In den 1990er Jahren, als die meisten der damals noch 15 EU-Mitgliedstaaten sozialdemokratisch regiert wurden, waren die Hoffnungen auf ein «soziales Europa» groß. Auch die Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses durch Gewerkschaften und linke Parteien fußte auf der Hoffnung, dass die europäische Integration ein sozialeres Europa hervorbringen werde.
Doch diese einst hochfliegenden Erwartungen sind seitdem immer wieder enttäuscht worden. Mit der Eurokrise und der Euro-Rettungspolitik ab 2009 ist die Hoffnung auf ein europäisches Sozialmodell endgültig der Enttäuschung gewichen. Damals wurden den sogenannten Troika-Ländern drastische Reformprogramme auferlegt, die sie zu einer rigiden Sparpolitik und Deregulierung der Arbeitsmärkte und Tarifverhandlungssysteme zwangen.
Derzeit jedoch sehen sich viele EU-Mitgliedstaaten mit ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert – Inflation, Arbeitslosigkeit, Armut und wachsende soziale Ungleichheit betreffen die gesamte EU. In diesem Kontext wurden zuletzt Stimmen lauter, die eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik fordern. Damit kommt es auch zur Wiederauflage der Frage, ob eine solche Politik in den engen Korridoren der europäischen Institutionen politisch durchsetzbar ist. Wo also liegen die Möglichkeiten und Grenzen der EU im Hinblick auf eigene sozialpolitische Maßnahmen?
Über die Veränderungen und die Zukunft der sozialen Dimension der Europäischen Union sprach Federica Drobnitzky von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dem Politikwissenschaftler und Experten für europäische Arbeits- und Sozialpolitik Felix Syrovatka.
FD: Die soziale Situation in den EU-Mitgliedstaaten weist gravierende Unterschiede auf: 2022 lag der Mindestlohn in Luxemburg bei 2257 Euro, in Portugal bei 823 Euro und in Bulgarien bei 332 Euro. Wie geht die EU mit diesen Ungleichheiten um?
FS: Erst einmal zeigen die unterschiedlichen Mindestlöhne ja weniger eine Ungleichheit mit Blick auf die eigentlichen Löhne, sondern weisen zuallererst auf einen Unterschied in der Wirtschaftskraft der Länder hin. Wir sehen unterschiedliche Produktionsniveaus, unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gleichzeitig unterschiedliche Lohnniveaus. Das heißt, dass die Wirtschaftsleistung in Kroatien schwächer ist als beispielsweise in Frankreich oder Deutschland. Und gleichzeitig bedeutet dies auch, dass das Niveau der Kaufkraft und der Löhne in Kroatien niedriger sind.
Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Seine jüngste Veröffentlichung ist das Buch «Neue Europäische Arbeitspolitik: Umkämpfte Integration in der Eurokrise» (Campus Verlag, 2022).
Das weist erst einmal auf ein Problem der EU und vor allem des Euroraums hin, nämlich die ungleiche Entwicklung zwischen den Mitgliedstaaten. Innerhalb des gemeinsamen Währungsraums existieren sehr verschieden konfigurierte Volkswirtschaften, die unterschiedlich miteinander verbunden sind und unterschiedliche Ausprägungen haben. Diese Differenz führt dazu, dass sie sich jeweils spezifisch entwickeln, also die länderinternen Inflationsraten voneinander abweichen. Dies ist ein Problem, dass übrigens damals auch zur Euro-Krise geführt hat.
Ungleiche Entwicklung in den Lohnniveaus, oder die Frage, ob es einen Mindestlohn oder Tarifverträge gibt – die EU hat das jahrzehntelang nicht wirklich interessiert. Bis vor Kurzem, als die europäische Mindestlohnrichtlinie durchgesetzt wurde, wurden Gewerkschaften, Tarifverträge und auch Mindestlöhne sogar eher negativ betrachtet. Die EU war der Meinung, dass sich die ungleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen durch den gemeinsamen Binnenmarkt wie durch unsichtbare Hand angleichen, es also zu Konvergenz-Prozessen kommen würde. Das änderte sich erst ab 2017, als mit der Europäischen Säule sozialer Rechte und der daran anschließenden Revision der europäischen Entsenderichtlinie, das in der COVID-19-Krise vereinbarte Kurzarbeitsprogramm SURE und dann natürlich die Mindestlohnrichtlinie. Aktuell wird sogar diskutiert, die europäische Betriebsräte-Richtlinie noch einmal zu überarbeiten. Die Kommission möchte bis Ende des Jahres einen ersten Entwurf für eine Revision vorlegen, die vor allem die Kompetenzen der europäischen Betriebsräte stärken soll. All dies sind Beispiele dafür, wie die EU versucht hat, die aktuellen Krisenprozesse sozialpolitisch zu adressieren. Ich habe diese Bemühungen als soziale Offensive der Europäischen Kommission betitelt.
