Nachricht | Europa - Südasien Eckpunkte für eine progressive indisch-europäische Zusammenarbeit

Die Beziehungen zwischen Brüssel und Neu-Delhi werden sich mit Sicherheit vertiefen, doch wie können Arbeiter*innen von dieser Entwicklung profitieren?

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Anuradha Chenoy,

Foto: IMAGO / Christian Spicker

Im Bewusstsein der indischen Bevölkerung nimmt Europa eine besondere Position ein. Der Kontinent wird mit Hochkultur, liberalen und progressiven Ideen, technologischem Fortschritt und einer einzigartigen Vielfalt in Verbindung gebracht, gilt aber gleichzeitig auch als Wiege des Kolonialismus und verheerender Weltkriege. Vor allem aber ist Europa der Kontinent, zu dem Indien «aufschließen» will.

Anuradha Chenoy ist Lehrbeauftragte an der O.P. Jindal Global Universität in Sonipat, Indien, und Mitarbeiterin des Transnational Institute in Amsterdam.

Das Experiment der Europäischen Union, in der sich unterschiedliche Nationen unter Wahrung ihrer Besonderheiten in ausführlichen Diskussionen um eine gemeinsame Politik bemühen, beobachtet man in Indien mit Staunen. Europas Beziehungen zu den USA, China und anderen Ländern werden aufmerksam verfolgt, genauso wie die Debatten im Europäischen Parlament zu Ereignissen in Asien und Indien.

Generell herrscht in der indischen Politik und Gesellschaft Einigkeit darüber, dass die EU eine gute Partnerin für Indien sein kann. Schon heute ist sie eine der größten indischen Handelspartner*innen und zählt zu den wichtigsten ausländischen Direktinvestor*innen und Anbieter*innen von Spitzentechnologie. Aus diesem Grund ist es begrüßenswert, dass die indisch-europäischen Beziehungen in Zukunft wahrscheinlich weiter ausgebaut und vertieft werden.

Während engere Beziehungen somit unumgänglich scheinen, lohnt es sich gleichwohl der Frage nachzugehen, wie diese Annäherung auf progressive Weise gestaltet werden kann. Dafür müssen wir zunächst den Status quo der indisch-europäischen Beziehungen betrachten und uns ansehen, wie fortschrittliche Akteur*innen auf beiden Seiten ihn bewerten.

Internationaler Austausch und wechselseitige Inspiration

Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwischen Regierungsstandpunkten und progressiven politischen und zivilgesellschaftlichen Stimmen eine weite Kluft liegt. In asiatischen Ländern und Staaten, die oppositionelle Meinungen marginalisieren, ist dieser Abstand allerdings besonders groß. In Indien herrschen in Bezug auf Themen wie den Neoliberalismus, Entwicklung, Klima, Menschenrechte, Umweltschutz, die Verfassung, soziale Gerechtigkeit, Außenhandel, Geopolitik usw. eindeutige Diskrepanzen zwischen den jeweiligen staatsoffiziellen Narrativen und den entsprechenden Positionen progressiver Akteur*innen und Parteien.

Nach 1991 richtete die indische Regierung ihre Wirtschaftspolitik neu aus und führte Reformen durch, die ihren Fokus gemäß der neoliberalen Orthodoxie auf Privatisierung, Liberalisierung und Globalisierung legten. Institutionen, die auf einer «Mischwirtschaft» bestehend aus einem privaten kapitalistischen und einem großen öffentlichen Sektor beruhten, wurden in einem bis heute fortwährenden Reformprozess abgebaut. Drei Jahrzehnte nach Beginn der Reformen hat Indien ein starkes Wirtschaftswachstum erfahren,  das Millionen Bürger*innen aus der Armut geholt hat. Allerdings haben auch Ungleichheit, Korporatismus und andere Missstände zugenommen.

