Als 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet wurde, die sich in diesem Jahr zum 75. Mal jährt, war das heutige Kirgisistan noch nicht auf der Landkarte verzeichnet. Während seiner Transformation von einer Sowjetrepublik in ein unabhängiges Land setzte in ihm ein demokratischer Wandel ein, der unter anderem mit einem Bekenntnis zu den Menschenrechten einherging. In welchem Zustand begeht Kirgisistan nach über 30 Jahren Unabhängigkeit den Jahrestag dieses wichtigen Dokuments?
Schon zu Beginn seiner Unabhängigkeit unterzeichnete Kirgisistan die wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen. Das Land beteiligt sich aktiv an den allgemeinen und regelmäßigen Kontrollverfahren der UN zur Einhaltung der Menschenrechte. Gegenwärtig ist es zudem Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. Über viele Jahre hinweg galt Kirgisistan vor allem durch die vergleichsweise schlechte Menschenrechtslage in seinen Nachbarstaaten als eine «Insel der Demokratie». Allerdings ist die Situation bezüglich der Grundrechte in dem Land gerade in der letzten Zeit besonders ernüchternd.
Kirgisistan wurde zum dritten Mal in Folge im jährlichen Bericht «Freedom in the World» der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House als «nicht frei» eingestuft. Im Demokratieindex des V-Dem-Instituts zeigt das Land die schwächsten Ergebnisse seit zehn Jahren. Laut dem letzten Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung fallen die aktuellen Bewertungen Kirgisistans in den Bereichen Recht auf friedliche Versammlungen, Redefreiheit sowie allgemeine Bürgerrechte im vergleichbaren Zeitrahmen am schlechtesten aus. Und in der Rangliste der Pressefreiheit 2023 von Reporter ohne Grenzen ist Kirgisistan um ganze 50 Plätze abgerutscht – vom ehemals 72. auf den 122. Platz.
Medet Tiulegenov ist Senior Research Fellow an der Universität Zentralasiens (UCA) Graduate School's of Development Civil Society Initiative. Er promoviert derzeit in Politikwissenschaften an der Central European University.
Wie ist es dazu gekommen und welche Dynamiken bestimmen die gegenwärtige Menschenrechtslage in Kirgisistan? Dies lässt sich sowohl in einer langfristigen Perspektive betrachten – im Hinblick darauf, wie ein für die Umsetzung der Menschenrechte günstiges politisches Klima entstanden war – als auch bezogen auf die letzten drei Jahre, innerhalb derer der aktuelle, entschiedene Rollback erfolgte.
Erosion der «Insel der Demokratie»
Bereits in den ersten Jahren seiner Unabhängigkeit unterzeichnete Kirgisistan die wichtigsten internationalen Verträge – 1994 die internationalen Abkommen über Bürgerrechte und politische Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Konventionen über Kinderrechte und 1997 die Konventionen gegen Rassendiskriminierung sowie die Frauenrechts- und die Antifolterkonvention. Als eine der letzten wurde 2019 die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert.
Das Image eines relativ freien Landes war vor dem Hintergrund des ursprünglichen Liberalisierung Anfang der 90er Jahre entstanden, die den Prozess der Demokratisierung und die Achtung der Menschenrechte förderte. Jedoch wurde dies durch die autoritären Tendenzen der ersten Präsidenten unterbrochen, was dazu führte, dass die ersten beiden Staatsoberhäupter infolge von Volksaufständen (2005 und 2010) außer Landes flohen. Nach einer kurzen, erneuten Demokratisierung, verschlechterte sich die Lage wieder. Die letzten Bemühungen von 2010, Rechte und Freiheiten in einer Verfassung zu verankern, die eine Entmonopolisierung der Macht vorsah, erwiesen sich angesichts der Ereignisse der letzten drei Jahre als erfolglos.
Als «Insel der Demokratie» wurde das Land während des größten Teils der postsowjetischen Zeit nicht nur aufgrund jener Rechte und Freiheiten bezeichnet, die in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit durchaus ihren Namen verdienten, sondern auch im Vergleich mit seinen autoritären Nachbarländern. In derselben Zeit, in der es in den zentralasiatischen Ländern nur einen Präsidentenwechsel gab, und dies in den meisten Fällen auch nur aufgrund des natürlichen Todes nicht abwählbarer Amtsvorgänger, ist in Kirgisistan bereits der sechste Präsident im Amt. Nach einer Zeit, in der mehrere Male die politischen Gefangenen von gestern an die Macht kamen und die Medien und die Zivilgesellschaft mehr Freiheiten genossen, könnte man annehmen, dass sich der Wunsch nach Freiheit und nach Achtung der Menschenrechte entsprechend langfristig hätte festigen müssen. In den letzten drei Jahren ist jedoch eine Rückentwicklung in Bezug auf die Anerkennung von Rechten und Freiheiten zu beobachten.
Aktueller Rollback
Die aktuelle Situation begann sich im Oktober 2020 zu formieren. In dieser Zeit kam es nach Protesten gegen die Missachtung der Ergebnisse der Parlamentswahlen zu einer politischen Krise, in deren Gefolge der Präsident zurücktrat und die heutige Regierung an die Macht gelangte. Die regressive Politik vollzog sich seitdem in zwei Formen – durch eine gezielte und punktuelle Einflussnahme auf Dissident*innen und durch systematischere Veränderungen, die den politischen Spielraum für Kritik an der Regierung einschränken.
Punktuelle Repressionen
Die letzten drei Jahre zeichnen sich sowohl durch punktuelle, zum Teil auch breitangelegte Maßnahmen gegen Aktivist*innen und Medien als auch durch systematische Veränderungen gesellschaftlicher Normen aus, die zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume einengen.
Punktuelle Repressionen werden durch autoritäre Regime in der Regel bevorzugt eingesetzt, da sie unmittelbare Gefahren beseitigen und im gleichen Zuge potenziell Unzufriedene einschüchtern. In den letzten Jahren kam es zunehmend zu Drohungen und konkreteren Repressionen gegen Journalist*innen, Blogger*innen und Aktivist*innen. Die Webseiten von mehreren Zeitungen wurden blockiert, andere Medien geschlossen, es wurden Strafverfahren gegen Journalist*innen eröffnet und ihre Wohnungen und Büros durchsucht. Blogger*innen wurden wegen ihrer Postings in sozialen Netzwerken polizeilich vorgeladen und in letzter Zeit kam es in diesem Zusammenhang nicht selten auch zu Verhaftungen und Gerichtsprozessen. Eine beispiellose Maßnahme war die vorübergehende Schließung von Radio Azattyk im Jahr 2022 (dem kirgisischen Sprachdienst des Radio Free Europe/Radio Liberty). Ein weiterer Fall für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit war die Durchsuchung des Büros des unabhängigen Investigativjournalisten Bolot Temirov wegen des Verdachts auf Drogenbesitz. Kurz zuvor hatten er und sein Rechercheteam eine Untersuchung zu Korruptionsfällen veröffentlicht, in die mutmaßlich Familienmitglieder des Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit Kamtschibek Taschijew verwickelt waren. Obwohl er in diesem Fall freigesprochen wurde, wurde er bald darauf nach einer Gerichtsentscheidung in einem anderen Fall des Landes verwiesen.
An einem bestimmten Punkt weitete sich die selektive Strafverfolgung in einzelnen Fällen zu einer massiven Repressionswelle gegen Aktivist*innen und Oppositionspolitiker*innen aus. Im Herbst 2022 wurde bei der Festlegung der kirgisisch-usbekischen Grenze das Gebiet des Kempir-Abad-Stausees an Usbekistan übergeben, was bei der lokalen Bevölkerung Unzufriedenheit auslöste. Bereits am Tag nach der Gründung eines Komitees zum Schutz des Stausees durch einige Aktivist*innen und Politiker*innen wurden die ersten von ihnen verhaftet. Seit Oktober 2022 werden in diesem Zusammenhang fast dreißig Personen der Organisierung von Massenunruhen beschuldigt. Der Fall, der seit über einem Jahr geheim gehalten wird, ist noch nicht vor Gericht verhandelt worden, und obwohl eine Reihe von Angeklagten unter Hausarrest entlassen wurde, stehen viele von ihnen während der Ermittlungen weiterhin unter Arrest.
Systematische Einengung der Zivilgesellschaft
Alle diese Repressionen erfolgten vor dem Hintergrund der systematischen Stärkung der autoritären Herrschaft in Kirgisistan. Der erste und wichtigste Schritt in diese Richtung war eine radikale Veränderung der Verfassung, die bei einer Volksabstimmung im April 2021 angenommen wurde. Die grundlegende Veränderung bestand darin, dass der Präsident jetzt den Vorsitz bei den Regierungssitzungen führte, dort Anweisungen erteilte, und ebenso, dass der Regierungschef nun auch Vorsitzender der Präsidialverwaltung war. Die Amtszeit des Präsidenten wurde von 6 Jahren auf 5 verkürzt, aber zugleich konnte er jetzt zweimal gewählt werden (vorher konnte er nur einmal gewählt werden). Die neue Verfassung festigte die Macht des Präsidenten, doch auch der Prozess ihrer Diskussion und Ausarbeitung war alles andere als transparent. Die maßgebliche Venedig-Kommission hielt den Prozess unter dem Gesichtspunkt der Legitimität für fragwürdig, übereilt und nicht geeignet, eine angemessene Diskussion über den Verfassungsentwurf zu organisieren. In der Folge wurden zahlreiche Gesetze geändert, um sie mit der neuen Verfassung in Einklang zu bringen und viele dieser Veränderungen beeinträchtigten durch die rigide Zentralisierung der Macht die Rechte der Bürger des Landes.