FD: Die von Dir erwähnte Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) wurde 2017 von den Institutionen und Mitgliedstaaten der EU ins Leben gerufen – sie stützt sich auf 20 sozialpolitische Grundsätze für zukünftige Reformen. Eine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten blieb seither jedoch unverbindlich. Erst beim Sozialgipfel in Porto vor zwei Jahren definierten die Mitgliedsstaaten erstmals drei verpflichtende Kernziele: Bis 2030 sollen mindestens 78% der EU-Bevölkerung einen Arbeitsplatz haben und die Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen soll um mindestens 15 Millionen reduziert werden – eine ambitionierte, rechtlich jedoch abermals unverbindliche Erklärung. Bleibt diese Säule nicht in der Praxis Symbolpolitik?
FS: Die Säule wurde tatsächlich immer dafür kritisiert, dass sie Symbolpolitik bleibt. Einerseits stimmt dies sicherlich, weil die Säule soziale Rechte postuliert, die nicht einklagbar sind und somit aus sich heraus keine juristische Wirkung entfalten kann.
Auf der anderen Seite sind diese Rechte, und das können wir seit 2017 beobachten, zentraler diskursiver Anknüpfungspunkt für die Kommission geworden, um soziale Projekte zu legitimieren. Nur vor diesem Hintergrund bekam die EU-Mindestlohnrichtlinie eine politische Dimension. Die Europäische Säule Sozialer Rechte war auch, wie zuvor erwähnt, Anknüpfungspunkt für das Kurzarbeitsprogramm SURE, und sie wird sehr wahrscheinlich auch eine Referenz für die aktuelle Überarbeitung der europäischen Richtlinie über Plattformarbeit sowie der europäischen Betriebsrat-Richtlinie sein. Sie bietet also den Rahmen, in dem die sozialpolitischen Projekte entwickelt werden. Da alle europäischen Mitgliedstaaten der ESSR zugestimmt haben, besitzen die sozialpolitischen Initiativen bereits eine gewisse «Vorschusslegitimität».
FD: Lass uns noch einmal auf die von Dir erwähnte EU-Mindestlohnrichtlinie zurückkommen, die letztes Jahr im Oktober verabschiedet wurde. Würdest Du sagen, dass diese und andere sozialpolitische EU-Reformen eine Verschiebung innerhalb der EU symbolisieren, nämlich weg von einer neoliberalen hin zu einer sozialeren Politik?
FS: Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube schon, dass die Mindestlohnrichtlinie, die Revision der Entsenderichtlinie, in Teilen auch das SURE-Paket und sehr wahrscheinlich auch die anstehende Revision der Betriebsräterichtlinie eine Stärkung gewerkschaftlicher Machtressourcen darstellen. Nimmt man diese als Maßstab für die Bewertung der Initiativen, dann kann man davon sprechen, dass sie einen marktbegrenzenden Charakter tragen und in diesem Sinne auch als sozial bezeichnet werden können. Dass Gewerkschaften und Tarifverträge nicht mehr als Wachstumshemmnisse gelten, sondern als zentrales Element zur Prävention von Armut, ist – wie es Thorsten Schulten und Torsten Müller ausgedrückt haben – ein diskursiver Paradigmenwechsel.
Die Idee eines europäischen Diskursraums mag schön sein, wird jedoch schon durch die vielen verschiedenen Sprachen erschwert. Er ist eigentlich nur für eine kleine Elite zugänglich.
