Nachricht | Globalisierung - Migration / Flucht - Südosteuropa - Menschenrechte Menschenrechtverletzungen an der Westbalkan-Route

An den südöstlichen Grenzen Europas wird das Recht auf Asyl Stück für Stück beschnitten

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Zwei Brüder aus Pakistan leben in einem Flüchtlingslager in Bihać, Bosnien, nahe der kroatischen Grenze, 3.7.2018
Zwei Brüder aus Pakistan leben in einem Flüchtlingslager in Bihać, Bosnien, nahe der kroatischen Grenze, 3.7.2018 Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Geografisch liegt Serbien im Herzen der Westbalkanroute, die Flüchtende, Asylsuchende und Migrant*innen seit den frühen 2000er Jahren aufgrund der bewaffneten Konflikte in Irak und Afghanistan nutzen. Serbien grenzt an die EU-Staaten Kroatien, Ungarn und Rumänien und ist somit die letzte Etappe, die Geflüchtete und Asylsuchende bewältigen müssen, bevor sie die EU-Länder und deren Asylsysteme erreichen. Dort hoffen sie auf bessere Lebensperspektiven als in ihren Herkunftsländern und auf die Gewährung von Rechten, die ihnen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 zustehen. Zwischen 2015 und 2016 kamen mindestens 1,5 Millionen Menschen über die Westbalkanroute und wurden in die EU aufgenommen. Die meisten von ihnen hatten ein Anrecht auf internationalen Schutz (Syrer*innen und Iraker*innen, aber auch Somalier*innen, Sudanes*innen und Afghan*innen  u. a.).

Nikola Kovačević ist ein serbischer Menschenrechtsanwalt. Er erhielt 2021 den UNHCR-Nansen-Flüchtlingspreis für seinen Beitrag zur Entwicklung des serbischen Asylsystems und sein Engagement beim Dokumentieren illegaler Grenzpraktiken.

Statt jedoch ein gemeinsames Vorgehen in die Wege zu leiten, führte ein EU-Land nach dem anderen illegale Maßnahmen ein, wodurch es insbesondere an den europäischen Außengrenzen gehäuft zu Menschenrechtsverletzungen kam. Zweifelsohne gibt es Extremfälle einzelner Länder, die ihre ehemals humanen Asylsysteme vorsätzlich ausgehöhlt haben (wie zum Beispiel Ungarn),[1] allerdings finden die gröbsten Menschenrechtsverletzungen gegen Menschen auf der Flucht an den EU-Außengrenzen statt. Zu den menschenverachtenden Praktiken zählt die willkürliche Freiheitsberaubung von Ausländer*innen, die an Land- oder Seegrenzen abgefangen werden. Oft folgen darauf weitere Misshandlungen, einschließlich verschiedener Formen vorsätzlicher körperlicher und psychischer Gewalt (Tritte, Ohrfeigen, Schläge, der Einsatz von Polizeiknüppeln und Elektroschocks, Leibesvisitationen sowie der Einsatz von Pfefferspray, Polizeihunden usw.) und die unfreiwillige Rückführung, ohne dass damit verbundene Risiken (Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Strafe im Herkunftsland) oder die individuellen Umstände einzelner Personen eingeschätzt worden wären (Pushbacks sind die häufigste Form kollektiver Ausweisung).[2] Diese Menschen werden also ihres Rechts auf Einreise in das Hoheitsgebiet sowie ihres Rechts auf ein Asylverfahren beraubt. Außerdem wird ihnen die Möglichkeit vorenthalten, ihre unrechtmäßige Rückführung im Rahmen gesetzlich geregelter Verfahren anzufechten, bei denen sie von Rechtsvertreter*innen und Dolmetscher*innen unterstützt würden, die in einer den Geflüchteten verständlichen Sprache kommunizieren können. Seit der EU-Türkei-Vereinbarung von März 2016 wurde Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant*innen der Zugang zu Rechtshilfe an den EU-Außengrenzen verwehrt. Die Handvoll Menschenrechtsanwält*innen, die sich für sie einsetzen, sind kaum in der Lage, einen, mehrere, geschweige denn alle erwähnten Verstöße anzufechten.