Die Kritikpunkte linker indischer Akteur*innen am Neoliberalismus sind auch in Europa geläufig: Man warnt vor einer konzerngetriebenen, gewinnorientierten Wirtschaftsweise kritisiert die Ansiedlung multinationaler Unternehmen, die die lokale Produktion beeinträchtigen könnten und prangert ein inakzeptables Ausmaß der Ungleichheit an, bei dem sich der Reichtum im obersten Prozent der Bevölkerung konzentriert. Der Austausch mit der europäischen Zivilgesellschaft hilft progressiven indischen Akteur*innen, ihre Kritik zu schärfen und politische Vorschläge zu entwickeln, die sich etwa mit der Bedeutung des Sozialwesens, der Notwendigkeit einer Transparenz- und Rechenschaftspflicht für Unternehmen sowie der Stärkung des Informationsrechts befassen.

Der Dialog mit Europa hat auch den indischen Gewerkschaften und Agrarverbänden mit ihren Forderungen den Rücken gestärkt. So blicken indische Gewerkschaften beispielsweise positiv auf das deutsche Lieferkettengesetz, das im Januar 2023 in Kraft getreten ist. In Indien gibt es bereits Arbeitsgesetze zur Verhinderung jedweder Kinder- und Zwangsarbeit, die den Bestimmungen des deutschen Gesetzes genügen. Nichtsdestotrotz bleibt die Durchsetzung der Arbeitsstandards in vielen indischen Betrieben, die fest in globale Lieferketten eingebunden sind, weiterhin mangelhaft. Dies liegt vor allem an den in diesen Sektoren häufigen informellen Arbeitsverhältnissen.

Das Lieferkettengesetz macht deutsche Unternehmen, die von indischen Unternehmen in Indien gefertigte Waren kaufen, für die Einhaltung entsprechender Vorschriften verantwortlich. Die Maßnahme ist wirksam, da europäische Käufer*innen Druck auf exportwillige indische Unternehmen ausüben werden, und Regierungen gleichzeitig stärker als bislang Gefahr laufen, wegen möglicher Verstöße gegen Arbeits- und Umweltrecht ihr Gesicht zu verlieren. In diesem Sinne hat man auch hohe Erwartungen an die EU-Richtlinie zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten im Hinblick auf Nachhaltigkeit, die hoffentlich auf ein noch breiteres Spektrum der indischen Exportproduktion angewandt werden kann.

In Indien tätige europäische NGOs bringen wiederum ihre Erfahrungen aus dem Kampf gegen die Liberalisierung und den Auseinandersetzungen um Rechte und Standards auf dem Subkontinent auch in die europäischen Institutionen ein. Die Debatten im Europäischen Parlament zu diesen Themen finden dann wieder in Indien Widerhall. Diese Art des intellektuellen Austauschs gilt es noch weiter auszubauen und zu vertiefen.

Stärkung der feministischen Agenda

Das Thema Gleichberechtigung und politische Teilhabe von Frauen auf allen Ebenen ist für die indische Entwicklungspolitik von wesentlicher Bedeutung. Über Jahre hinweg haben internationale Akteur*innen wie die UN ebenso wie die indische Frauenbewegung auf zahlreiche Forschungsergebnisse verwiesen, nach denen eine Stärkung der Frauen auch die Entwicklung des Landes und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) befördert. Diese Einsichten sind allmählich auch im Bewusstsein der politischen Klasse des Landes angekommen.

In den jüngsten Wahlen haben sich Frauen in Stadt und Land als wichtiger Teil der Wählerschaft etabliert. Der Wandel macht sich besonders in ländlichen Wahlkreisen bemerkbar, wo Frauen früher in Übereinstimmung mit den Männern ihrer Familien und ihren Kastengruppen abstimmten. Die indische Regierung hat Frauen ermutigt, individuelle Bankkonten zu eröffnen, was ein wichtiges Mittel darstellt, um ihren ökonomischen Status zu verbessern.

Gleichwohl bleibt der Status der Frauen in der indischen Gesellschaft weiterhin prekär. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nimmt die Teilhabe der Frauen am Arbeitsmarkt stetig ab. Sie sank von 32 Prozent im Jahr 2005 auf 19 Prozent im Jahr 2021. Indische Frauen arbeiten unverhältnismäßig oft im informellen Sektor und verrichten mehr unbezahlte Arbeit. Programme wie das «Direct Benefit Transfer», das Sozialleistungen direkt an Einzelpersonen auszahlt, sollten jedoch nur als Überbrückungsmaßnahmen angesehen werden. Die langfristigen Ziele bleiben geschlechtergerechte Beschäftigungsverhältnisse und angemessene Arbeitsbedingungen für alle Frauen.

