Nachricht | Brasilien / Paraguay - Sozialökologischer Umbau - Ernährungssouveränität Wenn das Agrobusiness zur Waffe greift

Großgrundbesitz und extreme Rechte in Brasilien

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Nationalpark Chapada dos Veadeiros, 2019
Spiel mit dem Feuer: Illegale Brandrodungen folgen den Interessen des Agrobusiness. Nationalpark Chapada dos Veadeiros, 2019, Foto: Valter Campanato/Agência Brasil

Am 21. Januar wurde in Brasilien die indigene Anführerin Maria de Fátima Muniz Pataxó (Nega) erschossen. Seither diskutiert das Land über sich zunehmend paramilitärisch organisierende Großgrundbesitzer. Verantwortlich für die Tat im Süden des Bundesstaates Bahia sind Mitglieder der Gruppe Invasão Zero

Der Aufruf verbreitete sich in Windeseile in den sozialen Medien: «Die Bewegung Invasão Zero ruft – in geordneter, sicherer und friedlicher Weise – alle ländlichen Erzeuger, Landwirte, Händler und Landbesitzende auf, sich am 21. Januar 2024 um 10 Uhr an der Brücke des Rio Pardo einzufinden, um das enteignete Landgut von Herrn Américo Almeida zurückzuerobern. In Bahia darf es keine Besetzung von Eigentum geben». Invasão Zero steht für «Null Invasion» – gemeint sind damit Besetzungsaktionen im Rahmen von Landkonflikten. Dem Aufruf folgten rund 200 bewaffnete und wütende Fazendeiros (Großgrundbesitzer*innen) mit Dutzenden Pick-Ups. Gemeinsam brach der Mob auf zum Fazenda Inhuma, einem Landgut im Süden des Bundesstaates Bahia.

Die Fazenda grenzt direkt an das Territorium Caramuru-Catarina Paraguassu der indigenen Gemeinschaft Pataxó Hã-Hã-Hãe. Letztere erhebt weiterhin Anspruch auf das Gebiet, da die offizielle Ausweisung des Landbesitzes durch den Staat die Fläche ihrer angestammten Gebiete reduziert und damit das Land den Fazendeiros zugespielt hatte. Die Pataxó Hã-Hã-Hãe fordern das Gebiet jedoch bereits seit über 70 Jahren zurück. Mittlerweile gibt es sogar Gerichtsurteile, die das Land der Fazenda den Indigenen zusprechen. Doch dazu steht bislang noch die offizielle Ausweisung des Lands als indigenes Territorium durch die Indigenen-Behörde FUNAI aus, wie das Netzwerk Teia dos Povos berichtet. Um den politischen Druck zu erhöhen, hatten die Pataxó Hã-Hã-Hãe am 20. Januar eine sogenannte Retomada durchgeführt – eine Rückeroberung des Landes. Am Tag darauf kamen die bewaffneten Großgrundbesitzer.

Hetzjagd auf Indigene

Es lag kein Gerichtsbeschluss zur Räumung der Fazenda vor. Die Fazendeiros agierten vielmehr eigenmächtig als Miliz. Dabei wurden sie von der Militärpolizei unterstützt, die von Anfang an vor Ort war und ihnen nach offiziellen Zeug*innenaussagen den Weg freiräumte und sich im Anschluss an einer Hetzjagd auf Indigene beteiligte. Ein Zeuge beschreibt das Geschehen gegenüber den Medien später wie folgt: «Dann kamen die Rancher. Sie fingen an, auf uns zu schießen, verletzten Kinder und alte Menschen. Und sie schossen weiter, bis sie zwei indigene Anführer*innen trafen».

«Die Polizei hat auch geschossen […] Ich sagte: ‹Sergeant, das können sie uns nicht antun›. Er sagte: ‹Doch, das kann ich›. Und er hob sein Gewehr. Und er fing an, auf uns zu schießen, auf Frauen, Kinder, auf alle, die da waren», beschreibt eine weitere Zeugin gegenüber Brasil de fato die Situation. Ab diesem Moment begann eine regelrechte Hetzjagd auf die Pataxó bis hinein in das Indigene Gebiet.

