Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Kampf gegen Rechts - Koalition ohne Fortschritt Die «Mitte» hält nicht mehr, und alles verwildert

Zur Halbzeit der Berliner Regierungskoalition

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Alban Werner,

Demoteilnehmer demonstrierten gegen den Rechtsruck in Deutschland, für Vielfalt und den Erhalt der Demokratie in Witzenhausen.
Demoteilnehmer*innen demonstrierten gegen den Rechtsruck in Deutschland, für Vielfalt und den Erhalt der Demokratie in Witzenhausen, 27.01.2024. Foto: IMAGO / Müller-Stauffenberg

Anfang 2024 drängen in Deutschland Millionen Menschen auf die Straße. Sie protestieren gegen die rechtsradikale Partei «Alternative für Deutschland» (AfD). Demonstrationen gegen die radikale Rechte hatte es schon zuvor gegeben, aber noch nie in diesem Umfang und in dieser Breite. Nicht nur die «üblichen Verdächtigen» aus der politischen Linken, der Antifa und sozial Bewegte treffen sich bei den Aktionen – bis weit ins Lager der Christdemokratie und der Wirtschaftsliberalen hinein bringt man jetzt seine Empörung über die AfD und seine Sorge um die Zukunft der Demokratie zum Ausdruck.

Alban Werner, geb. 1982, lebt und arbeitet in Köln. 1999–2004 in der SPD, seit 2005 Mitglied der PDS, dann der LINKEN.

Anlass für die Proteste sind die Enthüllungen des Recherche-Netzwerks Correctiv über ein Geheimtreffen in Potsdam. Dort hatten sich Funktionäre der AfD mit Martin Sellner, einem Chefideologen der Identitären Bewegung in Österreich, getroffen und offenbar über dessen Pläne diskutiert, die auf eine ethnische Säuberung Deutschlands nach einer Machtübernahme durch die radikal rechte Partei hinauslaufen. Doch die Gründe für die Aufregung und Demonstrationen reichen tiefer.

«Die ‹Bewegung›, die sich jetzt auf den Straßen dagegen zusammenfindet», diagnostiziert treffend die konservative FAZ, «drückt insofern das Unbehagen in einer neuen Zeit aus, in der es die alten Gewissheiten der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte nicht mehr gibt. ‹Gegen rechts› lässt sich paradoxerweise als konservatives Aufbegehren gegen den Untergang eines vertrauten Parteiensystems interpretieren». Der Hintergrund hierfür ist, dass die AfD droht, bei den Europawahlen im Juni und bei drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst des Jahres fulminante Siege einzufahren. Damit steht das Gespenst einer Regierungsbeteiligung der radikalen Rechten im Raum – und das bewegt die Gemüter. Nicht zufällig äußern Menschen mit Migrationshintergrund zunehmend Ängste und Gefühle der Entfremdung, und das in einem Land, das längst – oft von Geburt an und eigentlich unwiderruflich – ihr Zuhause ist oder sein sollte.

Dabei ist vielen Kommentator*innen zuzustimmen, die argumentieren, dass der Erfolg der AfD nicht ohne eine Analyse der Politik der Bundesregierung – die sich bekanntlich aus der Sozialdemokratie, den GRÜNEN und der (wirtschafts-)liberalen FDP zusammensetzt – verstanden werden kann. Allerdings kann diese Politik nur erklärt werden, wenn man auf die Bedingungen blickt, unter denen sie operiert.

Deutschlands Mitte kommt nicht mehr zur Ruhe

Zweifelsohne hat die sogenannte Ampelkoalition (Rot für die SPD, Gelb für die FDP und die Grünen) sich bei vielen ihrer Vorhaben keineswegs mit Ruhm bekleckert. So wird etwa die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes, mittels dessen der Anteil fossiler Energieträger reduziert und der Umstieg auf klimafreundliche Heizungen eingeleitet werden soll, in die Politik-Lehrbücher eingehen als Beispiel dafür, wie man Klimaschutzpolitik nicht betreiben darf. Denn so sehr das Vorhaben grundsätzlich zu begrüßen ist, so schlecht war es gemacht und kommuniziert worden. Im Ergebnis wurde es stark abgeschwächt und trug wesentlich zum Vertrauensverlust gegenüber der Regierung bei.