Zugleich darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese Initiativen weiterhin stark eingeschränkt sind. Einerseits formal, also durch die Form, wie sie in der EU-Richtlinie umgesetzt werden. Nur weil die Richtlinie durch den Ministerrat gegangen ist, heißt das nicht, dass die Richtlinie in den Mitgliedstaaten genauso umgesetzt wird. Ganz im Gegenteil zeigen erste Studien etwa über die Revision der Entsenderichtlinie, dass die nationale Umsetzung ein entscheidender Filter ist, um Richtlinien abzuschwächen. Insofern kommt es immer auch darauf an, wie die Richtlinien ins nationale Recht – und damit letztlich auf den Druck und das Kräfteverhältnis auf nationaler Ebene – übersetzt werden.
Andererseits ist diese neue Politik, die wir nicht nur in der Arbeits- und Sozialpolitik, sondern auch in der Wettbewerbs- und Industriepolitik sehen, immer eingebettet in ein marktschaffendes institutionelles Gebilde. Der Binnenmarkt und die Währungsunion existieren ja in ihrer jetzigen Form weiter und beschränken so die Wirkung marktbegrenzender Politikmechanismen. Zwar sind die Maastricht-Kriterien derzeit noch wegen der COVID-19-Krise ausgesetzt und eine Reform soll verhandelt werden, jedoch sieht es momentan nicht danach aus, dass es zu einer fundamentalen Reform der Währungsunion kommen wird. Ein soziales Europa benötigt jedoch eine Revision der Verträge und eine Abkehr von jenen Elementen, die bisher eine markschaffende Politik nicht nur privilegierten und bestärkten, sondern sogar unter Androhung von Sanktionen verordneten.
FD: Dein Buch Neue Europäische Arbeitspolitik: Umkämpfte Integration in der Eurokrise ist letztes Jahr im März erschienen. Hierin beschreibst Du die EU-Arbeitspolitik in den Jahren 2009 bis 2017. Was waren die Treiber hinter dieser neuen EU-Arbeitspolitik?
FS: In meinem Buch konnte ich zeigen, dass die europäische Arbeitspolitik in der Eurokrise sehr stark durch wirtschaftspolitische Prämissen geprägt war. Es ging der EU primär darum, die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt zu stärken. Und dies war nur möglich, indem die «Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften gebrochen» wurde, wie die EU-Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen (DG ECFIN) in ihrem Labour Development Report aus dem Jahr 2012 analysierte.
Was im Nachgang oft vergessen wird, ist, dass es zu Beginn der Eurokrise nicht klar war, wie die Krise gerahmt werden würde. Es gab damals massive Auseinandersetzungen über die Frage, was eigentlich die Ursachen der Eurokrise seien. Auf der einen Seite gab es die südeuropäischen Länder um Frankreich, die die starke Exportorientierung Deutschlands kritisierten und sich für eine Umverteilung von Geldern – etwa über Eurobonds – stark machten. Dagegen opponierte jedoch eine Fraktion aus nordeuropäischen Ländern, die die Krise vor allem in der Wettbewerbsschwäche der südeuropäischen Länder begründet sahen. Es war dann die EU-Kommission, die zwischen den Mitgliedstaaten vermittelte und mit der EU-2020-Strategie ein gemeinsames Krisennarrativ etablierte, das jenem des nordeuropäischen Blocks weitgehend gleichkam.
Zentral war aber, dass die Kommission sich dabei auf den Lissabonner Vertrag stützen konnte, worin als Ziel festgelegt wurde, die EU zum wettbewerbsfähigsten Raum der Welt zu machen. Diesem Vertrag hatten auch die südeuropäischen Mitgliedstaaten zugestimmt. Wie ich herausarbeiten konnte, war dieser strategische Zug, wie auch die Ausarbeitung der EU-2020-Strategie, eng mit den organisierten Interessen transnationaler europäischer Unternehmen abgestimmt. Insbesondere der European Roundtable of Industrialists (ERT), aber auch BusinessEurope, haben hier eng mit der EU-Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen zusammengearbeitet. So gab es gemeinsame Workshops und Veranstaltungen, die vom ERT organisiert wurden und an denen sich hohe Beamt*innen der Kommission beteiligten. Das Strategiepapier Vision2025 beispielsweise gleicht in vielen Punkten der EU-2020-Strategie.
FD: Und welches Narrativ hat sich hieraus für die Krise ergeben?