Pushbacks sind die häufigste Form kollektiver Ausweisung

Die Rechtsstaatlichkeit befindet sich also in einer Krise und die Menschenrechte der Geflüchteten werden an den EU-Außengrenzen unzulänglich respektiert oder gewahrt und erfüllt. Darüber hinaus ergreifen viele Länder mittlerweile politische Maßnahmen, die im Wesentlichen darauf zielen, die Verfahren zur Prüfung des Geflüchtetenstatus in Drittstaaten auszulagern. Das erste Beispiel einer solchen Politik ist die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei, die anscheinend daran gescheitert ist, dass immer mehr Syrer*innen sich entschlossen, doch nach Europa zu gehen, nachdem die türkische Regierung einige Teile Syriens praktisch als «sicher» erklärt hatte. Das verheerende Erdbeben im Februar 2023, das Gebiete in der Türkei erschütterte, in denen seit 2011 mehrere hunderttausende syrische Geflüchtete leben, ist ein weiterer Grund.

«Sichere Drittstaaten» erledigen die Drecksarbeit

Die falsche und unhinterfragte Einstufung der Türkei, Serbiens und anderer Länder mit dysfunktionalen und ineffektiven Asylsystemen als «sichere Drittstaaten» stellt zudem einen formalen Ansatz dar, durch den Grenzverfahren in Länder außerhalb der EU verlagert werden sollen. Viele dieser Maßnahmen wurden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und anderen einschlägigen internationalen oder regionalen Vertragsorganen zum Schutz der Menschenrechte für unzulässig erklärt.[3] Die jüngste Nachricht, dass Albanien Auffanglager eröffnen wird, die Italien als Abfertigungsstelle dienen sollen, ist eines der neuesten Beispiele für die Bestrebungen von EU-Ländern, ihre Verantwortungen auf weniger entwickelte Länder mit strittiger Menschenrechtsbilanz abzuwälzen. Länder wie Albanien sind faktisch nicht in der Lage, eine Einwanderungspolitik zu betreiben, die den verschiedenen Ebenen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit gerecht wird, und es besteht die begründete Sorge, dass Tausende von Menschen auf der Flucht willkürlich festgehalten werden könnten. Das Gleiche gilt für Serbien sowie Bosnien und Herzegowina, die ebenfalls hinter verschlossenen Türen als potenzielle Kandidaten für die Verrichtung europäischer Drecksarbeit angeführt wurden.[4]

Egal welcher Weg eingeschlagen wird, er wird gegen die internationalen Menschenrechte verstoßen.

Dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die EU in der ersten Hälfte des Jahres 2024 schließlich die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verabschieden wird. Laut aktuellem Entwurf wird damit ein Rechtsrahmen eingeführt, der einen massiven Einsatz von Inhaftierungs- und Grenzverfahren ermöglicht. Angesichts der Anzahl der Geflüchteten, die in der EU ankommen, ist es äußerst fraglich, dass die Länder an den europäischen Außengrenzen in der Lage sein werden, die notwendige Infrastruktur so aufzubauen, dass die Menschenrechte dabei gewahrt werden können. Darüber hinaus vermuten Hilfsorganisationen für Geflüchtete, dass die Länder wahrscheinlich eher auf menschenverachtende Grenzpraktiken wie Pushbacks und Gewalt zurückgreifen werden, als dass sie Hunderte oder Tausende von Geflüchteten in Aufnahmelagern an den Grenzen festhalten. Egal welcher Weg eingeschlagen wird, er wird gegen die internationalen Menschenrechte verstoßen.[5]

Ein weiterer besorgniserregender Wandel in dem geplanten GEAS ist die flexible Auslegung des Konzepts eines «sicheren Drittstaats», die höchstwahrscheinlich dessen automatische Anwendung auf die Länder des Westbalkans bedeuten wird, deren Asylsysteme jedoch ineffektiv, ungerecht und dysfunktional sind. In der Vergangenheit gescheiterte Lösungsversuche werden also unter der Schirmherrschaft des GEAS als «Reformen» präsentiert.

Und welche Rolle spielt Serbien in all diesen «Reformen» und neu konzipierten Maßnahmen? Alleine im Jahr 2022 wurden Geflüchtete oder Migrant*innen mindestens 158.565 Mal von Ungarn nach Serbien zurückgedrängt. Von Kroatien nach Rumänien waren es mehrere zehntausend Personen. Es ist anzunehmen, dass täglich mehrere tausend Menschen auf der Flucht entlang der Westbalkanroute von einem Land in ein anderes geschoben werden.

An den Grenzen der EU wird das internationale Flüchtlingsrecht zu Grabe getragen.

