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Im Libanon baut das Social-Media-Kollektiv «Megaphone» eine Alternative zum politischen Establishment auf

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Mieke Hein,

Tausende von Demonstrant*innen versammelten sich während des Aufstands im Oktober 2019 in Beirut

Tausende von Demonstrant*innen versammelten sich während des Aufstands im Oktober 2019 in Beirut Foto: IMAGO / Hans Lucas

Lange Zeit war der Libanon für seine verhältnismäßig liberale Politik in Sachen Presse- und Medienfreiheit bekannt. Dies erlaubte es auch dem dort florierenden Verlagswesen, sich als Anlaufpunkt für Schriftsteller*innen und Journalist*innen aus Westasien bis Nordafrika zu etablieren. In den letzten Jahren haben sich die libanesischen Medien allerdings zunehmend zu einem Sprachrohr der rivalisierenden politischen Gruppierungen entwickelt, deren Positionen und politische Programme sie wiedergeben und fördern. Ehemals als Bollwerk der Pressefreiheit in der Region gepriesen, dienen libanesische Medien heutzutage nicht mehr der öffentlichen Information, sondern fachen die Spaltung und den politischen Konfessionalismus im krisengeschüttelten Land nur weiter an.

Mieke Hein studierte Ethnologie und Arabistik in Leipzig und Wien. Nach Aufenthalten in Libanon, Tunesien und der Türkei lebt sie heute in Berlin.

In einer Welt, in der Informationen zunehmend digital vermittelt werden, haben soziale Medien das Potenzial, der wachsenden Parteilichkeit der Medienkanäle und Desinformationskampagnen entgegenzuwirken und eine faktenbasierte Berichterstattung zu stärken. Dies sind zumindest die Beweggründe der Aktivist*innen der Medienplattform «Megaphone» mit Sitz in Beirut. Sie hoffen die Hindernisse überwinden zu können, die der unabhängigen Medienproduktion im Libanon im Wege stehen, und wollen ihrem immer größer werdenden Publikum eine Alternative bieten.

Vom Aktivismus zur Aktion

Gegründet wurde Megaphone 2017 von einer Gruppe studentischer Aktivist*innen, die eine säkulare Einstellung gegenüber der libanesischen Politik vertreten. Inzwischen hat sich Megaphone zu einem professionellen Journalist*innenkollektiv entwickelt, das Nachrichten in Form von Berichten, Leitartikeln, Interviews, täglichen und wöchentlichen Überblicken, investigativen Artikeln sowie Meinungsbeiträgen auf der eigenen Website und auf sozialen Medien wie zum Beispiel X (ehemals Twitter), Instagram, Facebook und YouTube veröffentlicht. Der Erfolg, den das Projekt auf Anhieb in den kleineren Kreisen der libanesischen Opposition und bei Anti-Establishment-Gruppen genoss, wuchs anlässlich der Wahlen von 2018, über die Megaphone ausführlich berichtete.

Megaphones ehrenamtliche Redakteur*innen leisteten Pionier*innenarbeit für die libanesische Onlinemedienproduktion, indem sie eine wiedererkennbare Markenidentität mit Vorlagen für Postings und wiederkehrenden Themen schufen, um eine lebendige und farbenfrohe Ästhetik zu erzeugen. Heute wird die Megaphone-Ästhetik vielerorts aufgegriffen und Think tanks, Polit-Gruppen und andere Medienkanäle kopieren das «Megaphone-Rezept», wie es der Direktor des Kollektivs nennt.

Ein entscheidender Moment für Megaphone kam im Oktober 2019, als der Beschluss der Regierung, eine neue Steuer für Online-Telefongespräche mit mobilen Anwendungen wie zum Beispiel WhatsApp zu erheben, landesweite Demonstrationen auslöste. Die in großen Teilen der Bevölkerung verbreitete Wut markierte den Höhepunkt der Empörung über strukturelle Missstände wie die notorische Nichtbeachtung sozialer Probleme, die Korruption in der politischen und wirtschaftlichen Elite und ein generelles politisches Missmanagement.

Mit ihrer Berichterstattung über die sogenannte «Oktoberrevolution», die über mehrere Wochen Tausende Bürger*innen mobilisierte, entwickelte sich das weitgehend ehrenamtlich betriebene Medium zu einem professionellen journalistischen Betrieb und wuchs zu einer der wichtigsten Nachrichten-Plattformen heran, die sich insbesondere an ein junges Publikum richtete. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Unterstützung zweier erfahrener Journalist*innen, die sich zu diesem Zeitpunkt der Megaphone-Redaktion anschlossen, sowie durch die Tatsache, dass Mitglieder des Kollektivs sich von ihren regulären Anstellungen beurlauben ließen, bevor das Kollektiv schließlich in der Lage war, bezahlte Vollzeitstellen zu schaffen.