Noch größere Probleme jedoch liegen in der politischen «Großwetterlage», in selbst auferlegten Fesseln der Politik und in einer ungünstigen parteipolitischen Konstellation. Die Großwetterlage, und hier vor allem die außenpolitische Konstellation seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, prägt das harte Aufwachen der Deutschen aus der trügerischen Ruhe der Ära Merkel – mit hohen Folgekosten, auch für die arbeitende Bevölkerung.

Die selbst auferlegten Fesseln der Politik sind eine direkte Folge der jahrzehntelangen Dominanz des Neoliberalismus. Dabei hatte die schlimmste Phase neoliberaler Zumutungen schon vor Beginn der Finanzkrise geendet – und zwar nach Einführung der sogenannten Agenda 2010, einer 2004/05 durchgesetzten «Reform» des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarkts, das letztlich eine massive Enteignung der arbeitenden Klassen bedeutete.

Lange fühlten sich die seit 2005 von Angela Merkel regierten Deutschen in einer Welt, die ringsherum von Umbrüche und Krisen gekennzeichnet war, wie auf einer Insel der Glückseligen. Unterm Strich profitierte Deutschland nach der globalen Finanzkrise 2008/09 durch die erhöhte Nachfrage nach seinen Exporten und von der Eurokrise durch einen schwachen Euro. Hinzu kamen bis 2019 satte 440 Milliarden Euro Zinsersparnisse für den Bundeshaushalt, die daraus resultierten, dass Anleger der Bundesrepublik als «sicherem Hafen» Geld zu Traumkonditionen liehen. Die Flüchtlingskrise von 2015/16, in deren Verlauf über eine Million Schutzsuchende ins Land kamen, wurde rückblickend trotz fehlender Vorbereitung gut gemeistert. Wirtschaftspolitisch erwies sich selbst die globale Corona-Pandemie als Glücksfall: Der heutige Bundeskanzler, Olaf Scholz, musste seinen Sparkurs als damaliger Finanzminister aufgeben, um einen wirtschaftlichen Totalabsturz zu verhindern. Im Lichte der Corona-bedingten Einschränkungen gab die Bundesregierung  dann  exakt so viel aus, wie sie zuvor als Krisengewinnerin eingespart hatte.

Allerdings begann bereits unter der Regierung Merkel die Erosion einer langen Phase gesellschaftspolitischer Ruhe. Seit Amtsantritt der Ampel-Regierung war es mit der deutschen Gemütlichkeit endgültig zu Ende. Vorbei war die lange geglückte Strategie, für den Machterhalt möglichst alle politischen Konflikte zu vermeiden. Vorbei war es mit dem Tauschgeschäft zwischen Kanzleramt und Bevölkerung, das der Maxime folgte: «Ihr lasst mich regieren, ich lasse Euch in Ruhe». Vorbei war es mit der Zeit geringer Erwartungen, in der die arbeitenden Menschen froh über das bloße Ende neoliberaler Angriffe waren, und vorbei war es auch mit der diskursiven Dominanz eines diffusen Sozialliberalismus, der – größtenteils unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle – gesellschaftliche Öffnungen hin zu einer Einwanderungsgesellschaft und mehr Geschlechtergerechtigkeit erreichte.

Die Geschäftsgrundlage des Merkelismus wurde von außen und innen aufgezehrt. Von außen durch die geopolitischen Umbrüche, allen voran den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser traf Deutschland durch den Stopp russischer Gaslieferungen besonders empfindlich. Vor allem aber polarisierte die Debatte um die Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen die deutsche Öffentlichkeit.

Im Inneren wurde die deutsche Politik von ihren Selbsttäuschungen eingeholt. Die «Mitte», in Deutschland Sehnsuchtsort und angeblich zuverlässiger Pol politischer Vernunft, war sehr lange damit durchgekommen, Unvereinbares vereinbaren zu wollen. Sie wollte (und will) eine moderne öffentliche Infrastruktur, wirksamen Klimaschutz, Digitalisierung und manches mehr – hat aber mit der Verankerung der sogenannten Schuldenbremse im Grundgesetz 2009 ebenjene Vorhaben massiv erschwert. Denn die Schuldenbremse macht Bund und Ländern verbindliche Vorgaben zur Beschränkung der Ausgaben – und das auch noch konjunkturunabhängig.