Patriarchale Mentalitäten und Gewalt gegen Frauen sind in Indien weit verbreitet. Fortschrittliche Abgeordnete sollten das Thema weiterhin im Europäischen Parlament vorantreiben und gleichzeitig strengere Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung in ihren Ländern fordern. Solche Signale stärken auch Frauengruppen in Indien in ihrem Kampf um ähnliche Gesetze.

Gemeinnützige europäische Organisationen wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung haben besonders eng mit indischen Akteur*innen zu Fragen der Ungleichheit, der  Gleichstellungspolitik und der unternehmerischen Rechenschaftspflicht kooperiert. Diese Art der Zusammenarbeit war sehr fruchtbar und muss weiterhin gepflegt werden. Andere europäische NGOs haben sich gemeinsam mit indischen Frauengruppen für eine feministische Außenpolitik eingesetzt. Fortschrittliche Kräfte im Europäischen Parlament sollten auch in Zukunft eine feministische Agenda verfolgen und die Vernetzung progressiver Parlamentarierinnen als Element europäischer Politik fördern.

Menschenrechte und Umweltschutz

Die Menschenrechtsfrage stellt für die indische Regierung, ähnlich wie für andere nicht-westliche Regierungen, ein heikles Thema dar. Westliche Medien berichten oft von der Unterdrückung Oppositioneller, dem Aufstieg des religiösen Nationalismus, einer Identitätspolitik im Sinne der Mehrheitsgesellschaft und Fällen von Gewalt und Diskriminierung von Minderheiten, doch die indische Regierung beteuert, dass das Land über die notwendigen Institutionen verfüge, um sich dieser rein internen Angelegenheiten anzunehmen.

Die indische Regierung würde wahrscheinlich alle rechtsverbindlichen Klauseln zu Sozial- und Umweltfragen als Bedingungen für Handelsabkommen ablehnen, und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Bürgerrechte einsetzen, müssen mit staatlicher Zensur rechnen. Trotzdem werden Bürgerrechts- und Umweltfragen von progressiven Parteien und einem Großteil der Opposition im Parlament zur Sprache gebracht, und es gibt eine öffentliche Debatte um diese Fragen.

Hinsichtlich des Klimaschutzes, verweigert Indien sich dem Druck des Westens, der auf einen schnellen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und eine vollständige Umstellung auf erneuerbare Energien drängt. Die indische Regierung präsentiert sich als wichtige Akteur*in im Bereich der grünen Energie. Dabei beharrt sie auch darauf, dass Indien als Entwicklungsland nicht über die notwendigen Ressourcen verfüge, um sofort aus der fossilen Energie auszusteigen. Beim G20-Treffen 2021 lehnte Delhi das Ziel der G7 ab, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, und Kohle ist weiterhin eine wichtige Energiequelle für die indische Wirtschaft.

Dessen ungeachtet führt Indien grüne Technologien ein und wirbt mit seiner Produktion von Solarenergie. Berichte zeigen, dass Indien mehr Solarenergie produziert und nutzt als die meisten anderen Länder, einschließlich Chinas und der USA. Zudem hat Indien im Zuge seiner auf der 28. UN-Klimakonferenz (COP 28) eingegangen Verpflichtungen einen nationalen Fonds für saubere Energie gegründet. Nach Angaben der indischen Arbeitsgruppe für Klimafinanzierung (Climate Finance Working Group of India) benötigt der Fonds ca. 1,5 Milliarden US-Dollar, allerdings beträgt sein Volumen derzeit nur etwa die Hälfte dieser Summe. Die indische Regierung fordert nun große Unternehmen dazu auf, ihren Beitrag zu leisten.

Viele progressive Akteur*innen teilen die Bedenken der Regierung und votieren für eine schrittweise Energiewende. Einige Umweltgruppen in Indien üben jedoch aus Sorge um die Folgen des Klimawandels Druck auf die Regierung aus, den ökologischen Wandel zu beschleunigen. Darüber hinaus zerstören viele Infrastrukturprojekte Naturschutzgebiete, verdrängen lokale Communitys, und gefährden etwa die Küste bei Mumbai und ganze Gebiete im Bundesstaat Himachal Pradesh

Progressive Abgeordnete im EU-Parlament können beispielsweise die EU auffordern, Indiens Solarprogramm zu unterstützen. Gleichzeitig müssen bilaterale Verhandlungen auch die menschlichen Kosten der Entwicklung berücksichtigen, die für eine gerechte Energiewende entscheidend sind.