Gleichzeitig kann die statistisch erfasste Anzahl der Geflüchteten, die in Serbien, Nordmazedonien, Bosnien und Albanien als Geflüchtete ankommen, nicht der Wahrheit entsprechen. Die menschenverachtenden Grenzpraktiken, die in den EU-Nachbarländern angewandt werden, haben die Formierung krimineller Gruppen begünstigt. So kommt es nicht selten vor, dass Schmugglerbanden sich gegenseitig an der serbisch-ungarischen Grenze mit Kalaschnikows beschießen. Mit dem Vorwand, irreguläre Migration zu bekämpfen und gegen organisierte Kriminalität vorzugehen, wurden Millionen von Euro in Grenzausrüstung investiert, Frontex-Beamt*innen entsandt und diverse Memoranden unterschrieben, die österreichische und ungarische Polizist*innen befugen, an der serbischen Grenze zu patrouillieren. Das sind natürlich nichts als Vorwände. Hinter diesen «Rechtfertigungen» verbirgt sich die dringende Notwendigkeit, jene Maßnahmen weiter zu verstärken, die bereits jetzt die internationalen Menschenrechte und das internationale Flüchtlingsrecht an den Grenzen der EU zu Grabe getragen haben. Das Ergebnis derartiger Bemühungen sind Schießereien, der Tod von drei Ausländer*innen an der grünen Grenze zwischen Serbien und Ungarn und der Verdacht über Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität und staatlichen Behörden.[6] Kann Serbien als sicher eingestuft werden? Ich wage es zu bezweifeln. Fest steht, dass die Europäische Kommission mit ihren vagen und oberflächlichen Fortschrittsberichten alles daransetzen wird, die Härte des derzeitigen serbischen Asylsystems unerwähnt zu lassen. Vielleicht hat die EU vor, Serbien als Land darzustellen, in dem die Menschenrechte von Geflüchteten und Asylsuchenden beschützt werden können.

GEAS verschäft nur die Krise der Rechtsstaatlichkeit

Sicher ist, dass die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa weiterhin auf wackeligen Füßen steht. Die Krise der Rechtsstaatlichkeit an europäischen Grenzen und insbesondere an den europäischen Außengrenzen wird auch nach Einführung des neuen GEAS fortwähren und Menschen, die weiterhin in Europa Schutz suchen, noch mehr Hindernisse in den Weg legen. Länder wie Serbien, Albanien und Bosnien werden sehr wahrscheinlich wieder als «sichere Drittstaaten» eingestuft und Flüchtlingsanwält*innen und –verteidiger*innen werden die EU-Länder erneut vor internationale Gremien bringen müssen, um die EU daran zu erinnern, dass die Lösungsansätze, die sie im letzten Jahrzehnt verfolgt hat, erfolglos waren.
 

[Übersetzung von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective]


[1] Siehe Hungarian Helsinki Committee. «Helsinki Files: Migrant push-backs», helsinki.hu/en/akta/push-backs/. (eingesehen am 28. November 2023)

[2] Siehe dazu auch die Veröffentlichung des Border Violence Monitoring Network (BVMN). «Black Book of Pushbacks», left.eu/issues/publications/black-book-of-pushbacks-2022/. (eingesehen am 28. November 2023)

[3] Das Oberste Gericht Großbritanniens erklärte im Juni 2023 das Abschiebeabkommen mit Ruanda für rechtswidrig, was hoffen lässt, dass die Justiz zumindest in Großbritannien die Rechtsstaatlichkeit wahren und Maßnahmen verhindern wird, die versuchen, die Grundprinzipien des Flüchtlingsschutzes zu umgehen. Siehe European Council on Refugees and Exiles. «UK: PM to Bring Emergency Law After Rwanda Policy Ruled Unlawful, New Home Secretary Recycles Braverman’s Slogans, France Spends UK Funds on Surveillance Equipment and Electric Devices, Home Office Expands ‘Safe’ List and Prevents NGO from Assisting Asylum Seekers», ecre.org. (eingesehen am 28. November 2023)

[4] Siehe Statewatch. «Blackmail in the Balkans: how the EU is externalising its asylum policies», www.statewatch.org. (eingesehen am 28. November 2023)

[5] Siehe ECRE. «A possible agreement on the reform of CEAS at the Council in June», ecre.org/wp-content/uploads/2023/06/CEAS-EXPLAINER.pdf. (eingesehen am 28. November 2023)

[6] Sasa Dragojlo. «With Police Connections, Serbian-Syrian Translator Turned People-Smuggler», balkaninsight.com. (eingesehen am 28. November 2023)