Zeynep Karlidag (Arbeitskampf der Riders beim Lieferdienst Gorillas 2021) sprechen auf je unterschiedliche, aber ähnlich berührende Weise von der Erfahrung der Solidarität. Drei Portraits aus unterschiedlichen Arbeitskämpfen.

Mehr zur Streik-Revue 73/93/23

Der Streik bei Hella 1973

Details

Irina Vavitsa war 1973 in Lippstadt beim migrantischen Streik bei Hella dabei. Als ausländische Frau sei sie damals doppelt diskriminiert gewesen. Die Erfahrung des erfolgreichen Streiks hat sie tief geprägt. Sie engagiert sich bis heute bei der IG Metall.

Mit: Irina Vavitsa
Regie, Interview, Schnitt: Daniel Poštrak
Kamera: Moritz Gröne

Der Kampf um das Kalibergwerk Bischofferode 1993

Details

Gerhard Jüttemann ist ehemaliger Betriebsrat und Teilnehmer am Hungerstreik im Kalibergwerk in Bischofferode. Auch wenn das Ziel des Streiks, die Arbeitsplätze zu sichern, nicht erreicht werden konnte, war der Kampf wichtig und richtig.

Mit: Gerhard Jüttemann
Regie, Interview, Schnitt: Daniel Poštrak
Kamera, Drohne: Moritz Gröne

Der Arbeitskampf bei Gorillas 2021

Details

Zeynep Karlıdağ hat bei Gorillas in Berlin den spontanen Streik der Riders mitorganisiert. Die Energie der Solidarität habe die Gruppe beflügelt und schließlich Fahrer*innen bei anderen Firmen inspiriert, sich zu organisieren.  

Mit: Zeynep Karlıdağ
Regie, Interview, Schnitt: Daniel Poštrak
Kamera, Drohne: Moritz Gröne
Untertitel: Gaby Gehlen / Titelmanufaktur