Was soziale Fragen betrifft, kooperieren europäische NGOs aktiv mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich etwa mit Fragen der Gleichberechtigung, der sozialen Gerechtigkeit und der beruflichen Bildung befassen. Einigkeit herrscht zudem bei Themen wie Multilateralismus und Klimaschutz. Die Linke im Europäischen Parlament braucht einen Ansatz, der der Problemlage von Entwicklungsländern gerecht wird, die  «aufholen» und ihr Wachstum ankurbeln wollen, während sie gleichzeitig irgendwie versuchen, eine gerechte Energiewende voranzubringen. Teile der akademischen Welt und der Zivilgesellschaft in Indien setzen sich damit auseinander, wie ein solcher gerechter Übergang aussehen könnte, allerdings haben diese Vorschläge noch keinen Eingang in Mainstream-Debatten gefunden.

Interessenkonflikte rund um das Freihandelsabkommen

Die Gespräche über das Freihandelsabkommen (FHA) zwischen der EU und Indien ziehen sich schon lange hin. Beide potenziellen Partner*innen scheinen dabei unterschiedliche Ziele zu verfolgen.

Die EU will Indien durch das FHA stärker in die globale Wirtschaft einbinden, die globale Handelsordnung stärken und europäischen Waren den Zugang zum indischen Markt erleichtern, sodass Investitionen einfacher ins Land kommen und Gewinne leichter abfließen können. Sie wollen niedrigere Zölle auf europäische Autos, landwirtschaftliche Erzeugnisse und Weine. Zu guter Letzt fordern sie, dass Indien sich europäischen Standards anpasst. Bisher liegen die Dinge so, dass die EU in vielen Fällen die Einfuhr indischer Agrarprodukte und anderer Waren, wie etwa pharmazeutischer Erzeugnisse, auf den europäischen Markt verhindert.

Im Juni 2022 hat die EU eine Neuaufnahme der FHA-Gespräche angeregt. Seither fanden fünf Verhandlungsrunden statt. Laut einem hochrangigem EU-Beamten, der dem G20-Treffen in Delhi beiwohnte, gibt es keine «genaue Frist» für die Gespräche, da es eher um den Inhalt als um den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gehe. Bis dato stellte Indiens Zögern, menschenrechtsbezogene Klauseln zu unterzeichnen, den größten Konfliktpunkt dar.

Indien ist seinerseits fest entschlossen, für die Marke «Made in India» zu werben und sich als globale Macht zu etablieren. Das Land positioniert sich als Produktionsstandort und will damit seine wachsende Binnenwirtschaft und seine aufstrebende Mittelschicht stärken. Zu dieser Strategie gehören auch der Schutz der heimischen Landwirtschaft und Anreize für die Ansiedelung europäischer Fertigungsbetriebe in Indien, statt Endprodukte und Spitzentechnologien aus dem Ausland zu importieren.

Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Einfuhrzölle auf europäische Autos, Weine und Milchprodukte sowie bezüglich vereinfachter Visaregelungen für indische Fachkräfte haben die Gespräche in eine Sackgasse geführt und Konflikte über Patente und Dienstleistungen in der Welthandelsorganisation (WHO) ausgelöst.

Der indischen Regierung zufolge würde das Freihandelsabkommen vor allem aufgrund der niedrigeren Zolleinnahmen unter dem Strich eine negative Handelsbilanz  für Indien bedeuten, selbst wenn aus dem Ausbau des Dienstleistungssektors auch einige Gewinne zu erwarten sind. Eine gemeinsame Studie der Universität Sussex und der indischen NGO Consumer Unity & Trust Society prognostiziert, dass der Warenhandel kein eindeutiges Wohlstandswachstum bewirken wird. Um die bilaterale Zusammenarbeit auf dem Feld der Technologieentwicklung voranzubringen und gemeinsame Standards bei Zukunftstechnologien festzulegen wurde ein europäisch-indischer Handels- und Technologierat (Trade and Technology Council, TTC) ins Leben gerufen. Diese Organisation muss mit Leben gefüllt werden, wenn sie eine Wirkung erzielen soll.