FS: Es hat sich ein Narrativ durchgesetzt, wonach die Krise mit der fehlenden preislichen Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Mitgliedsstaaten begründet wurde. Als zentraler Hebel der Anpassung wurde daher keine Industriepolitik oder eine andere Form der Wirtschaftsförderung gesehen, sondern die Löhne. Diese seien in Südeuropa zu hoch, weshalb diese Länder auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig seien. Die Konsequenz waren drastische Kürzungs- und Strukturprogramme. In Griechenland wurden etwa das Tarifvertragssystem dezentralisiert und die Aushandlung des Mindestlohns den Sozialpartner*innen entrissen. Aber auch in Staaten, die weniger stark im Fokus der Krise und somit keine offiziellen «Troika-Länder» waren, übte die EU massiven Druck aus. So wurde Italien durch die Europäische Zentralbank de facto dazu gezwungen, betriebliche Abweichungen von Tarifverträgen gesetzlich abzusichern, da diese sonst keine Staatsanleihen über die Sekundärmärkte aufgekauft hätte.
Zoomt man aus diesen Länderbeispielen etwas raus, dann ergibt sich ein Zusammenspiel unterschiedlicher Instrumente und Prozesse, die darauf zielen, die Arbeitsbeziehungen und damit das Lohnverhältnis zu regulieren. Entsprechend spreche ich in meinem Buch davon, dass es sich um eine partikulare Europäisierung des Lohnverhältnisses handelt und in der Eurokrise ein arbeitspolitisches Regime etabliert wurde. Dieses arbeitspolitische Regime nenne ich dann Neue Europäische Arbeitspolitik.
FD: Die europäische Linke sieht als grundsätzliches Problem, dass die EU zwar ein supranationales Gebilde ist, in dem die Arbeitgeber*innen gut vernetzt sind, gewerkschaftliche und aktivistische Politik aber überwiegend im nationalstaatlichen Rahmen stattfindet. Kann man diese strukturelle Benachteiligung noch überwinden?
FS: In der Frage stecken letztlich zwei Fragen – nämlich einerseits nach der europäischen Zivilgesellschaft und andererseits nach der europäischen Interessenvermittlung.
Erstens ist es ein allgemeines Problem europäischer Politik. Denn es gibt nur eine sehr gering ausgeprägte europäische Zivilgesellschaft. Von Gramsci wissen wir aber, dass Hegemonie, das heißt vor allem der Konsens zur herrschenden Politik, in der Zivilgesellschaft hergestellt wird. Für die meisten Bürger*innen ist die europäische Zivilgesellschaft jedoch hochgradig durch die Nationalstaaten fragmentiert. Europäische Politik ist immer durch nationale Medien, Politik, etc. vermittelt. Oftmals führt das dazu, dass positive Politikergebnisse der EU in den Nationalstaaten als Ideen der Regierungen verkauft werden. Ein gutes Beispiel bietet gerade Irland, das aufgrund der Mindestlohnrichtlinie seinen Mindestlohn zu einem Living Wage, also einem existenzsichernden Lohn reformiert. In der Presseberichterstattung und der Regierungskommunikation war von der Richtlinie jedoch nie die Rede, und man musste schon wissen, dass am selben Tag, an dem die Reform in Irland verkündet wurde, der EU-Ministerrat der Richtlinie in Brüssel mit großer Mehrheit zustimmte.
Die Idee eines europäischen Diskursraums mag schön sein, wird jedoch schon durch die vielen verschiedenen Sprachen erschwert. Er ist eigentlich nur für eine kleine Elite zugänglich. Wenn man ehrlich ist, dann liegt der primäre politische Erfahrungsraum für die meisten Menschen sogar auf der regionalen Ebene. Das ist ein Problem für die EU und begrenzt meiner Meinung nach in den Augen vieler Bürger*innen auch die Legitimität ihrer Politik, ermöglicht jedoch zugleich, dass organisierte Interessen einfacher und leichter Zugang zu politischen Entscheidungen bekommen.
Über die EU wird eine Menge an Geldern verteilt – denken wir nur einmal an NextGenerationEU. Warum gibt es hier beispielsweise keine Tariftreuevorgaben?