Die Tatsache, dass junge Menschen in den libanesischen Medien nicht repräsentiert werden und dass es kaum Inhalte gibt, die nicht von der im Libanon grassierenden konfessionalistischen Parteilichkeit geprägt sind, bewegen das Megaphone-Team, seine Arbeit trotz der zunehmenden Widrigkeiten im Mediensektor und im Alltag fortzusetzen. Die wirtschaftliche und politische Krise sowie die zunehmend schwierigen Arbeitsumstände für Journalist*innen führen dazu, dass immer mehr junge Menschen nach Arbeit im Ausland suchen. Dies hat auch zur Folge, dass Fachkräfte abwandern, eine Entwicklung, die auch Megaphone zu spüren bekommt. Neue Mitarbeiter*innen sind schwer zu finden in einer Welt, in der es einen Überfluss an Informationen und Fake News gibt, aber keine angemessene Ausbildung im Bereich des digitalen Journalismus.

Der Aufbau einer Gegenhegemonie

Aktuell ist der Libanon genauso von religiösem und kulturellem Konfessionalismus geplagt wie während des Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1990, eine Tatsache, die auch die lokalen Medien prägt. Die konfessionalistische Ausrichtung zahlreicher zeitgenössischer Medienkanäle lässt sich auf deren Gründung während des Bürgerkriegs zurückführen, als sie den verschiedenen Konfessionsgruppen dienen sollten. In dieser Atmosphäre der Spaltung stellt die Etablierung einer unabhängigen Medienplattform, die sich über die Differenzen zwischen den verschiedenen Konfessionsgruppen hinwegsetzt, eine geradezu revolutionäre Tat dar.

Die traditionellen Medienkanäle spielen eine wesentliche Rolle für die Hegemonie der libanesischen Parteien und Religionsgruppen. Der italienische Marxist Antonio Gramsci prägte den Ausdruck während seiner Gefangenschaft im faschistischen Regime der 1930er Jahre und beschrieb damit die Macht der herrschenden Klasse über die Bürger*innen, indem sie durch «Normen, Werte und kulturelle Vorstellungen, politische Praktiken und soziale Beziehungen»* einen gesellschaftlichen Konsens fabrizierte. Dabei spielt Wissensbildung eine wesentliche Rolle, da die Inhalte traditioneller Medien weitgehend als wahr akzeptiert werden und dementsprechend bestimmen, wie wir die Welt und unser Umfeld wahrnehmen. Obwohl nicht alle libanesischen Medienkanäle direkt mit dem politischen System in Verbindung stehen, wirken sie doch als mächtiges Mittel, mit dem Mainstreamnarrative gestalten werden, und sind insofern auch von wesentlicher Bedeutung für die Hegemonie der herrschenden Klasse des Landes.

Gegenhegemoniale Aktionen versuchen, die Machtstrukturen zu untergraben oder aufzulösen, und haben gleichzeitig das Potenzial, innerhalb der besagten Machtstrukturen eine konkrete Alternative zu bieten. Megaphone stellt sich in verschiedener Hinsicht gegen die Hegemonie der traditionellen Medienkanäle und somit auch der politischen Gruppierungen. In der libanesischen Medienlandschaft eine Alternative zu den parteiischen Medien anzubieten, ist der beste Weg, deren hegemonialer Position etwas entgegenzusetzen. Wie der Geschäftsführer mir sagte: «Wir sind so etwas wie Aufpasser, sowohl für das politische Establishment als auch für die Medienlandschaft, und wir decken irreführende und ungenaue Berichte und Aussagen auf.» So bekämpft Megaphone auch die Verbreitung von Fehlinformation und dient als Kontrollinstanz für den Einfluss der Mainstreammedien.

Megaphone teilt nicht nur informative und mitunter pädagogische Inhalte zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Themen, sondern berichtet auch über Randgruppen, die von den traditionellen Medien oft ignoriert oder stigmatisiert werden, insbesondere stehen Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen im Fokus. So postete das Kollektiv zum Beispiel auch Informationen über die systematische Tötung von äthiopischen Geflüchteten an der Grenze zu Saudi-Arabien. Diese Art der Reportage richtet das Augenmerk auf Menschen, die Gramsci als Subalterne bezeichnet hätte und über die Marcus Green schreibt, dass sie «ausgeschlossen, unterdrückt und auf unterschiedliche Art und Weise marginalisiert werden».