Viele progressive Akteur*innen in Indien stehen hinter den Argumenten der Regierung, da auch sie die Notwendigkeit sehen, die Landwirtschaft  zu schützen. Radikalere Stimmen lehnen das FHA gänzlich ab. Sie sehen katastrophale Folgen für kleine Produzent*innen voraus und kritisieren die Verhandlungen für mangelnde Transparenz und unzureichende Teilhabemöglichkeiten der Zivilgesellschaft.

Die europäische Linke muss dafür sorgen, dass von Frauen geleitete Projekte und soziale Maßnahmen in die Vertragsentwürfe des Freihandelsabkommens eingearbeitet werden. Die Linke sollte ein innovativeres indisch-europäisches FHA skizzieren, von dem nicht nur europäische Exporte von Endprodukten, sondern auch der indische Agrarsektor profitieren würde. Die europäische Linke kann vorschlagen, dass der indischen Landwirtschaft auf verschiedene Weise dabei geholfen wird,  EU-Standards zu erreichen. Zudem sollte die Linke in der EU das Europäische Parlament dazu anhalten, die Zulassung indischer Pharmazeutika in der EU und auf dem Weltmarkt zu prüfen: Die niedrigeren Preise kämen Konsument*innen zugute, statt die Profite der Pharmariesen zu steigern.

Um seine Autonomie zu stärken, sucht Indien auf sämtlichen technologischen Gebieten nach Partner*innen, von der Verteidigungsindustrie über Mikrochips bis hin zur Medizintechnik. Besonderes Augenmerk sollte innerhalb des FHA auf Abschnitten wie dem zur Öffnung des Dienstleistungssektors für indische Fachkräfte liegen. Progressive Gruppen in der EU sollten diese Standpunkte erläutern und eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen in den Vordergrund stellen.

Sicherheit in einer multipolaren Welt

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der Aufstieg Chinas und das Beharren der USA auf ihrer globalen Hegemonie haben zu einer Polarisierung geführt, in deren Zuge die EU ihre Unterstützung für die NATO und die Ukraine unterstrichen hat. Was China betrifft, scheint die EU allerdings keine einheitliche Position zu vertreten.

Indien dagegen hat sich einer multipolaren Weltordnung und der Neutralität verschrieben und weigerte sich, Sanktionen gegen Russland zu erlassen. Es profitiert sogar von dem billigeren russischen Öl. Was China angeht, so glaubt Indien, eventuell von einer Verlagerung der Produktionsstandorte westlicher Unternehmen aus China profitieren zu können.

Indien strebt nach strategischer Autonomie, vertritt eine Politik der Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten und setzt sich für Reformen im Sinne eines demokratischeren Multilateralismus ein. Über diese geopolitische Position herrscht Einvernehmen im gesamten politischen Spektrum des Landes mitsamt des  progressiven Lagers. Was den indopazifischen Raum angeht, so ist Indien dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog (QUAD) unter Schirmherrschaft der USA beigetreten. Viele glauben, dass Indien den QUAD nutzen könne, um Fragen der Cyber- sowie  der maritimen Sicherheit anzugehen, ohne dass dies eine Militarisierung gegenüber Drittländern nach sich ziehen müsse.

Der Beitritt zum QUAD ist charakteristisch für den Balanceakt, mit dem Indien versucht, strategische Beziehungen zum Westen und zu Russland gleichermaßen einzugehen. Indiens progressive Kräfte setzen sich dafür ein, dass sich die Asien-Pazifik-Region weiterhin frei, offen und inklusiv, auf der Grundlage eines fairen Wettbewerbs entwickelt, weshalb sie den Eintritt Indiens in ein Militärbündnis ablehnen. Sie sind generell gegen eine «Blockmentalität». Linke Parteien in Indien sprachen sich gegen den Beitritt in den QUAD aus und forderten Indiens Austritt aus diesem Forum.