Die Anführerin der Indigenen, Maria de Fátima Muniz Pataxó (genannt Nega), wurde dabei von den Fazendeiros erschossen. Ihr Bruder Nailton Pataxó, einer der ältesten und angesehensten indigenen Anführer Bahias, erlitt schwere Schussverletzungen an Bein und Hüfte. Weitere Indigene wurden bei dem Angriff verletzt, ihre Fahrzeuge in Brand gesteckt, Mobiltelefone zerstört und Lebensmittelvorräte vernichtet.

Unmittelbar nach dem Mord wurde der 19-jährige Sohn eines Fazendeiros sowie ein weiterer Fazendeiro, ein Polizist im Ruhestand, von der Polizei verhaftet. Nach forensischer Untersuchung wurde die Waffe des 19-Jährigen als Tatwaffe identifiziert. Der Gouverneur von Bahia, Jerônimo Rodrigues von der Arbeitspartei PT, erklärte, dass er eine «sofortige und strenge Untersuchung der Fakten» angeordnet habe. Rodrigues sagte auch, er habe den Fall mit Präsident Lula besprochen und versicherte, dass eine Task Force an den Ort des Konflikts geschickt worden sei. «Ich werde weiterhin dafür eintreten, dass wir keine Art von Gewalt oder Einschüchterung dulden werden, egal gegen wen sie hier in Bahia gerichtet ist», so der Gouverneur.

Der Überfall auf die Pataxó Hã-Hã-Hãe legt die zunehmende Brutalität bei Landkonflikten in Brasilien schonungslos offen: Die Landpastoral CPT zählt für die erste Hälfte des Jahres 2023 insgesamt 973 Landkonflikte, was einem Anstieg von 8 Prozent gegenüber 2022 entspricht. Der Indigenenmissionsrat CIMI nennt für das Jahr 2022 158 Fälle von Konflikten um Territorialrechte sowie illegales Eindringen und Ressourcenraub in 309 Fällen, die mindestens 218 Indigene Territorien in 25 brasilianischen Bundesstaaten betrafen.

Die Fazendeiros der Gruppe Invasão Zero schlossen sich im Mai 2023 in Bahia zusammen, um eine Landbesetzung durch die Landlosenbewegung MST zu verhindern. Die MST ist mit ihrem Kampf um eine Agrarreform in Brasilien, einem der Länder mit der höchsten Landkonzentration in der Hand von Großgrundbesitzer, eine der Hauptzielscheiben der Gruppe. Da die Indigenen Gemeinschaften Brasiliens in den letzten Jahren vermehrt die Rückgabe ihrer traditionellen Gebiete einfordern, sieht Invasão Zero in ihnen ihren zweitgrößten Widersacher.

Das Agrobusiness radikalisiert sich

Nach Angaben des Gründers von Invasão Zero, Luiz Uaquim, wurden bis Mai 2023 zunächst 16 regionale Gruppen gegründet, die damals bereits 220 Städte abdeckten. Mittlerweile soll die Gruppe auf 5.000 Mitglieder angewachsen sein. «Die Verfassung existiert nicht in Bahia. Es wird auch niemand für das Eindringen in Eigentum verhaftet. Also mussten wir reagieren und uns selbst organisieren, um die Eindringlinge aus eigener Kraft zu vertreiben», so Uaquim anlässlich seines Besuchs in Brasília wenige Wochen nach Gründung der Fazendeiro-Bewegung. Dort erhielt er prompt politische Unterstützung durch den Abgeordneten Luciano Zucco von der rechtsextremen Partei Republicanos.

In Anwesenheit des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, seines Ex-Umweltministers Ricardo Salles sowie der Ex-Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina gründeten Abgeordnete unter Führung von Zucco im Oktober 2023 die gleichnamige, parteiübergreifende Fraktion Invasão Zero im Parlament. Die Räume dafür stellte die Parlamentsfraktion Frente Parlamentar Agropecuária (FPA) zur Verfügung. Die FPA stellt derzeit 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus. In der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator*innen.  Als agrobusinessfreundliche ruralistas stellen sie die mächtigste Fraktion in den beiden Kammern des Nationalkongresses und kämpfen dort ganz offen und ungeniert gegen die Landrechte der Landlosen und der Indigenen. So setzt der rechtsdominierte Kongress skrupellos indigenenfeindliche Gesetze um. Dazu zählen etwa der Marco temporal, eine Stichtagsregelung, nach der indigene Völker nur Land beanspruchen können, wo sie bereits vor 1988 gelebt haben, oder das als «Giftpaket» titulierte Gesetzespaket  Freigabe von Agrargiften – ganz im Sinne des auf Profit fixierten Agrobusiness.