Die Öffnung von Räumen für subalterne Stimmen in der Medienlandschaft durchbricht das von hegemonialen Kräften erzwungene Schweigen. Die kritische Auseinandersetzung mit Ausbeutung, Machtverhältnissen und Marginalität in ihren spezifischen Ausprägungen ist eine wesentliche Voraussetzung für das gegenhegemoniale Potenzial dieses transformativen Prozesses.

Kennzeichnend für die libanesischen Medien ist zudem, dass sämtliche oppositionelle Stimmen aus dem Mainstream-Fernsehen ausgeschlossen sind. Laut Megaphones Geschäftsführer können sich oppositionelle Akteur*innen die hohen Kosten für die Sendezeit nicht leisten und würden zudem auch politisch nicht zugelassen. Dadurch, dass einzig Parteien mit größerem politischen und finanziellen Einfluss Sendeplätze erhalten, zementieren die Fernsehsender die politische Landschaft und die Macht der großen Parteien. Gleichzeitig machte eben dieser Ausschluss aus den Mainstream-Medien im Wahlkampf 2022 die Megaphone-Plattform für oppositionelle Parteien umso relevanter und bewies so das gegenhegemoniale Potenzial des Online-Mediums.

Instagram-Post von Megaphone
Das Kollektiv postet Informationen über die systematische Tötung von äthiopischen Geflüchteten an der Grenze zu Saudi-Arabien.  Megaphone (Instagramm)

Die schwache Verbindung zwischen sozialen Medien und Aktivismus

Seit ihrem Aufkommen in den frühen 2000er Jahren bieten soziale Medien insbesondere in Westasien einen Raum für Gesellschaftskritik und politischen Dissens. Schon lange bevor Megaphone seine ersten Posts veröffentlichte, war der Online-Aktivismus eines der wesentlichen Vehikel für Protest und Widerstand in der Region. Während der Aufstände im Iran im Jahr 2009 vertagte Twitter mit Hinweis auf die große Nutzer*innenzahl eine routinemäßige Wartungsabschaltung. Auch während des Arabischen Frühlings spielten soziale Medien eine wesentliche Rolle. Aktivist*innen benutzten sie, um zu mobilisieren, zu organisieren und mit einem breiteren Publikum zu kommunizieren, wie es auch die libanesischen Aktivist*innen während der Oktoberrevolution 2019 taten.

Der Hegemoniebegriff lässt sich auch auf die Oktoberrevolution anwenden. Zuerst weigerten sich die traditionellen Medien, über die Proteste auf den Straßen zu berichten, und ignorierten den Wandel in der politischen Stimmung. Plattformen wie Megaphone erfuhren zu dieser Zeit einen regelrechten Boom, da das Interesse an gegenhegemonialen Medien wuchs.

Selbst wenn sie einen ausschließlich digitalen Raum darstellen, haben soziale Medien sich in der Vergangenheit als wesentlicher Antrieb für sozialen Wandel erwiesen und auch heute, mehr als zehn Jahre später, können sie noch weitere politische Veränderung herbeiführen. Dennoch sollte der Protest auf Social-Media-Plattformen nur als digitales Werkzeug zur Vermittlung tatsächlicher Forderungen verstanden werden. Das Potenzial sozialer Medien, Proteste auszulösen, sollte nicht von der Tatsache ablenken, dass ein tiefgreifender sozialer und politischer Wandel eine systematische Arbeit mit den Ursprüngen der Konflikte und Unruhen erfordert.

Selbst wenn soziale Medien vielversprechend und vorteilhaft sein können, sollten auch deren negativen Begleiterscheinungen nicht unbeachtet bleiben, zu denen mangelnde Medienkompetenz, Algorithmen und die Schaffung von Echoräumen gehören. Die für soziale Medien typische kurze Aufmerksamkeitsspanne setzt die Megaphone-Redakteur*innen unter Druck, schlagfertig und witzig zu sein, um Leser*innen anzuziehen. Ein gravierenderes Problem ist allerdings, dass die Social-Media-Plattformen Großkonzernen gehören, deren Geschäftsmodell auf dem Verkauf von Nutzer*innen-Daten beruht und die zu jeder Zeit den Dienst einstellen könnten.