Die europäische Linke kann Indiens Position der strategischen Autonomie mit dem Verweis darauf unterstützen, dass Indien seine auf diese Weise gewonnene geopolitische Rolle nutzt, um europäische Unternehmen für eine gemeinsame industrielle Fertigung in Indien zu gewinnen. Eine indisch-europäische Zusammenarbeit kann für viele Projekte in Afrika und der Vereinigung Südostasiatischer Staaten vorgeschlagen werden, die sich mit Entwicklungshilfe, Technologie, Unterstützung der globalen Abrüstung und vielem mehr befassen.

Die Partnerschaft im Parlament stärken

Es gibt zahlreiche Schritte, die progressive Parteien im Europäischen Parlament unternehmen können, um die Beziehungen zwischen der EU und Indien zu verbessern. Dazu zählen:

  • Austausch über und Vermittlung von innovativen und erfolgreichen Techniken aus der europäischen Landwirtschaft, um die indischen Bestrebungen nach Ernährungssicherheit zu unterstützen und Verbindungen zum indischen Agrarsektor zu ermöglichen; 
  • der kontinuierliche Fokus auf eine Politik, die Frauen auf allen Ebenen in den Mittelpunkt stellt, insbesondere im informellen Sektor, in der Landwirtschaft, der Pflegearbeit und im IT-Bereich u.a.;
  • die Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen und Bildungsprogrammen für Frauen, um Frauen als gleichberechtigte Partnerinnen in der Entwicklungs- und Außenpolitik sowie in der Entscheidungsfindung zu etablieren;
  • die EU-Indien-Agenda für 2025 sieht die Zusammenarbeit in mehreren Bereichen vor, wie zum Beispiel saubere Energie, Klima, Wasser, Migration, Mobilität und Terrorismusbekämpfung. Die europäische Linke kann diese Anliegen der Menschlichen Sicherheit voranbringen, indem sie zu diesen Themen gemeinsame Studien und Umfragen durchführt und mit politischen Entscheidungsträger*innen, Wissenschaftler*innen, Universitäten und Thinktanks Programme erarbeitet, um für jeden dieser Punkte politische Vorschläge  auszuarbeiten.
  • Indien wünscht sich die Befürwortung der «Comprehensive Convention on International Terrorism» (CCIT), die das Land 1996 in der UN-Generalversammlung vorgeschlagen hat. Man erwartet, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments für eine solche Konvention stimmen und ihr eigentlich nichts im Wege steht. Die Gespräche über ein bilaterales Handels- und Investitionsabkommen (BTIA) begannen im Jahr 2006. In einigen Bereichen wie Dienstleistungen, Datensicherheit, erleichterten Visabestimmungen, dem Marktzugang für bestimmte Waren und den Rechten am geistigen Eigentum bei Arzneimitteln steht eine Einigung noch aus. Der Handel zwischen Indien und der EU hat zugenommen und die EU zu Indiens größter Handelspartnerin gemacht. Linke Abgeordnete sollten beweisen, dass ihre Partnerschaft mit Indien sich nicht auf Handel und Investitionen beschränkt, sondern auch Themen der Menschlichen Sicherheit wie Gesundheit und Bildung umfasst.

Indien und die EU haben sind durch ein komplexes Netz von Beziehungen verbunden, das von der offiziellen staatlichen Diplomatie bis hin zu zwischenmenschlichen Kontakten reicht. Progressive Gruppen auf beiden Seiten sollten sich also für die Aufrechterhaltung des Dialoges einsetzen. Viele Ideen aus diesem Austausch haben sich in politischen Maßnahmen niedergeschlagen, die sich dann ihrerseits auf den Diskurs in der breiteren Zivilgesellschaft auswirken.

Indien und die EU haben nun einen Punkt erreicht, an dem sie ihre Beziehung nicht länger als ein «Potenzial» begreifen, sondern sich eher zu «Gleichgesinnten» entwickeln sollten. Das bedeutet, dass beide Parteien sich mit der Haltung der jeweils anderen auseinandersetzen und herausarbeiten müssen, an welchen Stellen zwischen ihnen Übereinstimmungen und Möglichkeiten für ein weitere Annäherung bestehen.

Der Grundstein für eine Zusammenarbeit progressiver Gruppen in Indien und Europa wurde gelegt. Nun sollten auch die nächsten Schritte auf systematische Weise angegangen werden.

Übersetzung von Charlotte Thießen und Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective.