Das ging schneller als erwartet. Gleich in der ersten Woche der neuen Regierung publizierte die neue Sicherheitsministerin Patricia Bullrich ein Paket von Verordnungen, die drakonische Maßnahmen gegen Straßenblockaden bei Protesten vorsehen. Der Protest von Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert*innen, die diese als verfassungswidrig analysierten, ging aber zügig in der nächsten Empörungswelle unter.
Traditionell gedenken linke und linksradikale Gruppen am 20. Dezember des Jahrestages der Notstandsgesetzgebung von 2001, der eine soziale Erhebung folgte, mit einem Protestmarsch vor dem Parlament. Dieses Mal sollte es die erste Protestdemonstration gegen die Regierung Milei werden, die sich mit Bedacht ihren Weg zur Plaza de Mayo bahnte, um Zusammenstöße mit der lokalen und der Bundespolizei zu vermeiden. So verlief diese Demonstration auch weitgehend friedlich und wurde nicht zur ersten Kraftprobe mit der neuen Regierung. Doch noch auf dem Heimweg erreichte viele Teilnehmende die tönende nächste Ankündigung des Präsidenten.
Milei wählte den symbolträchtigen 20. Dezember, um in einer landesweit von allen Sendern übertragenen Ansprache ein «Notwendiges und dringliches Dekret» (DNU) mit 300 Maßnahmen vorzustellen. Diese Form der Kommunikation hatte zuletzt der inzwischen aus dem Amt geschiedene Präsident Alberto Fernández während der Covid-Pandemie gewählt, um die Rettungsmaßnahmen seiner Regierung zu verkünden. Milei geht in Form und Inhalt damit aufs Ganze. Ein Megadekret als DNU durchzupeitschen ist in Argentinien auf Notsituationen wie Kriegszustand oder Pandemie beschränkt. Es ist höchst umstritten, ob Milei hier verfassungskonform gehandelt hat. Aber er setzt auf Geschwindigkeit und hofft so, seine Kritiker*innen so auszuhebeln. Bereits am 28.12. 2023 traten seine Dekrete in Kraft. Weder Gericht noch Parlament ist es bislang gelungen, diese zu stoppen.
Auch den ersten Fernsehauftritt inszenierte die neue Regierung mit einer völlig neuen Ästhetik. Vor dem neuen Emblem des Präsidentenpalastes, einer Kopie des Logos des Weißen Hauses, sitzt die Regierungsmannschaft mit ihren ungewählten Beratern einträchtig zusammen, wie auf einem Familienfoto. Und das ist die Essenz dieser Regierung: Unter der Führung des ultraneoliberalen Thatcheristen und rechtsextremen Esoterikers Milei - der außerhalb Argentiniens fälschlicherweise immer noch als «Anarchokapitalist» bezeichnet wird -– versammelt sich neben der Vizepräsidentin Victoria Villaruel die Tochter eines führenden Generals aus den bleiernen Jahren der Militärdiktatur und heute Interessenvertreterin der alten Junta-Generäle, auch der bürgerliche Teil der Regierung mit Wirtschaftspolitikern aus der Regierung Mauricio Macri (2015 – 2019), die nun auf die Wirtschafts-Schock-Doktrin hoffen, die ihnen unter Macri verwehrt geblieben war. Und Patricia Bullrich, die alte (unter Macri) und neue Sicherheitsministerin, die das bürgerlich-konservative Bündnis «Juntos por el Cambio» («Gemeinsam für den Wechsel») bei diesen Wahlen in eine katastrophale Niederlage führte und sich dann dem Bündnis mit Milei verschrieb, um nicht in die politische Bedeutungslosigkeit abzurutschen.
Ergänzt wurden die 300 Maßnahmen durch zehn Gesetze, die in Eilverfahren noch 2023 durch das Parlament gebracht werden sollen. Worum es in Mileis Ankündigungen, Verordnungen, Dekreten und Gesetzen geht, ist leicht auf den Punkt gebracht: Vor allem und in erster Linie geht es um den totalen Ausverkauf öffentlicher Unternehmen und öffentlichen Eigentums, um die komplette Deregulierung, um die Zerstörung von Arbeitsrechten und Umweltstandards. Zehntausende öffentliche Angestellte werden ihren Job verlieren. Die massive Abewertung der Landeswährung Peso führt bei der Freigabe der Exporte zu Schnäppchenpreisen insbesondere für US-Konzerne z.B. beim Einkauf von Lithium oder Fracking-Gas. Ein Schlemmerbuffet zur Selbstbedienung für Milliardäre und Freunde von Ex-Präsident Macri und Milei. Letzterer macht auch keinen Hehl daraus, dass es für die Mehrheit der Bevölkerung nichts zu gewinnen gibt. «Es wird jetzt erst einmal schlimmer, bevor es besser wird», lautet das neoliberale Credo des Präsidenten. Soziale Errungenschaften werden abgeschafft, denn für Milei sind «soziale Rechte eine Ungerechtigkeit, weil man sie anderen wegnimmt».
Milei übertrifft die Regierung des verurteilten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro (2018 – 2022) aus dem Nachbarland Brasilien bei weitem, was das Tempo der Zerstörung angeht. Aber gegen ihn regt sich in Argentinien auch schneller Widerstand. Seine Ansprache wurde von weiten Teilen der organisierten Zivilgesellschaft als Kampfansage verstanden und spontan mit Topfschlagen und anderem lautstarken Protest an den Fenstern beantwortet. Am 27.12. organisierten Gewerkschaften Protestmärsche mit zehntausenden Teilnehmenden. Das reicht aber sicherlich nicht aus, um den Kahlschlag tatsächlich zu stoppen.
In den beiden Kammern des Parlaments verfügt Milei nur über wenig Abgeordnete und selbst mit seinen Verbündeten von der konservativen Partei (PRO) reicht es eigentlich nicht für eine Mehrheit. Doch in den wenigen Tagen des Regierungshandelns zeigte Vizepräsidentin Villaruel bereits erstaunliches Geschick und hat Kräfte des rechten Provinz-Peronismus in ihr Lager eingebunden. So könnte es zu einer rechten Mehrheit im strukturell konservativen Senat kommen. Schwieriger dürfte es für Milei im Parlament werden, aber auch hier sind die Kräfteverhältnisse so unklar, dass Überraschungen nicht ausgeschlossen sind.
2024 wird ein interessantes Jahr in Argentinien.