In der Merkel-Ära und zu Beginn der Scholz-Regierung merkte man davon noch wenig, weil die Regierung wenig investierte und im Zuge der Coronakrise die Schuldenbremse krisenbedingt aussetzen konnte. Seit dem Ende der Niedrigzinsen und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das mit Notlagen begründete Ausgaben im Bundeshaushalt für nichtig erklärte, wurde der Bundesregierung die Geschäftsgrundlage entzogen. Auf einmal fehlten rund 60 Milliarden Euro. Verschwunden ist damit auch das Polster, das den Koalitionsvertrag der Ampel überhaupt erst ermöglicht hatte. Seitdem regiert eine rigide Kürzungspolitik, und die Klimaschutzziele wurden faktisch aufgegeben.

Durch diese unerwartete Entwicklung ist die amtierende Regierung noch verwundbarer, als es die vorausgehende Koalition aus Christ- und Sozialdemokratie war. Denn die FDP lehnt nicht nur eine Umgehung der Schuldenbremse, sondern auch jegliche Steuererhöhungen ab. Höhere Einkommen und Vermögen können so nicht stärker zur Finanzierung einer sozialökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft oder andere Vorhaben herangezogen werden. Damit sind zusätzliche Konflikte vorprogrammiert. Das liegt daran, dass gleich mehrere Trends bewirken, dass nicht erst eine Reduzierung sozialer Ungleichheit, sondern bereits der Erhalt des Status Quo stärkere Umverteilung und Regulierung erfordert. Denn ohne diese werden das Mietenniveau in den Wachstumsregionen weiter rasant steigen und die CO2-Bepreisung von Konsumgütern die Kaufkraft der Bürger*innen massiv schmälern.

Will Deutschland seinen vergleichsweise hohen Industrieanteil an der Wirtschaft behalten, ist zudem eine ehrgeizigere Industriepolitik notwendig. Hinzu kommen demografisch bedingte soziale Aufgaben. So wächst durch den höheren Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung der Bedarf an personenintensiven Dienstleistungen im Bereich Gesundheit und Pflege, die sich viele Menschen privat nicht leisten können. Die Kinderbetreuung ist bereits jetzt erschreckend unterbesetzt und unterfinanziert. Und schließlich erfordert die Einwanderung Investitionen in Integration und Wohnraum.

Rhetorische Aufrüstung und wachsende Straßenmobilisierung

Eine Debattenkultur und ein Agenda-Setting zu diesen Problemen sucht man allerdings vergeblich. Die Wende zur Kürzungspolitik, die faktische Aufgabe des 1,5-Grad-Ziels beim Klimaschutz und die gerade angesichts der hohen Inflation zu geringe Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf nur 12,41 Euro rufen zwar Kritik hervor, aber zu einer breiteren Mobilisierung kommt es bislang nicht. Die Regierungsparteien sind zwar in Wahlumfragen auf einem Tiefpunkt angelangt, verfügen aber bei den Verbänden und Gewerkschaften und in weiten Teilen der Zivilgesellschaft noch über beträchtliche Unterstützungsreserven. Zudem wären im heutigen Bundestag rechnerisch nur eine Wiederauflage der letzten Merkel-Koalition aus CDU/CSU und SPD oder ein Bündnis aus CDU/CSU, GRÜNEN und FDP als Alternativen möglich.

Aber statt den dargestellten Problemdruck zu thematisieren, kreist die gesellschaftliche Debatte um moralisch aufgeladene Themen. In der Forschung ist umstritten, wie stark die deutsche Gesellschaft insgesamt in feindliche Lager polarisiert ist. Unzweifelhaft hat sich allerdings die Tonlage verschärft. Politische Äußerungen werden durch Feindbilder motiviert und die Schlagabtausche von Karikaturen dominiert: Hier die Lastenfahrrad fahrenden, besserverdienenden, «woken», kosmopolitischen und arroganten GRÜNEN-Wähler*innen, dort das von Verschwörungsideologie und Rassismus getriebene AfD-Elektorat. Nützliche Idioten der NATO hier, Friedensfahnen schwenkende Putin-Freund*innen dort. Autofeindliche Verbotsfanatiker hier, unverantwortliche alte weiße Männer in SUVs dort, usw.

Die zunehmende Bedeutung sozialer Medien für die politische Kommunikation verschärfen diesen Trend erheblich, da die für sie typischen Darstellungsformen eingängiger Sharepics, kurzer Videos und affektierter Schlagzeilen sich vorzüglich für eine Agitation eignen, die mit Vereinseitigungen, Übertreibungen und moralischer Aufladung arbeitet – ein gefundenes Fressen gerade für die radikale und extreme Rechte.

Außerhalb der digitalen Sphäre bewegt die Öffentlichkeit sich in einer widersprüchlichen Doppelbewegung. Einerseits dominieren derzeit Demonstrationen und öffentlichkeitswirksame «Konsensthemen», bei denen nur das radikal rechte Spektrum außen vor bleibt; dies gilt selbst für die Grundanliegen von Fridays for Future. Die antifaschistisch-antirassistischen Proteste umfassen inzwischen das gesamte demokratische Spektrum. Adressiert wird durch diese Proteste eigentlich nie ein «Klassenfeind», sondern die staatliche Politik. Ein Beobachter spricht deswegen von «Anspruchsdurchsetzungskonflikten»: «Die Straße ist ein Ort der Ersatzpolitik für eine nicht funktionierende Kommunikation zwischen der Politik und Teilen der Gesellschaft».

Andererseits verschärfen sich soziale Schieflagen durch die Art und Mittel der Auseinandersetzungen. Die in Teilen erfolgreichen Bauernproteste haben unterstrichen, wie sehr sich soziale Konflikte unterscheiden. Während die Bauern einen Teil der Haushaltskürzungen zu ihren Lasten zurückdrängen konnten, erfolgt am unteren Bereich der sozialen Hierarchie ein scharfer Backlash. Beim sogenannten Bürgergeld, das an Langzeitarbeitslose und Arbeitsunfähige gezahlt wird, droht eine Rückkehr zu repressiven Maßnahmen – mit dem ausdrücklichen Ziel der Bundesregierung, dass die Betroffenen aus nackter Angst selbst die miesesten Jobs annehmen. Dieser Angriff wird begleitet von einem medialen Dauerfeuer, das auf der sachlich falschen Behauptung fußt, durch das Bürgergeld  würde sich Lohnarbeit für jene am unteren Ende des Arbeitsmarkts nicht mehr lohnen.

Darüber hinaus bezeugen verschiedene Phänomene, dass das politische Spektrum von innen und an seinen Rändern zerfasert. Hierzu zählt etwa die FDP-interne Mitgliederabstimmung über den Verbleib in der Regierung, die von den Befürworter*innen – trotz des massiven Einsatzes der Parteispitze – nur äußerst knapp gewonnen wurde. Und hierzu zählen auch weitere Parteigründungen, rechts wie links: So hat der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen jüngst eine Rechtsabspaltung von der CDU ins Leben gerufen. Und Ende letzten Jahres hat sich eine Gruppe von zehn Bundestagsabgeordneten von der Partei DIE LINKE abgespalten und mit dem «Bündnis Sahra Wagenknecht» eine neue politische Partei gegründet.

Ob diese neuen Formationen Erfolg haben werden, bleibt einstweilen offen. Problematisch ist diese Entwicklung, zumal aus linker Sicht, allemal. Viele fortschrittliche Anliegen erfordern zu ihrer Durchsetzung Konflikte, die sich nicht in die einstudierten Schemata der deutschen «Konsensgesellschaft» einfügen. Und die größere Unübersichtlichkeit erschwert die Einigung auf fortschrittliche Vorhaben.

Die AfD profitiert, DIE LINKE paralysiert?

Von alledem profitiert die AfD. Lange war ihre Wahl ein Paradox, denn keine andere Partei will mit ihr zusammenarbeiten, und die Umsetzung ihres Programms würde vielen ihrer Wähler*innen wirtschaftlich erheblich schaden. An ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen wird die AfD jedoch bisher so gut wie nie politisch gestellt. Neben den offenkundigen Ressentiments und rassistischen Einstellungen in ihrer Wählerschaft war die AfD immer auch ein Ventil, um dem Misstrauen und der Abscheu gegenüber den Regierenden Ausdruck zu verleihen. Inzwischen jedoch können immer mehr aus dem AfD-Elektorat mit einigem Recht konstatieren, dass sich die Wahl dieser Partei lohnt: Wenn ein ostdeutscher Landkreis wie Sonneberg einen AfD-Landrat wählt, redet ganz Deutschland zwei Wochen lang nur über diesen Landkreis.

Hinzu kommt, dass inzwischen die gesamte Politik (mit Ausnahme der Linkspartei) dem Sog der AfD gefolgt und auf eine restriktive Flüchtlingspolitik eingeschwenkt ist. Interessanterweise trägt auch die linksliberale Wählerschaft der GRÜNEN alle schmutzigen Kompromisse ihrer Partei an der Regierung mit, sei es der Flüssiggas-Deal mit dem Emirat Katar, die (implizite) Aufgabe der Klimaziele oder das jüngst beschlossene, gemeinsame europäische Asylsystem (GEAS). In Umfragen liegt die Partei weitgehend stabil bei etwa 15 Prozent.

Der AfD hingegen scheint bislang selbst die Aufmerksamkeit für das eingangs erwähnte Treffen mit extrem Rechten wie Sellner – einschließlich der Forderung massiver Deportationen entlang ethnischer Kriterien – kaum geschadet zu haben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ihre Erfolgsserie wie eine selbsterfüllende Prophezeiung funktioniert: Einer starken AfD in Umfragen (oder bei Wahlen) folgen höhere Aufmerksamkeit, mehr mediale Berichterstattung und verstärkte Angriffe durch die demokratischen Parteien. Genau dadurch fühlen sich dann deren Wähler*innen bestätigt. Die etablierte Politik, von der man ohnehin nichts mehr erwartet, massiv zu stören, ist das Kernversprechen der AfD. Es wird jedoch interessant sein zu beobachten, wie sich die Massendemonstrationen gegen die AfD mittelfristig auswirken. Dass sie eine Wirkung haben, zeigen die überaus nervösen Reaktionen der radikal Rechten auf die Proteste.

DIE LINKE hingegen scheint sich in der entgegengesetzten Bewegung zu befinden – in einem Teufelskreis von geringer Aufmerksamkeit, schwindenden Kompetenz- und Wirksamkeitszuschreibungen und schlechten Wahlergebnissen. Durch den Austritt der Abgeordneten um Wagenknecht hat die Partei im Bundestag ihren Fraktionsstatus verloren und kann künftig nur noch als Gruppe (mit weniger Rechten) im Parlament wirken. Ihre Hochburgen in den neuen Bundesländern sind – (noch) mit Ausnahme Thüringens, wo sie mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt – geschliffen. Im Westen der Republik hat sie zwar den Ruf des Schmuddelkinds weitgehend verloren, doch der erfreuliche Zulauf vieler neuer, vor allem junger Mitglieder kann bisher nicht aufwiegen, dass die Partei für viele zunehmend irrelevant erscheint. Will sie überleben, muss die Partei diesen Trend umkehren. Das erfordert nicht weniger, als sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

Auch kommt DIE LINKE nicht daran vorbei, im laufenden Notbetrieb das eigene Schiff umzubauen. Das Erfurter Programm von 2011 bezieht sich weitgehend auf eine Gesellschaft, die es so nicht mehr gibt: eine Welt ohne Pandemie, ohne Krieg in der Ukraine, ohne massive Fluchtbewegungen. Soll sie eine Zukunft haben, muss DIE LINKE neu begründen, wofür es sie gibt, und eine Orientierung dafür geben, wie sie die formulierten Ziele erreichen will. Die Zeit des Vertagens ist vorbei – die Uhr tickt.