Mitte Februar erreichten uns im Laufe dreier Tage zwei sehr schlechte Nachrichten, die die politische Landschaft Russlands stark beeinflussen werden. Zunächst änderte das Berufungsgericht das Urteil gegen den linken Intellektuellen Boris Kagarlitsky – eine Geldstrafe von 600.000 Rubel (ca. 6.000 Euro) wurde plötzlich in eine fünfjährige Haftstrafe umgewandelt. Der Wissenschaftler wurde direkt im Gerichtssaal verhaftet. Am letzten Freitag erschütterte die Welt dann die Nachricht vom unerwarteten Tod Alexej Nawalnys in einer Strafkolonie jenseits des Polarkreis. Es kann durchaus sein, dass in zukünftigen Rückblicken diese beiden Ereignisse als Beginn einer neuen Dimension der Repressalien des Kremls gegen die russische Gesellschaft bewertet werden.
Auch um den Preis ungerechter Zugeständnisse an Putin auf Kosten der Interessen der Ukraine und weiterer Länder kann man vom Kreml keinen echten Frieden erhalten.
Die Reaktionen auf die beiden Ereignisse bzw. ihr Ausbleiben sind eng mit der Perspektive auf eine Beendigung oder Fortsetzung des Krieges in der Ukraine verknüpft. Wie in solchen politischen Fällen üblich versucht der Kreml, der Öffentlichkeit Narrative vorzugeben oder sogar aufzuzwingen. Diese Narrative müssen wir durchschauen, um sie bekämpfen zu können.
Michail Lobanov ist ein linksdemokratischer Politiker und Gewerkschaftsaktivist, der in Russland kurz vor Putins militärischem Überfall auf die Ukraine dank seiner Wahlkampagne für das russische Parlament bekannter wurde. Nach einem Jahr mit Schikanen, Verhaftungen, Durchsuchungen durch die Polizei sowie nach seiner Entlassung aus der Universität war er gezwungen, das Land im Sommer 2023 zu verlassen. In der letzten Zeit arbeitet er an einer Vernetzung der russischen Linken.
Die erste Tatsache, die wir verstehen und akzeptieren sollten: Der Krieg in der Ukraine kann realistischerweise nur nach einem tiefgreifenden politischen Wandel in Russland beendet werden. Auch um den Preis ungerechter Zugeständnisse an Putin auf Kosten der Interessen der Ukraine und weiterer Länder kann man vom Kreml keinen echten Frieden erhalten. Wir werden nur eine kleine Pause erreichen, bevor es mit einem neuen Kriegszug weitergeht.
Eine zweite Tatsache, ohne die die erste Feststellung nur zu unangemessener Verzweiflung führt: Eine Revolution oder ein tiefgreifender politischer Wandel in Russland ist mittelfristig möglich. Dafür gibt es drei wesentliche Voraussetzungen:
- Die Unzufriedenheit mit der Innenpolitik des Kremls und mit der eigenen, vulnerablen Situation auf allen Ebenen der russischen Gesellschaft, mit Ausnahme eines kleinen Prozentteils der Reichen und der Abgesicherten;
- Die Präsenz einer ausreichend großen Zahl an Menschen mit Erfahrung in unabhängiger oder sogar oppositioneller Arbeit. Das sind die künftigen Aktivist*innen einer breiten Volksbewegung, die das Land verändern und die derzeitige Spitze, die den Reichtum und die Macht an sich gerissen hat, beseitigen wird. Besonders viele Menschen mit aktiver politischer Erfahrung zählen zur jüngeren Generation, in der linksdemokratische Ansichten überaus verbreitet sind.
- Eine Reihe von Fehlern und Verbrechen der russischen Regierung, die mit der Aggression am 24. Februar 2022 begonnen haben, machen politische Krisen in Russland faktisch unvermeidlich. Die Meuterei von Prigoschin war das erste Anzeichen dafür.
An der ersten dieser Voraussetzungen – der Massenunzufriedenheit mit dem Leben in Russland und der Innenpolitik Putins – kann weder die Regierung noch jemand anderes etwas ändern. In Russland herrscht eines der radikalsten liberal-konservativen Regime weltweit. Die Ideologie des Marktes, schreiende wirtschaftliche Ungleichheit, die vulnerable und abhängige Lage einer großen Mehrheit und der irrsinnige Luxus einer Minderheit sind die Grundlage, auf der das Regime steht und die es nicht aufgeben wird, selbst wenn es sich am Rande des Abgrunds befindet. Mit dem Volk werden sie nicht «teilen».
Gegen die zweite und dritte Voraussetzung kann der Kreml aber selbst etwas tun. Der aktive Teil der Gesellschaft, der Erfahrung im kollektiven Zusammenwirken hat, kann eingeschüchtert und demoralisiert werden. Dazu dienen solche fabrizierten Ermittlungen wie im Falle von Kagarlitsky und der politisch motivierte Mord an Nawalny. Manchmal treten auch europäische Beamte und Politiker*innen als unfreiwillige Verbündete Putins auf und demoralisieren den aktiven Teil der russischen Gesellschaft zusätzlich. Nämlich dann, wenn aus irgendwelchen Überlegungen heraus das Leben von politischen Aktivist*innen, die vor Repressionen und Mobilisierung geflohen sind, erschwert und verkompliziert wird. So werden auch Fluchtwege für diejenigen geschlossen, die in Zukunft gefährdet sein werden.
Um politischen Krisen zu entfliehen, sucht der Kreml nach willigen oder unfreiwilligen Verbündeten in Europa und Amerika. Sie sollen mit Desinformation oder mit offener Korruption die Bürger*innen ihrer Länder und die eigenen Regierungen überzeugen, dass ungerechte Zugeständnisse an Putin unumgänglich seien. Damit lassen sie ihn aus der aussichtslosen Lage herauskommen, um Luft zu holen und mit neuen Kräften die militärische Aggression fortzusetzen.