Die Änderungen der Verfassung stärkten die Vollmachten des Präsidenten bei der Ernennung von Richter*innen. Einer der wenigen positiven Schritte (der übrigens von der Venedig-Kommission erwähnt wurde), der die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts wiederherstellte, wurde vor kurzem durch einen Gesetzesentwurf wieder rückgängig gemacht, der die Möglichkeit der Revision seiner Urteile nicht nur auf Vorschlag des Gerichtspräsidenten, sondern auch des Präsidenten ermöglichte. Als einer der Gründe für die Abänderung werden auch mögliche Unvereinbarkeiten von Urteilen mit «moralischen Werten und Sitten oder gesellschaftlichen Normen» angeführt. Das Gesetzesvorhaben entstand kurz nachdem der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit Kamtschibek Taschijew das Urteil des Verfassungsgerichts über die Möglichkeit, nach Erlangung der Volljährigkeit den Vatersnamen in einen Muttersnamen zu ändern,[1] öffentlich kritisiert hatte. Dies führte zur Initiierung und raschen Verabschiedung eines Gesetzes, das besagt, dass Entscheidungen des Verfassungsgerichts auf Vorschlag des Vorsitzenden des Gerichts und des Präsidenten des Landes aus einer Reihe von Gründen überprüft werden können, u.a. wenn die Entscheidung «den moralischen und ethischen Werten und dem sozialen Bewusstsein des Volkes der Kirgisischen Republik widerspricht» Diesem Gesetz folgend hat das Verfassungsgericht die eigene Entscheidung überprüft und annulliert.
Viele der vergangenen institutionellen Errungenschaften, die über die Jahre hinweg diskutiert und durch die Anstrengungen der Mehrheit der Menschen gefestigt worden waren, werden jetzt wieder zurückgenommen. Dies gilt für die kommunale Selbstverwaltung, deren Reformen durch den Aufbau einer starren vertikalen Machtstruktur, die in der Verfassung verankert wurde, praktisch zum Scheitern verurteilt sind. In die gleiche Richtung gehen Versuche im Jahr 2022, den Nationalen Präventionsmechanismus zur Verhütung von Folter als eigene Institution zu schließen und dem Amt des Bürgerbeauftragten zu unterstellen.
Bis dahin nur sporadisch verhängte, vorübergehende Verbote von friedlichen Märschen und Demonstrationen im Zentrum der Hauptstadt wurden nach und nach zur Regel. Im März 2022 wurde ein zunächst vorübergehendes Versammlungsverbot auf dem zentralen Platz vor den Regierungsgebäuden per Gerichtsverfügung verlängert und auf das Gebäude der russischen Botschaft und weitere Orte im Zentrum Bischkeks ausgeweitet. Im Dezember 2023 wurde ein Autokorso gegen die Änderung der Nationalflagge verboten (die von einer Reihe von Abgeordneten initiiert und vom Präsidenten unterstützt worden war).
Im Sommer dieses Jahres wurde zwischen dem Kultusministerium und Radio Azattyk in der oben erwähnten Sache ein Vergleich geschlossen. Dieser Fall ließ einen neuen Ansatz bei der Repression gegen Journalist*innen erkennen, bei dem die Ausübung von Druck auf die Redefreiheit in neuer Form systematisiert wird. Wo bis dahin die Staatsanwaltschaft und andere Strafverfolgungsbehörden sich mit medialen Fällen befassten, in denen es um die Verteidigung der Ehre und Würde des Präsidenten ging, wie es im Fall der Massenklagen Atambajews gegen Journalist*innen im Jahr 2017 war, ist der Einsatz von staatlichen Dienststellen, die keine Strafverfolgungsbehörden sind, zur systematischen Unterdrückung der Meinungsfreiheit eine neue Erscheinung, die sich augenscheinlich nach und nach verstärkt. In letzter Zeit hat das Kultusministerium nicht nur Strafanträge gegen Medieneinrichtungen gestellt, sondern sich auch um die Schließung von TikTok bemüht und Verwarnungen gegen Medienstellen hinsichtlich ihrer Veröffentlichungen ausgesprochen.