Und damit sind wir beim zweiten Teil der Frage. In meinem Buch zeige ich, dass die weit verbreitete Denkweise, nämlich dass gewerkschaftliche Akteur*innen einfach nur genauso gut auf EU-Ebene organisiert sein müssen wie die Kapitalseite, wahrscheinlich ins Leere läuft. Ich glaube auch, dass die Gewerkschaften nach den Jahren der Eurokrise Konsequenzen gezogen haben. Wie ich am Beispiel der gescheiterten Wettbewerbsräte zeigen konnte, kam es ab 2014 zu einem Strategiewechsel und einer stärkeren Koordinierung nationaler Aktivitäten. Insbesondere in den großen EU-Mitgliedstaaten verfügen die Gewerkschaften zumeist (noch) über starke Einflusskanäle. Die EU-Ebene sollte also nicht zentraler Einflussort sein, sondern vielmehr die nationale und subnationale Ebene, wo sich die Gewerkschaften auf gute Kontakte und institutionalisierte Kanäle stützen können. Hier verfügen die Gewerkschaften über institutionelle Machtressourcen, die es meines Erachtens zu nutzen gilt, anstatt sich an der Kommission die Zähne auszubeißen. Das heißt natürlich nicht, dass die Gewerkschaften die europäische Ebene vernachlässigen sollen, jedoch sollte der Schwerpunkt europäischer Interessenvermittlung eben nicht auf der Kommission liegen. Das Beispiel der Wettbewerbsräte hat gezeigt, dass diese Form der Interessensvermittlung erfolgreich ist, insbesondere wenn sozialdemokratische Parteien in den Regierungen der großen EU-Staaten zu finden sind.
FD: Egal ob Finanzkrise 2008/09, Flüchtlingskrise 2015, COVID-19-Pandemie 2020-22 oder Klima- bzw. digitaler Wandel: Die Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit und der Zukunft zeigen mehr als deutlich, dass die EU nur dann zukunftsfähig sein wird, wenn sie sich auch um die sozialen Rechte der Bürger*innen kümmert. Wie soll aus Deiner Sicht ein Fahrplan hin zu einem sozialeren Europa aussehen?
FS: Aus meiner Sicht sollte solch ein Plan ähnlich wie ein Haus aufgebaut sein.
Das Fundament dieses Hauses besteht erst einmal darin, die EU-Verträge zu verändern beziehungsweise zu ergänzen. In den europäischen Verträgen ist eine negative Integrationslogik tief verankert, die – vereinfacht gesprochen – sagt, wir bauen alle Handelsbeschränkungen ab und schaffen gleichzeitig das Prinzip gegenseitiger Anerkennung staatlicher Regulierung. Insofern kommt es dazu, dass unterschiedliche nationale Regulierungsniveaus nebeneinander existieren, was zu einem massiven Druck auf jene Länder führt, deren Regulierung relativ stark ist. Das führt natürlich zu einer Negativspirale. Denn die unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten mit ihren unterschiedlichen Wachstums- oder Akkumulationsregimen und Regulations-Modi werden automatisch in Konkurrenz zueinander gesetzt. Die negative Integrationsdynamik und das Primat der Marktintegration in den Verträgen muss m.E. abgeschafft oder wenigstens durch eine soziale Fortschrittsklausel korrigiert werden. Diese müsste so gestaltet sein, dass die sozialen Grundrechte sowie die arbeitspolitischen Errungenschaften in den europäischen Mitgliedstaaten vor den Binnenmarkt-Freiheiten geschützt würden. Und dafür wäre es notwendig, das Fortschrittsprotokoll in europäisches Primärrecht zu integrieren. Ziel müsste es hier vor allem sein, die Überkonstitutionalisierung des Binnenmarkts aufzuheben und die Marktfreiheiten zu Gleichheitsrechten zurückzubauen. Die Fortschrittsklausel würde bedeuten, dass im Konfliktfall soziale Rechte gegenüber Gleichheitsrechten höher bewertet werden und nicht nur der negativen Integrationsdynamik entgegenwirken, sondern auch Eingriffe – beispielsweise in die Tarifautonomie oder in bestehende nationale soziale Standards zu Ungunsten der Arbeitnehmer*innen – verhindern.
