Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Cono Sur - Brasilien / Paraguay Wer wählt die extreme Rechte in Lateinamerika?

Bolsonaros und Mileis Wahlerfolge unter der Lupe

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Autorin

Julia Almeida,

Javier Milei, der neu vereidigte Präsident Argentiniens, umarmt den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro bei seiner Amtseinführung, 10. Dezember 2023.
Javier Milei, der neu vereidigte Präsident Argentiniens, umarmt den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro bei seiner Amtseinführung, 10. Dezember 2023. Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Eine erste Analyse des Wahlverhaltens in Argentinien und Brasilien deutet darauf hin, dass sowohl Javier Milei als auch Jair Bolsonaro, trotz eindeutiger sozialer Unterschiede im Profil der extrem rechten Wähler*innen ihrer Länder, die dort waltende Empörung über den Verlust der Lebensqualität für ihre Zwecke mobilisieren konnten. Beide Kampagnen zeichneten sich durch eine neokonservative Agenda sowie durch Hassreden aus, die in den sozialen Medien mithilfe unterschiedlicher digitaler Formate und der Verbreitung von Fake News befeuert wurde.

Die Rechtswissenschaftlerin Julia Almeida führte zu den Wahlen in Argentinien eine Feldforschung durch und ist Autorin des 2023 erschienenen Buches «A militarização da política no Brasil contemporâneo» («Die Militarisierung der Politik im aktuellen Brasilien»). Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe DHCTEM («Menschenrechte, Zentralität der Arbeit und Marxismus») und lehrt an der Universidade Anhembi Morumbi in São Paulo.

In diesem Artikel soll zunächst das Phänomen des Zuwachses der extremen Rechten in Brasilien und Argentinien verglichen werden. Anschließend werden einige Hypothesen daraus abgeleitet. Als Grundlage dienen die folgenden drei Aspekte:

  1. das Profil der Wähler*innen von Milei im zweiten Wahlgang in Argentinien 2023 und von Bolsonaro in Brasilien 2018 und 2022;
  2. die Zustimmung der Wähler*innen beider Kandidaten zu konservativen Werten in den Jahren 2023 und 2022; und
  3. Daten zum Profil der engagiertesten Anhänger*innen, die an politischen Auftritten der Kandidaten teilnahmen, aus dem Jahr 2023.

Abschließend sollen mögliche Entwicklungstendenzen der extremen Rechten für den Fall umrissen werden, dass es ihr mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht gelingen sollte, den Erwartungen gerecht zu werden, die sie bei ihrer eigenen Basis geweckt hat.

Gesellschaftliche Mehrheiten

Der argentinische Präsidentschaftskandidat Javier Milei brachte 2023 eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich und errang mit der Unterstützung von Juntos pela Mudança (Gemeinsam für Veränderung) – dem stärksten Oppositionsbündnis des Landes, das im ersten Wahlgang auf dem dritten Platz lag – den Sieg. Insgesamt stimmten im ersten Wahlgang circa 14,1 Millionen Wähler*innen für Milei und Patricia Bullrich (die Präsidentschaftskandidatin von Juntos pela Mudança), was annähernd der Anzahl von Wähler*innen entspricht, die im zweiten Wahlgang für Milei votierten (14,4 Millionen). Die Zahlen zeigen, wie stark die argentinischen Präsidentschaftswahlen vom Wunsch nach Veränderung geprägt waren und wie sehr der Regierungskandidat infolge der argentinischen Wirtschaftskrise abgelehnt wurde.

In Brasilien konnte Bolsonaro 2018 eine gesellschaftliche Mehrheit überzeugen, als er mit einem ähnlichen Vorsprung wie Milei gegen seinen Konkurrenten gewann. 2022 werden dagegen zwei wichtige Unterschiede zu Milei und zu 2018 deutlich (die weiter unten analysiert werden): Denn zu dieser Zeit war Bolsonaro Regierungschef und musste gegen einen sehr beliebten Herausforderer antreten, der diesmal nicht (wie 2018) von der Wahl ausgeschlossen war.

Im Anschluss an diese Erwägungen sollen nun die Daten[1] in Augenschein genommen werden:

Einkommen[2]

Milei (2023) – AtlasIntel

Bolsonaro (2022) – AtlasIntel

Bolsonaro (2018) – Datafolha

Sehr geringes bis geringes Einkommen

56,38%

30,23%

42%

Geringes bis mittleres Einkommen

51,46%

54,58%

---

Mittleres Einkommen

53,40%

53,57%

61%

Mittleres bis höheres Einkommen

58,71%

---

---

Hohes Einkommen

50,06%

53,68%

69%

Sehr hohes Einkommen

43,2%

48,28%

67%

Bildungsgrad

Milei (2023) – AtlasIntel

Bolsonaro (2022) – AtlasIntel

Bolsonaro (2018) – Datafolha

Niedrig

41,67%

43,47%

44%

Mittel

55,69%

47,93%

58%

Hoch

50,38%

45,39%

61%

In Bezug auf das Einkommen ist festzustellen, dass Bolsonaro 2018 nur bei den Wähler*innen mit den geringsten Einkommen verloren hat. Bei den Wähler*innen mit einem Einkommen über zehntausend Reais (den Einkommensstärksten) lag er dagegen weit vorn und verdankte seinen Sieg schließlich vor allem den Stimmen der Mittelschicht. 2022 hat sich das Profil gegenüber 2018 ein wenig verändert; nach vier Jahren Regierung verlor Bolsonaro einen Teil seiner einkommensschwächsten und einkommensstärksten Unterstützer*innen, behauptete sich allerdings in den mittleren Einkommensgruppen. Milei wurde dagegen von fast 60 Prozent der Einkommensschwächsten, mit einem monatlichen Einkommen bis hunderttausend Pesos, gewählt. Zudem gewann er in allen mittleren Einkommensgruppen, wenn auch mit niedrigeren Werten, und verlor bei den Reichsten.

Es sollte noch erwähnt werden, dass die Institute in den zitierten Umfragen keine Daten zur ethnischen Zugehörigkeit (raça) erhoben haben, was für verschiedene Aspekte zur Identifizierung des Wähler*innenprofils interessant wäre.

Geschlecht

Milei (2023) – AtlasIntel

Bolsonaro (2022) – AtlasIntel

Bolsonaro (2018) – Datafolha

Männlich

54,93%

53,95%

60%

Weiblich

51,43%

38,85%

50%

Alter

---

---

---

16-24 Jahre

78,24%

41,45%

50%

25-34 Jahre

57,7%

44,5%

56%

35-44 Jahre

48,39%

48,09%

56%

45-59 Jahre

43,26%

48,39%

54%

60 Jahre oder älter

44,25%

43,82%

56%

Was das Altersprofil betrifft, lassen sich aussagekräftige Unterschiede ablesen. So stützt sich das Milei-Phänomen vor allem auf junge Wähler*innen, insbesondere im Alter von 16 bis 24 Jahren. Dagegen verliert er zunehmend bei allen Gruppen über 35. Sein Erfolg bei der Jugend unterscheidet sich stark von der Bolsonaro-Bewegung. Sowohl 2018 als auch 2022 wurde der Kandidat der extremen Rechten von der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen am stärksten abgelehnt. Zwar haben alle Altersgruppen zu seinem Sieg 2018 beigetragen, aber die geringste Unterstützung erzielte er bei jungen Wähler*innen. 

Außerdem überwiegen bei Bolsonaro die männlichen Wähler stärker als bei Milei. Grund dafür mag Bolsonaros noch neokonservativere Haltung sein, die ein traditionelles Familienbild beinhaltet (inklusive Befürwortung von Gewalt und Waffenbesitz).

Waffen und Religion

Was die hier analysierten kulturellen Aspekte betrifft, so unterscheiden sich Brasilien und Argentinien heute vermutlich am meisten im Bereich der Religion.

Die katholische Kirche wird als einzige Religion durch den argentinischen Staat[3] subventioniert. Ihr gehören circa 62,9 Prozent der Bevölkerung an. Obwohl die Zahl der Katholik*innen in den letzten Jahren um etwa zehn Prozent gesunken und die der Evangelikalen zwischen 2008 und 2019 um neun Prozent auf 15,3 Prozent gestiegen ist, bilden Katholik*innen immer noch eine deutliche Mehrheit.

Die hier berücksichtigten Umfragen geben keinen Aufschluss über das Verhältnis zwischen Religion und Wahlverhalten in Argentinien. Allerdings wissen wir, dass evangelikale Anhänger*innen in Brasilien wesentlich zur politischen Basis des Bolsonarismus gehören und zum Wahlerfolg beitrugen. In Argentinien spielt der Faktor Religion bei Mileis Kandidatur keine Rolle, abgesehen vielleicht von einer Verbindung, die eher in eine jüdisch-mystizistische Richtung weist (inklusive der totalen Unterstützung der Position Israels im aktuellen Krieg gegen Palästina). Erwähnenswert ist auch, dass Milei den Vatikan und Papst Franziskus verbal attackiert hat.

Eine klare Gemeinsamkeit in beiden Ländern zeigt sich jedoch beim Wahlverhalten von Mitgliedern des Militärs. Eine von Promisa veröffentlichte Umfrage (2023) zeigt, dass fast 90 Prozent der Militärangehörigen Mileis Kandidatur unterstützten. Auch Bolsonaro hat hier einen wesentlichen Teil seiner politischen Basis. Er ist nicht nur selbst ein ehemaliger Offizier, sondern ernannte in beiden Wahlkämpfen militärische Amtsinhaber zu Kandidaten für die Vizepräsidentschaft (Mourão 2018 und Braga Netto 2022). Mit über sechstausend Militärs auf Posten der brasilianischen Bundesregierung und etlichen Militärs unter den Minister*innen bildete er die militarisierteste Regierung seit dem Ende der Militärdiktatur, ganz zu schweigen vom Ansehen, das er innerhalb der Militärpolizei genießt.  

In Argentinien wiederum wurde nach dem Ende der dortigen Militärdiktatur eine zivile Kontrolle über die Streitkräfte etabliert und deren Einfluss auf innere Angelegenheiten und die Polizei eingeschränkt. Außerdem ist die Polizei nicht im gleichen Maße militarisiert. Allerdings ist rund um den neuen Präsidenten eine Neuorganisation der konservativsten Teile der Streitkräfte zu beobachten, vor allem durch seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel, die selbst aus einer Militärfamilie stammt und für dieses Projekt steht. Die revisionistische Haltung des Bündnisses Milei/Villarruel in Bezug auf die Anzahl der toten und verschwundenen Opfer der Militärdiktatur ist kein Zufall. Dahinter steht der Versuch, die kollektive Erinnerung zu untergraben bis hin zu einer möglichen Amnestie oder Urteilsrevision in einigen Prozessen gegen Militärangehörige.

Kernwähler*innen und Kernthemen

Es muss betont werden, dass sich trotz des quantitativen Stimmenzuwachses für Milei im zweiten gegenüber dem ersten Wahlgang die allgemeinen Merkmale seiner Wähler*innen nicht grundlegend verändert haben. Als Kandidat konnte er die meisten16- bis 24-Jährigen (mit deutlichem Abstand zu den übrigen Altersgruppen) und 25- bis 34-Jährigen überzeugen. Er gewann auch eine größere Mehrheit unter männlichen als unter weiblichen Wählern, vor allem im ersten Wahlgang. Ebenso bleibt er der bevorzugte Kandidat der einkommensschwachen Sektoren.

Was Bolsonaros Wähler*innen betrifft, so ist beim Vergleich der beiden Wahlgänge das gleiche Phänomen zu beobachten. Auch hier veränderte sich das Alters-, Einkommens- und Genderprofil der Wähler*innen kaum. Unterschiede traten dagegen zwischen den beiden Wahlen auf.

Bei der Betrachtung von Mileis Kernwähler*innen – den circa 30 Prozent der argentinischen Bevölkerung, die ihm bereits im ersten Wahlgang ihre Stimme gaben – sind die Parallelen zu Bolsonaro und dessen neokonservativer Agenda noch deutlicher.

Kernthemen[4]

Argentinische Gesellschaft (2023)

Milei-Wähler*innen (2023)

Brasilianische Gesellschaft (2022 und 2023)

Bolsonaro-Wähler*innen 2022 (1. Wahlgang) und 2023

Legalisierung der Abtreibung (dagegen)

42%

60,2%

72,6% (2022)

95,7%(2022)

Legalisierung von Cannabis (dagegen)

40%

43,8%

75,5% (2022)

95,1%(2022)

Homosexuelle Ehe (dafür)

66%

54,1%

---

---

Tragen von Waffen (dafür)

20%

43,6%

50% (2023)

67% (2023)

Dollarisierung

35%

83,2%

---

---

Es ist offensichtlich, dass Mileis und Bolsonaros Wähler*innen ihre konservativen Werte teilen. Dabei ist die argentinische Gesellschaft derzeit weniger konservativ als die brasilianische (selbstverständlich haben die vier Jahre einer extrem rechten Regierung die öffentliche Debatte mitsamt ihren Werten geprägt), was den prozentualen Unterschied zwischen Mileis und Blsonaros Wähler*innen teilweise erklären kann.

Ohne hier auf die historischen und gegenwärtigen Ursprünge des Konservatismus beider Gesellschaften einzugehen, scheint der ausschlaggebende Aspekt für das Verhalten der extremen Rechten, dass in sämtlichen Punkten sowohl Bolsonaros als auch Mileis Wähler*innen diese konservativen Werte stärker vertreten als die allgemeine Bevölkerung beider Länder.[5]

Schließlich muss mit Blick auf Argentinien unbedingt berücksichtigt werden, wie sehr Frauenrechte und insbesondere das Recht auf Abtreibung im Mittelpunkt der politischen Debatte und des Wahlkampfes standen. Nach einer umfassenden Mobilisierung konnten die Argentinierinnen 2020 die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen durchsetzen. Obwohl die Mehrheit der Gesellschaft diesen Schritt befürwortet, zeigt sich, dass Mileis Kandidatur die Gegner*innen dieser Politik vereint und organisiert.[6] Mit anderen Worten: Es handelt sich also auch um eine konservative Reaktion auf den Fortschritt der Frauenrechte.

Politische Avantgarde

Umfragen von «Monitor do Debate Político no Meio Digital» (Monitor für politische Debatten im digitalen Bereich) der Universidade de São Paulo unter den Zuschauer*innen bei Mileis letztem Auftritt vor dem ersten Wahlgang (25.10.) und bei der letzten Kundgebung der extremen Rechten in Brasilien (26.11.) offenbaren die Übereinstimmung in der konservativen und neoliberalen Einstellung (bei neoliberalen Werten sind sich die Zahlen am ähnlichsten). Wie Pablo Ortellado in seinem Artikel in O Globo aufzeigt, kann sich dies im Laufe der Amtszeit Mileis möglicherweise ändern.

Prozent der Befragten, die den Aussagen zustimmen

Bolsonaro- Kundgebung

Milei-Kundgebung

Die Menschenrechte erschweren den Kampf gegen Kriminalität.

81%

71%

In der Schule werden Themen unterrichtet, die den Familienwerten widersprechen.

84%

64%

Im Internet lassen sich Wahrheiten finden, die die  Tageszeitungen und das Fernsehen verheimlichen wollen.

98%

96%

Künstler*innen respektieren die moralischen Werte der Nation nicht.

78%

49%

Das Wahlsystem ist vertrauenswürdig.

6%

28%

Regierungshilfen demotivieren die Menschen zu arbeiten.

82%

87%

Arbeitsgesetze behindern eher das Wachstum der Unternehmen, als dass sie die Arbeiter*innen schützen.

74%

78%

Die Regierung sollte nicht für alle Bedürfnisse der Bevölkerung zahlen.

71%

70%

Das Arbeitsbuch (in dem alle bisherigen Arbeitsverhältnisse registriert werden) nimmt den Arbeiter*innen ihre Freiheit.

26%

23%

Bolsonaros und Mileis Kernwähler*innen (politische Avantgarde) vertreten ähnliche neokonservative und sehr ähnliche neoliberale Werte. Ortellado weist des Weiteren darauf hin, dass diese Frage womöglich auch mit einer Tendenz zur Radikalisierung nach der Wahl Bolsonaros in Zusammenhang steht, zu der es auch unter Mileis Wähler*innen kommen kann. Zuletzt ist zu betonen, dass die Formierung und Artikulation der extremen Rechten in Argentinien ein wesentlich neueres Phänomen ist als in Brasilien, weshalb die Entwicklung einiger Merkmale zeitverschoben ist.

Schlussfolgerungen

Der Aufstieg der extremen Rechten in Argentinien und Brasilien fand nicht vor dem gleichen Hintergrund statt. Allen voran gab es eine unterschiedliche politische Ausgangslage: Bolsonaro wurde 2018 nach einem parlamentarischen Putsch (der die Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei ihres Amtes enthob) und der Inhaftierung Lulas gewählt. Womöglich hätte Bolsonaro seinen Konkurrenten Lula bei der Wahl 2018 nicht besiegt, da dieser in sämtlichen Umfragen vorne lag. Bolsonaros Wahlerfolg ereignete sich also in einem Klima, in dem Politik und Institutionen bereits durch die autoritären Rahmenbedingungen geschwächt waren und die gesellschaftliche Mehrheit von Lulas Inhaftierung beeinflusst wurde.

Mileis Kandidatur hingegen ist von vornherein energiegeladen, jung, pulsierend. Er konnte das Scheitern der Regierung von Alberto Fernández und seines möglichen Nachfolgers Sergio Massa für seine Zwecke nutzen. Milei ist also das Produkt der aktuellen Krise des Kirchnerismus (der bereits bei den Wahlen 2015 dem ultraneoliberalen Mauricio Macri, einem Parteigenossen Bullrichs, unterlegen war).

Aber in gesellschaftlicher Hinsicht gibt es bedeutende Unterschiede. Die mobilisierten Anhänger*innen und die wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen rund um Milei und Bolsonaro sind nicht die gleichen. Während Milei jüngere und ärmere Sektoren zur Stimmabgabe und zum politischen Engagement mobilisierte, setzte sich Bolsonaro eher bei älteren Wähler*innen und in der Mittelschicht durch. Beide sind insofern beliebt, als dass sie große Teile der Bevölkerung für sich gewinnen konnten und für wichtige Sektoren der allgemeinen Bevölkerung stehen.   

Die sozioökonomischen Differenzen zwischen den brasilianischen und den argentinischen Wähler*innen drücken sich allerdings nicht in unterschiedlichen politischen Tagesordnungen aus. Beide stimmen in ihrer Verteidigung einer neokonservativen und neoliberalen Agenda überein. Tatsächlich ist die politische Haltung der Wähler*innen in diesen Fragen fast deckungsgleich (besonders beim Vergleich der engagiertesten Unterstützer*innen der extremen Rechten beider Länder).

Daraus lassen sich Rückschlüsse für die Formierung der extremen Rechten weltweit ziehen. Erstens verfügt sie offenbar über eine beeindruckende politische Artikulationsfähigkeit und eine Bewegung, die weltweit hinter einer einheitlichen Agenda steht. Zweitens ist sie zwar das Produkt der globalen Wirtschaftskrise nach 2008, entspricht mit ihren wirtschaftlichen Interessen aber nicht unbedingt den Erwartungen der Bevölkerungsgruppen, die ihre Agenda unterstützen. Das heißt, zwischen dem wirtschaftlichen Diskurs und der Frage, wer letztlich davon profitieren wird, ergibt sich eine Diskrepanz. Ebendies könnte ein Schlüsselmoment sein. Wer profitiert und wer verliert durch den Aufstieg der extremen Rechten?

Milei wurde als volksnaher Kandidat gewählt, die Mehrheit der Ärmsten hat für ihn gestimmt. Also ist er seinen Wähler*innen eine Antwort schuldig. Das Problem ist, dass seine Agenda keine Umverteilung, sondern vielmehr eine wirtschaftliche Konzentration anstrebt. Seine Alternative ist die Beendigung verschiedener Mechanismen zur Einkommensumverteilung in der argentinischen Gesellschaft, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Deshalb wird er an einen Punkt kommen, an dem sich entweder das Profil seiner Wähler*innen verändert oder er selbst scheitern wird.

Seine extrem junge Basis ist auch ein Zeichen für eine Generationenkrise in Argentinien. Er mobilisiert den am stärksten von der Krise getroffenen Sektor, der unter der Prekarisierung der Arbeit leidet und sich keine andere Zukunft vorstellen kann. Diese Generationenkrise ist auch eine Tendenz im globalen Kapitalismus angesichts wachsender Ungleichheit und der zunehmenden Prekarisierung der Arbeit.

Ebendies ist ein wunder Punkt für extrem rechte Regierungen, da ihre Wirtschaftsagenda in aller Regel zur Einkommenskonzentration tendiert (und sich Umverteilungsmechanismen durch eine neoliberale Politik in den Weg stellt); ihre Stärke liegt hauptsächlich im Hass auf irgendeinen politischen Sektor (Antagonismus gegenüber der Arbeiterpartei, Anti-Kirchnerismus usw.), in ihrer neokonservativen Werteagenda und/oder in der Agenda einer institutionell-autoritären Spannung.

Doch sobald sie an der Regierung sind, verlieren Politiker*innen der extremen Rechten eine ihrer treibenden Kräfte, und zwar die Möglichkeit, die Empörung der Bevölkerungsmehrheit auszunutzen. Deshalb tendieren sie dazu, den radikalen, politischen und ideologischen Diskurs zu verschärfen und einen noch konservativeren und engagierteren Kern als zum Zeitpunkt ihrer Wahl um sich zu versammeln. So war es bei Trump, so war es bei Bolsonaro.

Milei wird nicht unbedingt den gleichen Weg wie seine wichtigsten Vorgänger einschlagen, aber er sieht den gleichen Herausforderungen und einer zugespitzten Lage entgegen (einkommensschwache Basis, Wirtschaft in der Krise, knappe Ressourcen). Macht er es wie seine Vorgänger, wird er nicht wiedergewählt. Dies ist das Problem der extremen Rechten in Bezug auf die Dynamik der liberalen Demokratie: Die ersten Wahlerfolge lassen sich nur schwer wiederholen. Darauf deuten die Putschversuche Trumps mit dem Sturm aufs Kapitol und Bolsonaros mit dem Sturm auf den Kongress hin. So kann es sein, dass die extreme Rechte weltweit mit der Verschärfung einer institutionell-autoritären Agenda womöglich in eine zweite Runde geht.
 

Übersetzung aus dem Portugiesischen von Laura Haber und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective.


[1] Erhebungen von AtlasIntel zu den Wahlen in Argentinien 2023 (Umfrage vom 5.–9.11.), in Brasilien 2022 (Umfrage vom 21.–25.11.) und von Datafolha 2018 (Umfrage vom 26. und 27.10.). – An dieser Stelle sind einige methodologische Überlegungen angebracht: Erstens können Wahlergebnisse zwischen Ländern mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unterschieden nicht ohne Weiteres verglichen werden, wenn sich die Bevölkerung im Gesamtprofil in bedeutendem Maße unterscheidet. Werden jedoch große soziale Indikatoren (Geschlecht, Alter, Einkommen) auf derselben methodologischen Grundlage ermittelt (aus diesem Grund wurden die Daten von AtlasIntel bevorzugt, denn das Institut erhebt seine Daten in beiden Ländern mit derselben Methodologie), ist es möglich, annähernd sichere Aussagen zu machen. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass sich die Umfrageinstitute in einer Glaubwürdigkeitskrise befinden, die sich insbesondere aus der Schwierigkeit ergibt, ein klares Bild der extrem rechten Wähler*innenschaft zu gewinnen. So lag die Umfrage von AtlasIntel in Argentinien weit über der Fehlermarge. Trotzdem gelten diese Umfragen als wichtiges Stimmungsbild. Zuletzt ist anzumerken, dass für Brasilien 2018 keine Daten von AtlasIntel vorliegen, da sich das Institut vor allem ab 2019 erst konsolidiert hat.

[2] Die AtlasIntel-Umfrage schlüsselt ihre Daten nicht nach gültigen und ungültigen Stimmen auf. Die Gesamtzahl der gültigen Stimmen ergibt sich hier also nach einer Schätzung der Anzahl an leeren oder ungültigen Stimmzetteln in den jeweiligen Kategorien. Hierdurch wurde auch Mileis Fehlermarge um ein Prozent angehoben, um ein Ergebnis zu erzielen, das näher an den tatsächlichen Wahlergebnissen liegt, da die Umfrage sehr ungenau ist. Dies setzt natürlich voraus, dass die Fehlermarge in allen Bereichen gleich ist, was nicht immer der Fall ist. Wichtig ist allerdings, dass die gleiche Methodik verwendet und somit der Vergleich zwischen Brasilien und Argentinien ermöglicht wird. Aus diesem Grund werden auch die Ergebnisse der Promíscua-Umfrage herangezogen, um herauszufinden, um wie viel Prozent die Schätzungen von den tatsächlichen Wahlergebnissen abweichen.

[3] Gemäß Artikel 2 der Argentinischen Verfassung unterscheidet sich der Status der katholischen Kirche von den übrigen Religionen und verpflichtet zu staatlichen Subventionen.

[4] Wahlumfrage von AtlasIntel in Argentinien 2023 (5.–9.11.) und Brasilien 2022 (21.–25.11.) sowie Untersuchung der ideologischen Landkarte von Datafolha Juni 2023.

[5] Hervorzuheben ist allerdings in Bezug auf das Wahlergebnis von Patricia Bullrich, dass ihre konservative Haltung auch bei Themen wie Abtreibung und Drogen zum Tragen kommt, obwohl sie keinen so großen Stimmenanteil erreicht wie Milei – aber es hilft, die starke Wähler*innenmigration zu verstehen.

[6] Was besonders bemerkenswert ist, nachdem die katholische Kirche den Widerstand gegen die Legalisierung so stark angeführt hat.