In ihrem Wunsch nach Veränderung nehmen Megaphone-Journalist*innen diese Nachteile pragmatisch in Kauf.

Die Kraft des politischen Journalismus

2019 bezogen die meisten Libanes*innen (93 Prozent) ihre Nachrichten überwiegend von Fernsehsendern, auch wenn es fünf Jahre zuvor noch 5 Prozent mehr waren. Radiostationen nahmen von 42 Prozent im Jahr 2017 auf 49 Prozent im Jahr 2019 zu. Die Leser*innenschaft von Zeitschriften wiederum sank stetig, wie es den Datenerhebungen von MidEast Media zu entnehmen ist: Im Jahr 2017 nutzen sie noch 17 Prozent als Nachrichtenquelle, 2019 waren es nur noch 14 Prozent. Soziale Medien hingegen haben seit 2017 einen Zuwachs von 7 Prozent erlebt, und 85 Prozent der Libanes*innen benutzen sie als Nachrichtenquelle.

Obwohl aktualisierte Zahlen noch ausstehen, zeichnet sich aus der Umfrage ein klarer Trend ab: Immer mehr Menschen beziehen ihre Nachrichten von sozialen Medien und sind auf sie als Informationsquelle angewiesen. Die beliebtesten Social-Media-Plattformen in Libanon sind Facebook, WhatsApp, X und Instagram. Sie stellen die etablierten Medien wie Fernsehen, Radio und Zeitung als primäre Medienquelle zunehmend in den Schatten. Die traditionellen Medien nutzten diese Plattformen noch nicht in vollem Umfang, wodurch sich ein Vakuum bildete, das Megaphone alsbald ausfüllte.

Neben dem digitalen Wandel prägt derzeit auch der Kampf ums wirtschaftliche Überleben die libanesischen Medien, deren Hauptumsatzquelle aus Werbeeinnahmen besteht. Angesichts der härtesten Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte erscheint allerdings Werbung in einem Land, in dem 82 Prozent der Bevölkerung von mehrdimensionaler Armut betroffen sind, kaum noch sinnvoll. Die zweite Einnahmequelle aus Spenden von politischen Gruppen ist aufgrund des Wertverlustes der libanesischen Währung ebenfalls geschrumpft. Die Schließung mehrerer Printzeitungen und die Kündigung von Angestellten im Fernsehen sind ein Beweis für die Auswirkungen der Krise auf die Medien.

In der Hoffnung, die wirtschaftlichen Hürden, die sich der Nachrichtenproduktion in den Weg stellen, zu überwinden, hat Megaphone einen anderen Weg eingeschlagen. Sein Geschäftsmodell stützt sich auf Fördergelder von Stiftungen, Kooperationen und in geringem Maße auch auf Spenden, was es unabhängiger von der lokalen Währung und somit auch robuster macht.

Die Zukunft der libanesischen Medienlandschaft lässt sich schwer voraussehen. Sie hängt stark von Faktoren wie der politischen Entwicklung und dem wirtschaftlichen Aufschwung ab. Ein Blick in die Geschichte weist allerdings bemerkenswerte Parallelen zwischen Gramscis Biografie und dem Aktivismus von Megaphone auf. Gramsci selber arbeitete als Journalist und war Mitbegründer der sozialistischen Wochenzeitung «L’Ordine Nuovo», welche schnell zum Megafon für die italienische Linke der 1920er Jahre wurde. Das Kollektiv rund um die Zeitung spielte eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Arbeiter*innen-Räten, die spontan aus dem Generalstreik und den Fabrikbesetzungen in Turin in den Jahren 1919 und 1920 entstanden.

Rund ein Jahrhundert später unterstützte Megaphone die Oppositionsbewegung im Libanon, indem es über Demonstrationen berichtete und deren politische Forderungen publik machte. Beide Beispiele beweisen das Potenzial von politischem Journalismus und belegen, dass eine kleine Gruppe von Menschen mit begrenzten Mitteln auf ihre Art und Weise die ersten Grundsteine für eine Gegenhegemonie setzen können.
 

Dieser Artikel basiert auf den Erkenntnissen und Interviews der Autorin während einer Forschungsreise nach Beirut im Februar 2022, die als Grundlage für ihre Masterarbeit diente.

Übersetzung von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective

* Sassoon (1982) zitiert in Katz, Hagai (2006). «Gramsci, Hegemony, and Global Civil Society Networks» in Voluntas 17 (4), S. 335.