Wie geht die vielschichtige russische Propaganda mit Fragen um, die für den Kreml unbequem sind? Sei es das im Sommer 2014 über der Ukraine abgeschossene Verkehrsflugzeug MH17, sei es jetzt die Ermordung Nawalnys oder die strafrechtliche Verfolgung des Publizisten Kagarlitsky oder des Mathematikers Asat Miftachov. Es fängt damit an, dass über verschiedene Informationskanäle – von den offiziellen Massenmedien bis hin zu angeblich vom Kreml unabhängigen Meinungsbildnern – gleich mehrere Gegenversionen angeboten werden, um vom tatsächlichen Geschehen abzulenken. Eine einzige Gegenversion kann öffentlich entlarvt werden, aber mit der Entlarvung eines ganzen Schwarms solch falscher, hingeworfener Versionen wird sich niemand beschäftigen. Im Endeffekt bleibt der Eindruck, dass es viele Versionen und unterschiedliche Meinungen gibt und dass die «echte Wahrheit» sowieso nie ans Licht kommen wird.
Das Aufgreifen der Kreml-Narrative im Ausland trägt zur Demoralisierung der russischen Zivilgesellschaft bei.
Unter den vom Kreml angebotenen Standardversionen befinden sich immer solche, die diejenigen beschuldigen, die einen unmittelbaren politischen Nutzen haben könnten: «Cui bono?» lautet die Frage. Vom Abschuss der Boeing 777 durch Pro-Putin-Kräfte habe die ukrainische Regierung profitiert – also wirft der Kreml die Version ein, dass Kyjiw es getan haben müsse. Die Ermordung von Nawalny führt zu einer weltweiten Welle der Kritik an Putin. Das sei günstig für die Regierungen in den USA und in Westeuropa, ebenso für die NATO, also hätten sie es durch ihre Geheimagenten in Russland getan. Bei Aufmerksamkeit erregenden politischen Fällen – wie denen von Kagarlitsky oder Miftachov – wird die Erzählung angeboten, dass der Angeklagte sich anderweitig schuldig gemacht habe und das Gericht ihn deswegen verurteilen müsse.
Deswegen ist es immer wichtig, die Narrative des Kremls nachzuverfolgen, die die politischen Repressionen und Verbrechen begleiten. Das Aufgreifen dieser Narrative und ihre unbewusste Reproduktion seitens politischer und gesellschaftlicher Kräfte in den verschiedenen Ländern außerhalb Russlands trägt zur Demoralisierung der russischen Zivilgesellschaft bei und hilft somit Putin, politischen Krisen auszuweichen. Das bedeutet dann, dass der Perspektive einer Revolution oder eines tiefgehenden politischen Wandels in Russland entgegengewirkt wird, was die einzige Möglichkeit ist, den kriegerischen Konflikt in der Ukraine friedlich, dauerhaft und gerecht zu beenden.
Aus diesem Grund möchte ich an einige Fakten und Wahrheiten erinnern:
Der linke Intellektuelle Boris Kagarlitsky soll jetzt für nichts fünf Jahre im Gefängnis sitzen. Er war überaus vorsichtig und hat niemand anderen gefährdet. Er ist lediglich öffentlich aufgetreten, um seine Stimme gegen den Krieg zu erheben. Allein die Tatsache, dass im Dezember 2023 ein russisches Gericht ihn in diesem fiktiven Fall von «Rechtfertigung von Terrorismus» zu einer Geldstrafe und nicht zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt hatte, spricht für seine Unschuld. Nun wurde das Urteil revidiert und Kagarlitsky ins Gefängnis zurückgebracht aus dem einfachen Grund, dass er sich weigerte, aus Russland auszureisen. Dazu aber hat er alles Recht.
Alexej Nawalny auf Befehl Putins zu vergiften, wurde bereits im August 2020 versucht. In den letzten Jahren haben der Kreml und die Sicherheitskräfte Schritt für Schritt alles Mögliche unternommen, um Nawalny von seiner Familie, seinen Anwälten und der Welt zu isolieren. Nun verwischt der Kreml alle Spuren, der Leichnam wird nicht an die Familie übergeben. Wenn die russischen Machthaber den Tod Nawalnys nicht gewollt und nicht verschuldet hätten, würden sie anders handeln. Dann hätte Nawalny in all diesen Jahren unter anderen Bedingungen gelebt, er wäre von vertrauten und unabhängigen Ärzt*innen behandelt worden. An den Ermittlungen zur Todesursache hätte von Anfang an ein internationales Ärzteteam gearbeitet. Wir wissen, dass das ein politischer Mord an einem wichtigen politischen Gegner war.
Ich rufe jeden dazu auf, seine Haltung und Handlungen hinsichtlich der Ereignisse in Russland damit abzugleichen, welche Auswirkungen sie auf die russische Zivilgesellschaft und damit die Chancen des Kremls, den zukünftigen Krisen zu entkommen, haben werden. Ich rufe zu möglichst breiter Solidarität mit allen politischen Gefangenen und Kriegsgegner*innen auf. Die Projekte russischer Aktivist*innen und diese selbst sollten unterstützt werden. Das ist nicht so schwierig und kostet nur einen Bruchteil dessen, was «für die Sicherheit» aufgebracht werden muss. Hier gibt es keine ethischen Dilemmata. Das ist aber ein wichtiger Beitrag für einen politischen Umbruch in Russland und damit für den Frieden in der Ukraine und in Europa.