Der zweite Punkt, der ebenso noch zum Fundament des Hauses gehört, ist die sozial- und arbeitspolitische Ergänzung oder, noch besser, die dauerhafte Aussetzung der Maastricht-Kriterien. Es geht um eine Veränderung der Verträge, und das heißt, dass die Maastricht-Kriterien durch eine sozial- und arbeitspolitische Zielsetzung in einer gewissen Weise ergänzt werden. Wenn man die Maastricht-Kriterien nicht gänzlich abschaffen kann, wäre es eine progressive Möglichkeit, die arbeits- und sozialpolitische Ausgaben aus den staatlichen Defiziten herauszurechnen, ähnlich wie es aktuell mit Investitionen in Grüne oder digitale Technologien diskutiert wird. Damit wären diese Ausgaben nicht mehr Gegenstand der Defizitverfahren und müssten dann auch letztendlich aus den Empfehlungen bzw. Vorgaben der EU ausgeklammert werden, wodurch natürlich der Anpassungsdruck deutlich gemindert werden könnte.
Der dritte Punkt – also die Wände des Hauses – wären, dass die Europäische Säule Sozialer Rechte, in Ergänzung zur Grundrechtecharta, ins europäische Primärrecht überführt und dadurch die darin definierten sozialen Rechte für alle Mitgliedstaaten bindend gemacht würden. Darauf aufbauend benötigt es eine solidarische Koordinierung der Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik der Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund ihrer makroökonomischen Entwicklung. Hierfür würde ich eine Reaktivierung des makroökonomischen Dialogs mit den Tarifpartnern vorschlagen, also ein zentrales Koordinierungsgremium für eine solidarische Arbeits- und Lohnpolitik in Europa. Der im Jahr 2000 gegründete makroökonomische Dialog ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, weil sich die Kräfteverhältnisse in Europa seither eher zu Ungunsten einer europäischen Koordinierung entwickelt haben. Aber hier könnte der makroökonomische Dialog, der ja auch Teil des europäischen Semesters ist, gestärkt und als Entscheidungsgremium in den Mittelpunkt gestellt werden. Denn der makroökonomische Dialog ist zentral, weil die EU-Finanzminister*innen daran teilnehmen. Eine andere Möglichkeit wäre, über die Schaffung eines Koordinierungsgremiums eine solidarische Lohnpolitik zu machen, wo man sozusagen vor allem die Konfliktpartner*innen in ihrer Kompetenz stärkt, sich zu koordinieren.
Das Dach des europäischen Hauses würde sich viertens aus Beispielen zusammensetzen, wie die erwähnte Mindestlohnrichtlinie und die darin vorgesehene Förderung von Tarifvertragssystem konkretisiert werden könnten. Über die EU wird eine Menge an Geldern verteilt – denken wir nur einmal an NextGenerationEU. Warum gibt es hier beispielsweise keine Tariftreuevorgaben? Also dass diejenigen, die europäische Gelder bekommen, sich verpflichten, Tarifverträge anzuwenden beziehungsweise sogar tarifgebunden sein müssen. Auch die Schaffung einer europäischen Arbeitslosenversicherung oder eine dauerhafte Verstetigung einer europäischen Kurzarbeitsregelung wie das SURE-Paket wären hier sicherlich denkbare Projekte.
Die Eurokrise und ihre Bearbeitung haben diese ‹Sprengsätze› weiter verschärft und die gesellschaftlichen Dynamiken der Verunsicherung und sozialen Ungleichheit nochmals gestärkt.
All dies wären Möglichkeiten, ein solidarisches Europa für gute Arbeit aufzubauen. Aber dafür braucht es eine europäische Linke und starke europäische Gewerkschaften, die das durchsetzen können – gegen Lobby-Verbände, aber auch gegen einen europäischen Raum, der sehr stark durch ebendiese wirtschaftsorientierten Überlegungen und Strukturen gekennzeichnet ist.
FD: Das Erstarken des rechten Randes ist in ganz Europa eine Realität; dies haben die Parlamentswahlen in Italien und Griechenland jüngst abermals verdeutlicht. Kann die Stärkung sozialer Rechte in Europa helfen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken?