Was lässt sich aus dieser Situation lernen?
In dieser sich verschlechternden rechtlichen Situation in Kirgisistan gibt es Haupt- und Nebenfaktoren. Insgesamt kann die sich verschlechternde Menschenrechtslage weltweit beobachtet werden. In vielen Berichten ist von einem democratic backsliding (der schrittweise Rückbau der Demokratie) die Rede und die Triebkräfte des zunehmenden Autoritarismus sind in vielerlei Hinsicht ähnlich. In Bezug auf Kirgisistan ist es sinnvoll, drei Bereiche in den Blick zu nehmen, in denen sie besonders deutlich zum Vorschein kommen – das Moment eines für antidemokratische Kräfte günstigen politischen Möglichkeitsfensters, konservativer Populismus und eine erschütterte Weltordnung.
Fenster politischer Möglichkeiten
Im Oktober 2020 bestand ein Fenster politischer Möglichkeiten, das die heute an der Macht befindliche Gruppe damals nutzte, um es danach fest für andere zu versperren. Die Situation entsprach in diesem Moment der klassischen Definition politischer Möglichkeitsfenster – es gab eine freie Zugänglichkeit von politischen Prozessen für verschiedene Akteure, eine Instabilität gewohnter politischer Allianzen und Konflikte innerhalb der Eliten, die sich vor dem Hintergrund der Proteste nach den Wahlen 2020 gebildet hatten. Im Unterschied zu den politischen Verwerfungen von 2005 und 2010 hatten die damaligen Machthaber keine ernsthafte Opposition und es wurden alle notwendigen Schritte getan, damit sie auch später nicht entstehen konnte.
Weil es keinen ernsthaften Widerstand gab, gelang es den Machthabern frühzeitig verschiedene Ressourcen in ihren Händen zu konzentrieren und ihre Befugnisse durch eine eilig durchgeführte Verfassungsreform auszuweiten. Die Repressionen gegen Andersdenkende und die Institutionalisierung der deutlich angewachsenen Befugnisse ermöglichten es in kurzer Zeit ein die Menschenrechte missachtendes politisches Regime zu errichten.
Konservativer Populismus
In Kirgisistan spielt der Populismus eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung des derzeitigen Regimes. Dies umfasst bis zu einem gewissen Grad sowohl die tatsächliche Unterstützung der Öffentlichkeit für die derzeitige Regierung, auch wenn sie laut Bevölkerungsumfragen[2] allmählich abnimmt, als auch eine bewusste Politik der Selbstlegitimierung vonseiten der Regierung.
Kirgisistan gehört dem UNDP-Bericht über den Gender Social Norms Index für das Jahr 2023 zufolge zu den fünf Ländern mit dem größten Backlash (basierend auf dem World Values Survey aus den Jahren 2010-2014 und 2017-2020). In den letzten Jahren werden die Verbindungen zwischen von Politik- und Beamtenkreisen zu konservativen Gruppen immer offensichtlicher. So zensierte zum Beispiel Ende 2019 das Kultusministerium unter dem Druck konservativer Gruppen die Ausstellung moderner feministischer Kunst Femminale. Als es am 8. März 2020 zu einem Überfall konservativer Aktivist*innen auf einen friedlichen Umzug kam, nahm die Polizei die Organisator*innen des Umzugs fest.
Der Konservatismus passt auch gut zu einer radikalen öffentlichen Stimmung und der Erwartung eines größeren Autoritarismus in der Regierung. Bei der World Values Survey (Umfragewelle von 2017 bis 2022) stimmten mehr als ein Drittel der Befragten aus Kirgisistan dem Vorschlag zu, «die Gesellschaftsordnung radikal zu revolutionieren» und fast zwei Drittel waren damit einverstanden, dass «die Regierung mehr Respekt» verdiene (im Original wurde der Begriff authority verwendet).
Der Konservatismus in der Politik ist seit Beginn der derzeitigen Regierung nicht zu übersehen. Eines der ersten Dekrete nach der Wahl von Sadyr Zhaparov zum Präsidenten war ein Dekret zur «geistigen und moralischen Entwicklung» im Januar 2021. Ähnliche Bestimmungen wurden im selben Jahr in die Verfassungsreform aufgenommen.
Das Wanken der normativen internationalen Ordnung
Insgesamt vollzieht sich in vielen Ländern zurzeit ein democratic backsliding und obwohl keine direkte Nachahmung zu beobachten ist, wird diese offensichtliche globale Entwicklung als Rechtfertigung für die Rückschritte in Kirgisistan bemüht. Auch der Krieg in der Ukraine, der nicht nur das internationale humanitäre Recht und die Regeln der Kriegsführung, sondern auch die globale Rechtsordnung an sich infrage gestellt hat, spielt eine Rolle.
Die Koordinierung der Bemühungen um eine gemeinsame Menschenrechtsagenda mit ausländischen Akteuren ist in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig. Vor diesem Hintergrund nimmt der Einfluss westlicher und internationaler Akteure ab. Aufgrund der schlechten Wirtschaftsführung hat Kirgisistan seit vielen Jahren in großem Umfang Kredite bei ausländischen Gebern aufgenommen. Anfang 2023 beliefen sich die Auslandsschulden auf 4,4 Mio. USD, wovon fast 1,8 Mio. USD auf die Export-Import-Bank der VR China entfallen. Dies spiegelt die in den letzten anderthalb Jahrzehnten veränderte Situation, in der Kirgisistan begann, sich bevorzugt von Ländern Geld zu leihen, die keine politischen Bedingungen, etwa bezüglich der Menschenrechtslage, stellen. Darüber hinaus wurde ein Großteil der zuvor von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel zur Unterstützung des Haushalts und großer Infrastrukturprojekte verwendet und nicht für die Entwicklung moderner politischer Institutionen, die die Menschenrechte schützen.
Ist eine Kehrtwende möglich?
Können die vom democratic backsliding betroffenen neuen Demokratien diesem Trend entkommen und wieder zu freiheitlichen Verhältnissen zurückfinden? Bisweilen lässt sich das beobachten und der Bericht des V-Dem-Instituts von 2023 verdeutlicht, dass in solchen Fällen wichtige gemeinsame Merkmale vorhanden sind: gesellschaftliche Mobilisierung gegen die Regierung, Widerstand der Judikative gegen das autoritäre Verhalten der Exekutive, Zusammenarbeit zwischen der politischen Opposition und der Zivilgesellschaft sowie kritische Impulse, etwa durch Wahlen, und die Unterstützung durch die demokratische Weltgemeinschaft.
Doch nichts davon ist gerade in Kirgisistan zu beobachten – es gibt keine unabhängigen Gerichte und keine unabhängige Opposition, die Gesellschaft steht der Regierung unkritisch gegenüber und die meisten internationalen Akteure sind vor allem mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt. Die jüngere Geschichte Kirgisistans lehrt uns dennoch, dass autoritären Tendenzen Momente der Demokratisierung folgen können.
Die Menschenrechtslage ist weltweit alles andere als positiv. In Kirgisistan ist diese Situation aufgrund der oben beschriebenen Umstände ebenfalls recht problematisch. Beispiele anderer Länder und die eigenen Erfahrungen Kirgisistans legen nahe, dass es möglich ist, «von unten wieder aufzusteigen», aber viele der dafür notwendigen Faktoren sind derzeit nicht anzutreffen. Außerdem sind die Beispiele in der Welt für das unvermeidliche langsame Abgleiten in den Autoritarismus bei weitem zahlreicher. Kirgisistan befindet sich anscheinend leider am Anfang eines solchen Abstiegs, und die wichtigsten Faktoren für eine mögliche Erholung werden möglicherweise nicht allzu bald eintreten. Daher ist der Schutz der Menschenrechte in Kirgisistan nicht so sehr eine Garantie für ihre weitere Entwicklung, sondern vielmehr eine für die Bewahrung des bereits Erreichten. Im Jubiläumsjahr der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wäre es bereits ein großer Erfolg, wenn es gelänge, den unaufhaltsamen Abwärtstrend zumindest zu verlangsamen.
Übersetzung: Vera Kurlenina und Roman Kowert für Gegensatz Translation Collective
[1] Über zwei Jahre lang kämpfte die Kinderbuchautorin und Aktivistin Altyn Kapalova vor Gericht dafür, dass ihre Kinder, einen Muttersnamen, d.h. Matchestvo, anstelle eines Vatersnamens annehmen dürfen. Das Verfassungsgericht fällte im Sommer 2023 das Urteil, dass Jugendliche bei Erlangung der Volljährigkeit berechtigt sind, zwischen Vaters- und Muttersnamen zu wählen. Neben Kamtschibek Taschijew hatte auch der Mufti von Kirgisistan die Entscheidung des Gerichts kritisiert.
[2] Schaparow und Taschijew haben an Vertrauen verloren, während Nurzhigit Kadyrbekow wieder an Popularität gewonnen hat. IRI-Umfrage. 26/07/2023.