Teile des Agrobusiness greifen noch zu ganz anderen Mitteln. Der Sturm des Bolsonarista-Mobs, der sich am 8. Januar 2023 auf den Nationalkongress, den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichthof ereignete, wurde logistisch, finanziell und durch politische Äußerungen von Teilen des Agrobusiness unterstützt und befördert. Bei dem Angriff stürmten bis zu 4.000 Demonstrant*innen die drei Gebäude, richteten Verwüstungen an und wollten damit die Regierung Lula stürzen. Ein umfassender Bericht von De Olho nos Ruralistas legte offen zutage, wie dieser Angriff auf die Demokratie «sorgfältig orchestriert war – und zwar mit Handschrift des Agrobusiness». Ein Jahr später waren 30 Personen wegen dieses Putschversuchs verurteilt worden, weitere 1.383 sind noch angeklagt – aber keine*r der mutmaßlichen Drahtzieher*innen des Putschversuchs.

Im Visier der Behörden

Indessen setzt sich auch bei Regierungsvertreter*innen und Behörden die Erkenntnis durch, dass sich in Teilen des Agrobusiness paramilitärische Strukturen herausbilden. «Es ist inakzeptabel, dass in einem demokratischen Regime bewaffnete Gruppen umherziehen und jeden angreifen», sagt Felipe Freitas, der Staatssekretär für Justiz und Menschenrechte in Bahia, gegenüber den Medien. Die Gruppe Invasão Zero jedenfalls stehe nun «im Visier der Behörden, die ihre Vorgehensweise mit der von Milizen oder paramilitärischen Kräften vergleichen».

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Lula-Regierung mit einer sich in Teilen zunehmend auch paramilitärisch organisierenden Fazendeiro-Front politisch umgehen will. Lula seinerseits deutete wiederholt an, es gehe darum, das «gute Agrobusiness» zu gewinnen und das «schlechte Agrobusiness» auszugrenzen. Lula schwebe «eine sauberere Version des industriellen, exportorientierten Landwirtschaftssystems» vor. Er wolle «die ökologisch und sozial schädlichsten Praktiken des Sektors verändern, um Brasilien zu einer schlanken, möglichst nachhaltigen Agrar-Supermacht zu machen», so eine Analyse im Jacobin-Magazin. Es sei nicht mehr nötig, «in Land einzudringen» oder «Lärm» und «Krieg» zu machen, so Lula. «Was wir brauchen, ist Kompetenz und die Fähigkeit, miteinander zu reden», erklärte der Präsident.

Nun bleibt die Frage, ob sich das «schlechte Agrobusiness» davon überzeugen lässt. «Die extreme Rechte Brasiliens entsteht, wächst und erstarkt im Bündnis mit den Interessen des Agrobusiness», erläutert Yamila Goldfarb von der Vereinigung für die Agrarreform in Brasilien, ABRA. Brasiliens Rechte erledige «die ‹Drecksarbeit›, die das Kapital gerade jetzt braucht: Sie ebnet den Weg für die Kommodifizierung von Land und Gemeingütern. Das bedeutet, dass sie auf das Land und die Territorien der bäuerlichen Bevölkerung und der traditionellen Gemeinschaften vordringt, entweder mit Gewalt oder mit gesetzgeberischer Macht», so Goldfarb. Dabei werde diese «Drecksarbeit», so Goldfarb, vor Ort von lokalen Fazendeiros erledigt und eben nicht direkt von Konzernen, die sich um ihr Nachhaltigkeits-Image sorgen. Aber dennoch geschehe eben genau dies im Dienste auch der Konzerne. Denn diese systematischen Angriffe auf Territorialrechte der Bevölkerung dienen dem Kapitalverwertungsinteresse des Agrobusiness.