FS: Der Aufstieg der radikalen Rechten ist ein komplexes Phänomen und hat sicherlich auch andere Ursachen als das Fehlen einer sozialpolitischen Integration in Europa. Jedoch würde ich schon der These zustimmen, dass die wettbewerbsstaatliche Integrationsweise und insbesondere die autoritäre Bearbeitung der Eurokrise durch die EU zum Aufstieg der radikalen Rechten beigetragen haben. Denn der einseitige, marktschaffende europäische Integrationsprozess hat gefördert, dass sich eine «neue politische Ökonomie der sozialen Ungleichheit und Verunsicherung» etablieren konnte. Dies ist ein Begriff von Hans-Jürgen Bieling, der damit die Verallgemeinerung und Dynamisierung von Abstiegs- und Verlustängsten, sozialer Verunsicherung und individueller Ohnmachtsgefühle im Kontext der seit den 1980er Jahren existierenden gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungsprozesse beschreibt. Diese Verallgemeinerung ist eng mit dem Aufstieg sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Exklusion infolge einer Deregulierung von Arbeitsverhältnissen verbunden, die nicht zuletzt durch die marktschaffende Form der europäischen Integrationsweise erzwungen wurde. Frank Deppe und Hans-Jürgen Bieling warnten schon 1996 in einem Aufsatz, dass diese Form der Integration durch das Binnenmarktprojekt und die Währungsunion zu «gesellschaftlichen Sprengsätzen» führen würden.
Die Eurokrise und ihre Bearbeitung haben diese «Sprengsätze» weiter verschärft und die gesellschaftlichen Dynamiken der Verunsicherung und sozialen Ungleichheit nochmals gestärkt. Die Neue Europäische Arbeitspolitik hat wichtige Institutionen des sozialen Ausgleichs und der Gerechtigkeit, wie etwa die Tarifautonomie, geschleift, und in einigen Ländern wie Griechenland sogar zerschlagen. Gerade in Südeuropa wurde die EU-Krisenbearbeitung als undemokratische Intervention zugunsten großer Kapitalfraktionen empfunden, was die Legitimität der EU insgesamt untergraben hat. Zugleich konnte gerade in Südeuropa – etwa in Griechenland, aber auch in Spanien – das Scheitern der Linken beobachtet werden, während in vielen größeren EU-Ländern – wie Frankreich, Italien, aber auch Deutschland – einen Niedergang der Sozialdemokratie zu sehen war.
FD: Wird es aufgrund des Aufstiegs der radikalen Rechten irgendwann «Europa – nein danke» heißen?
FS: Der Aufstieg der radikalen Rechten in der EU ist das Ergebnis einer komplexen Krise der Politik, zu der die wettbewerbsstaatliche Integrationsweise seit den 1980er Jahren beigetragen hat. Er bedroht nun diese Form der Integration und letztlich das europäische Projekt existenziell. Bereits heute erschwert die große Anzahl rechtsradikaler und rechtspopulistischer Abgeordneter die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament. Die Vielzahl an Regierungen mit rechtsradikaler Beteiligung führt dazu, dass formale Prozesse im Rat unter Druck geraten und der Minderheitenschutz die Verhandlungen erschwert. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Menschenrechte, Asyl- und Gleichstellungspolitik, aber eben auch für Sozial- und Arbeitspolitik. Insofern ist den Funktionär*innen bereits heute bewusst, dass die EU gerade im Sozialbereich mehr leisten muss. In einem Experten-Interview im Kontext meiner Dissertation sagte ein Mitarbeiter der Kommission zu mir: «Die EU muss endlich liefern, sonst wird sie bald nicht mehr sein». Und ich glaube, er hat Recht.
Dazu bedarf es jedoch nicht nur einzelner, bescheidener sozialpolitischer Initiativen, wie jetzt der Mindestlohnrichtlinie, sondern eines wirklichen Kurswechsels. Dieser umfasst eine Revision der Verträge sowie eine Reform des Binnenmarktes und der Währungsunion. Die Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel, wie sie der Europäischen Gewerkschaftsbund seit Jahren fordert, wäre sicherlich der erste wichtige Schritt; eine Revision bzw. Abschaffung der Maastricht-Kriterien und Integration der Europäischen Säule Sozialer Rechte in europäisches Primärrecht ein zweiter. Natürlich sehen wir bereits umfangreiche Verschiebungen, etwa in der Industrie-, Wettbewerbs-, und Klimapolitik. Von entscheidender Bedeutung wird jedoch sein, ob wir im nächsten Jahr eine Reform der Maastricht-Kriterien sehen und damit den Einstieg in eine wirkliche Reform der europäischen Integrationsweise.